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Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • Seitenzahl: 428
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 632g
  • ISBN-13: 9783421053220
  • ISBN-10: 3421053227
  • Artikelnr.: 25129736
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2001

Moskaus Irrwege
Claus Kernig über Aufstieg und Zerfall des sowjetischen Imperiums

Claus D. Kernig: Lenins Reich in Trümmern. Schatten über Russlands Zukunft. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000. 428 Seiten, 48,- Mark.

Setzt Rußland seinen unendlich erscheinenden Irrweg fort, der mit der Oktoberrevolution unter Lenin begann, unter Stalin in die Hölle führte, unter Chruschtschow für kurze Zeit auf einen Richtungswechsel hoffen ließ, unter Breschnew zu einem Synonym für Stagnation wurde, unter Gorbatschow eine reformerische Wende nahm, unter Jelzin den Zusammenbruch des Sowjetimperiums unausweichlich machte und nun unter Putin auf eine Rückkehr zu autoritärer Herrschaft hinauszulaufen droht, und zwar zu Lasten erster Ansätze von Rechtsstaatlichkeit? Der Anblick, den "Lenins Reich in Trümmern" bietet, liefert nach analytisch bestechender Darstellung des Politikwissenschaftlers Claus D. Kernig wenig Grund, diese Frage mit einem zuversichtlichen Nein zu beantworten.

Der Autor mag sich zwar nicht anmaßen, schon jetzt ein Urteil über den gegenwärtigen russischen Präsidenten zu fällen. Putins Maxime von der "Diktatur des Gesetzes", seine einseitige Haltung zur Gewaltenteilung und sein Pochen auf zentralistische Machtausübung sind nach Kernigs Ansicht eingedenk der sowjetischen und russischen Vergangenheit jedoch dazu angetan, einen "das Fürchten" zu lehren. Obwohl manche Teile des Buches - erwähnt sei besonders das sechste Kapitel über "Gigantomanie und technologischer Todesfall" - in ihren akademischen Detailbeschreibungen dem Leser ein gerüttelt Maß an Konzentration abverlangen, so wird doch vieles auf historisch und politisch fesselnde Weise verdeutlicht: daß das sowjetische Herrschaftssystem auch und vor allem an seiner unsäglichen Mißwirtschaft scheiterte. Diese war nicht zuletzt auf die Stupidität und Ignoranz zurückzuführen, mit der sich die Machthaber selbst den Erkenntnissen der eigenen, zum Teil weltberühmten russischen Wissenschaftler widersetzten.

In Erinnerung gerufen wird der Fall des Scharlatans Trofim Lyssenko, der unter dem Beifall Stalins einer absurden, die Bedeutung der Genetik völlig verkennenden Agrobiologie das Wort redete, die landwirtschaftliche Erfolge durch vermeintlich neue Formen der Pflanzenzüchtung im Eiltempo verhieß. Die russische Wissenschaft nahm dadurch im nationalen wie in internationalen Ansehen enormen Schaden - zu schweigen von berühmten russischen Genetikern wie Nikolaj Wawilow, die ihr Aufbegehren gegen diese Scharlatanerie mit dem Tod im GULag zu bezahlen hatten.

Daß die Sowjetunion schließlich auch an den Folgen der russischen Kolonialgeschichte zugrunde ging, nimmt der Autor zum Anlaß, sich eingehend mit den verschiedenen Arten des Kolonialismus zu befassen. Den russischen beschreibt er zutreffend als Annexionskolonialismus, unter dem die eroberten Völker allerdings kaum weniger zu leiden hatten als das russische selbst.

Hervorzuheben ist ferner die von Kernig kenntnisreich beleuchtete Geschichte der Dissidentenbewegung, auch wenn es etwas ungerecht erscheint, nicht hinreichend zwischen dem Wirken des gnadenlos verfolgten Sacharow und dem von Roy Medwedjew zu unterscheiden. Medwedjew war in den achtziger Jahren zwar eine begehrte "Quelle" für westliche Korrespondenten in Moskau, blieb aber von den Behörden weitgehend unbehelligt. Er machte weder damals noch nach dem Untergang der Sowjetunion ein Hehl aus seiner kommunistischen Grundüberzeugung.

