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Produktdetails
  • Verlag: Europäische Verlagsanstalt
  • Seitenzahl: 457
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 760g
  • ISBN-13: 9783434504993
  • ISBN-10: 3434504990
  • Artikelnr.: 08852417
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2000

Torpedo im Pianola
Ein böser Bube der Musik – George Antheil wäre 100 geworden
Sein Name war schon fast vergessen, als er plötzlich im Frühling 1997 wieder durch die ganze Welt geisterte. In einem Atemzug wurde George Antheil da genannt mit Hedy Lamarr, der MGM-Venus aus Wien. Als Erfinder eines „funkgesteuerten Torpedos” war das seltsame Paar mit dem „Pioneer Award” ausgezeichnet worden. Eigentlich hatte man Antheil diese Geschichte nie richtig abgenommen, trotz der präzisen Angaben in seiner Autobiografie: Number 2.292.387 United States Patent Office Application, June 10, 1941, Serial No. 397.412. Ein Leben lang war Georg Carl Johann Antheil, Sohn deutschstämmiger Einwanderer – und nicht polnischer, wie er behauptet hat und heute noch nachgebetet wird –, ein Borderliner gewesen, ein Wanderer zwischen Dichtung und Wahrheit, ein amerikanischer Münchhausen der lost generation. Kein Wort hatte ich dem bad boy of music geglaubt. Nun war ich als ungläubiger Thomas entlarvt – und Delilah war mir als Kriegsgöttin erschienen.
Das Patent war zunächst in den Geheimarchiven der Militärs verstaubt, weil sie nicht den Zusammenhang erkennen konnten zwischen dem „frequency hopping”, mit der das Antheil-Lamarr-Geschoß sich vor Störsendern schützen sollte, und dem Lochstreifensystem des Pianolas. „Die verehrten blechbehelmten Herren in Washington, die unsere Erfindung begutachteten, lasen nur bis zum Wort Selbstspielklavier. Ich höre sie sagen: Mein Gott, wir sollen ein Piano in unsere Torpedos packen. ” Ob sich ein Torpedo damals, 1925 in Paris, im Pianola befunden hat, als er sein Ballet mécanique aus der Taufe hob, wissen wir nicht. Die sagenumwobene Lichtspielmusik zu Fernand Légers und Man Rays gleichnamigem Film machte ihn jedenfalls zum Enfant terrible. Und zum Liebling der expatriates, der Amerikaner in Paris. Ein Werk, dessen Entstehungsgeschichte im übrigen bis heute nicht geklärt ist. „Prima la musica, poi la cinema”, hat Antheil später immer wieder behauptet – mit dem Titel Botschaft zum Mars hätte er diese höllische Maschinenmusik noch in Berlin begonnen zu komponieren.
Unter den Augen- und Ohrenzeugen des Skandalon war auch Sylvia Beach, die Mutter von Shakespeare & Company: „Man sah Leute, die einander ins Gesicht boxten, man hörte das Gejohle, aber nicht einen Ton vom Ballet mécanique, das, nach den Bewegungen der Ausführenden zu schließen, die ganze Zeit über weiterging. Aber die Wut der Leute legte sich plötzlich, als die in der Partitur vorgeschriebenen Flugzeugpropeller zu surren begannen und ein Luftzug entstand, der einem Mann die Perücke vom Kopf blies und sie bis in die hinterste Reihe wirbelte. Die Männer stellten ihre Rockkrägen auf, und die Frauen wickelten sich in ihre Hüllen, es war richtig kalt. ”
Die Pistole lag immer bereit, auf dem Steinway des enigmatischen Piano-Kriegers, für den Fall des Falles in Paris: „Die Franzosen sind eine andere, leidenschaftlichere Rasse, Abkömmlinge jenes Mobs, der den Karren zur Guillotine folgte. Die Katastrophe blies mir ihren Atem in den Nacken. Dies war ,Heimat‘ für mich. Und als mir das klar wurde, war ich plötzlich ruhig. Schließlich konnte ich mir immer noch den Weg hinaus freischießen!” Plötzlich hörte er Erik Satie mit schriller Stimme rufen: „Quel précision! Quel précision! Bravo! Bravo!” Thomas Mann hat Antheils Schilderung 1946 in seinem Doktor Faustus paraphrasiert, ohne den Autor zu nennen, dessen wahnwitzige Memoiren ein Jahr vorher erschienen waren – nun liegen sie pünktlich zu seinem 100.  Geburtstag am 8.  Juli in einer mustergültigen Neuauflage wieder vor.
Angestachelt von seinen Skandalerfolgen, kündigte Antheil in den Roaring Twenties den Sacre du printemps der Zukunft an, angelehnt an die Zyklopen-Episode in James Joyces Ulysses. Die Oper Mr. Bloom & the Cyclops sollte die „Zerstörung der Musik” bedeuten. Mit einem hypertrophen Klangkörper wollte er das realisieren. Das Werk blieb ein Torso, wie so vieles im Leben dieses modernen Odysseus, das angetrieben wurde von der Suche nach der „Traummusik” . In den dreißiger Jahren orchestrierte der Tausendsassa bei der Paramount die Freibeuterträume von Cecil B. DeMille und Leo McCarey, arbeitete er für den Esquire, prophezeite schlafwandlerisch exakt den Beginn und Verlauf des Zweiten Weltkriegs und beschrieb die Papierrollen für ein Pianola. Der musikalische Drive freilich war verschwunden. Vielleicht war er seiner Traummusik schon in den Zwanzigern gefährlich nahe gekommen: „Ich zögerte nicht, 62 Takte lang absolut nichts auf der Klavierrolle zu haben . . . Hier hielt ich inne. Hier war die Todeslinie, der Rand des Abgrundes. Hier, am Ende dieser Komposition, wo über längere Zeitspannen hinweg kein einziger Ton zu hören ist und die Zeit selber zur Musik wird; hierin lag die allerhöchste Erfüllung meiner Poesie; hier ließ ich die Zeit sich bewegen, ohne sie zu berühren. ”
VIKTOR ROTTHALER
GEORGE ANTHEIL: Bad Boy of Music. Autobiographie. Aus dem Amerikanischen von Jutta und Theodor Knust. Herausgegeben und mit einem Prélude sowie einem Antheil-Alphabet versehen von Rainer Peters und Harry Vogt. Mit Begleit-CD. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2000. 458 S. , Abb. , 68 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Björn Gottstein geht in seiner Rezension in kurzer Form auf das kompositorische Werk Antheils und seine Bedeutung für die Musikgeschichte ein. Jedoch wird erst am Ende seiner Besprechung deutlich, dass ihm das Buch offenbar gefallen hat. Denn zunächst mokiert er sich über Antheils Verteidigung des "romantischen Ausdrucksideals" und die vom Komponisten unterstrichene Bedeutung Beethovens ("lauter Quatsch", so Gottstein). Dass Antheil durch recht fantasievolle Legenden eifrig an seinem eigenen Mythos gebastelt hat, scheint den Rezensent wenig zu stören, haben die Geschichten doch einigen Unterhaltungswert. Als Beispiel nennt Gottstein u. a. die Schilderung Antheils von seiner Affäre mit einer Schlangentänzerin, vor deren Python Antheil einst nackt auf die Straße fliehen musste. Antheil ist stets auf Pointen aus, findet Gottstein, gleichzeitig vermittle das Buch einen Eindruck von dem "künstlerischen Aufbruch der 20er Jahre", wenn auch oftmals überzeichnet. Sinnvoll findet Gottstein das in dieser Neuauflage angefügte "kommentierende Antheil-Alphabet" sowie Äußerungen von Zeitgenossen, die manche Äußerungen des Komponisten relativieren, aber auch so manche Eskapade als wahrheitsgetreu erzählt bestätigen.

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