Was dann Gorbatschow bei seinem Machtantritt im März 1985 (nicht im Februar) schließlich an Hinterlassenschaft übernahm, kam wirtschaftlich in der Tat einem Trümmerhaufen gleich und hätte auch angesichts der sonstigen Befindlichkeit des Vielvölkerreichs nicht mehr und nicht weniger als einen Systemwechsel verlangt. Dazu aber fehlten dem Mann aus der südrussischen Provinz Stawropol, zu dessen Förderern immerhin so stramme Systemverfechter wie Suslow und Andropow gezählt hatten, sowohl Einsicht als auch Durchsetzungskraft. Nägel mit Köpfen wollte da eher der von Gorbatschow aus dem Ural nach Moskau geholte Provinzpolitiker Jelzin machen. Doch was daraus geworden ist, liegt mehr oder minder offen zutage und läßt den Autor nicht von ungefähr daran zweifeln, daß Putin den bisherigen Irrweg endlich verlassen könnte.

Schwerer fällt es hingegen, Kernig uneingeschränkt in der Bewertung der beiden Hauptakteure zuzustimmen, deren Rivalität wesentlich zum Untergang der Sowjetunion vor zehn Jahren beitragen sollte. Gorbatschow wollte diesen Untergang mit Sicherheit nicht. Ungeachtet seiner großen außenpolitischen Verdienste um das Ende des Kalten Krieges war er allerdings selbst nach dem Putschversuch, der den Zerfall des Imperiums unwiderruflich besiegelte, immer noch der irrigen Meinung, mit Hilfe einer reformierten Kommunistischen Partei das sowjetische Staatsgefüge erhalten zu können. Dabei hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon nahezu alle Sowjetrepubliken von Moskau losgesagt. Und Ironie der Geschichte: Angeführt wurde diese Bewegung von Rußland selbst.

Der Putsch war, anders als Kernig es darstellt, weniger am "Widerstand der Massen" gescheitert als daran, daß die Putschisten die - von einer nationalistischen Welle getragene - Popularität des ersten frei gewählten russischen Präsidenten unterschätzt hatten. Daß sich Jelzin den Verschwörern auf einem Panzer in den Weg stellte, verlangte unter den damaligen Umständen zudem sehr wohl auch Mut und war keineswegs nur von symbolischer Bedeutung. Trotzdem läßt der Autor an dem Mann, der bei allen Machtgelüsten und Widersprüchlichkeiten zumindest in den ersten Jahren als Kremlherr im Vergleich zu Gorbatschow der entschlossenere, wenngleich unbesonnere Reformer war, kein gutes Haar.

Kernig, der den russischen Irrweg ebenso schonungslos wie analytisch brillant nachgezeichnet hat, setzt sich am Ende selbst des Verdachts eines Fehltritts aus, wenn er alle, die seine tiefe Verachtung für Jelzin nicht teilen mögen, der Ahnungslosigkeit, gar der Narretei zeiht.

WERNER ADAM

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Nach Ansicht Curt Gasteygers sind die gängigen Vorstellungen über Russland im allgemeinen recht klischeehaft. Umso mehr begrüßt er nun eine "differenzierende Analyse" Claus Kernigs, der hier die Gründe für das Scheitern der Sowjetunion wie auch des postsowjetischen Russlands "überzeugend" aufzeige. Dass Kernig bei Lenin ansetzt, scheint dem Rezensenten nur konsequent, weil seiner Meinung nach dadurch deutlich wird, dass die Planwirtschaft besonders angesichts des technologischen Fortschritts langfristig nicht praktikabel war. Darüber hinaus zeige der Autor deutlich die Schwierigkeiten der Sowjetunion sowie bei ihrem Zusammenbruch auf, dessen Ursachen nach Kernig zum großen Teil nach wie vor für nötige Reformen Hemmnisse darstellen, wie Gasteyger erläutert. Deutlich werde dabei, dass die aktuellen Probleme Russlands teilweise ähnlich sind wie die in der Vergangenheit und für Kernig vor allem in der maroden Exportwirtschaft, im "Steuer- und Rechtswesen" sowie in den Mafiaorganisationen liegen. Insgesamt eine "ebenso kenntnisreiche wie kritische Analyse", so der Rezensent.

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