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Die weißrussische Hauptstadt Minsk wurde nach 1945 als sozialistische Musterstadt geplant und aufgebaut. Die Stadtplaner fanden hierzu ideale Voraussetzungen vor: Weißrussland war bis vor dem Zweiten Weltkrieg ein reines Agrarland und zudem hatten die deutschen Besatzer die Stadt komplett zerstört. Am Beispiel von Minsk verdeutlicht das Buch den Wandel des städtebaulichen Leitbildes in der Sowjetunion von den 1930er bis in die 1950erJahre und die damit verbundene Errichtung des 'Systems der geschlossenen Städte'. Der Autor zeigt den Prozess der Industrialisierung und Modernisierung ebenso auf…mehr

Produktbeschreibung
Die weißrussische Hauptstadt Minsk wurde nach 1945 als sozialistische Musterstadt geplant und aufgebaut. Die Stadtplaner fanden hierzu ideale Voraussetzungen vor: Weißrussland war bis vor dem Zweiten Weltkrieg ein reines Agrarland und zudem hatten die deutschen Besatzer die Stadt komplett zerstört. Am Beispiel von Minsk verdeutlicht das Buch den Wandel des städtebaulichen Leitbildes in der Sowjetunion von den 1930er bis in die 1950erJahre und die damit verbundene Errichtung des 'Systems der geschlossenen Städte'. Der Autor zeigt den Prozess der Industrialisierung und Modernisierung ebenso auf wie die Entwicklung der Stadt Minsk vom lokalen Handelszentrum zur sowjetischen Industriemetropole. Die vorliegende Studie widmet sich damit dem Problem von Stadtwachstum und Verstädterung in 'Nachzüglergesellschaften' und will auf dieser Grundlage dazu anregen, die Urbanisierung als ein Leitmotiv der Sowjetunionforschung zu etablieren.
Thomas M. Bohn ist Professor für Geschichte Osteuropas an der LudwigMaximiliansUniversität München.
Autorenporträt
Thomas M. Bohn ist Professor für Geschichte Osteuropas an der Universität München.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2009

Die Sonnenstadt der Träume
Die sowjetische Gesellschaft war nicht apathisch: Thomas Bohn erzählt vom Werden und Wuchern der weißrussischen Hauptstadt Minsk
Als der Osteuropa-Historiker Thomas Bohn 1997 zum ersten Mal die weißrussische Hauptstadt Minsk besuchte, wähnte er sich bei der abendlichen Fahrt über den Prospekt in einem „Freilichtmuseum des Sozialistischen Realismus”. Dem gewaltigen Eindruck der neoklassizistischen und konstruktivistischen Bauten, die sich wie eine endlose Armee an der Achse der Stadt reihen, kann sich noch heute kaum ein Besucher entziehen. Bohn war gekommen, um dem „Minsker Phänomen” auf den sozialgeschichtlichen Grund zu gehen. So war bereits zur Zeit der Sowjetunion die Bevölkerungsexplosion bezeichnet worden, mit der die Hauptstadt der Weißrussischen SSR den Stadtplanern schwere Kopfschmerzen bereitete. Die im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstörte Stadt platzte im Zuge ihrer nachgeholten Industrialisierung buchstäblich aus allen Nähten. Zwischen 1956 und 1990 stieg die Bevölkerungszahl von 2740000 auf 1,6 Millionen Menschen. Vor dem Krieg hatten 80 Prozent der Weißrussen auf dem Land gelebt. 1991 waren es nur noch 32,9 Prozent.
Das „neue Minsk” mit seinen Auto-, Traktoren- und Motorwerken zog die Menschen an wie das Obst die Fliegen. Mit der Folge, dass Dörfer verschwanden und das Land vielerorts verwüstete. Minsk, das unter der Ermordung der weißrussischen Intellektuellen 1937 durch den NKWD und an den Folgen des Krieges und des Holocausts zu leiden hatte, fehlte ein bürgerliches und zivilgesellschaftliches Erbe. So wurde es zu einer „Stadt der proletarisierten weißrussischen Bauern”.
Während seines Aufenthalts hat Bohn, der an der Münchner Ludwig Maximilians-Universität lehrt, diese andere Seite der sozialistischen Musterstadt entdeckt. Noch heute lassen sich zwischen den sowjetischen Gardebauten, den öden Wohnsilos und monotonen Hochhäusern alte Holzhäuser und unbefestigte Straßen aufspüren, auch Wiesen, Kühe und Ziegen. Das diffuse Nebeneinander und Durcheinander von sozialistischer High End-Architektur, ländlichen Einsprengseln und ideologischen Freiräumen ist typisch für eine Stadt, die aus der tabula rasa-Situation nach dem Zweiten Weltkrieg als die „Sonnenstadt der Träume” (Artur Klinau) auferstehen sollte. Ein Projekt, das gehörig scheiterte, weil die Staats- und Parteiführung den Migrationswellen und der „Flugsandgesellschaft” (Moshe Lewin) nie Herr wurde.
Dies zeigt Bohn in seiner eindrucksvollen Habilitation „Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945”, die ein weiteres schönes Beispiel dafür ist, zu welch kreativer Kraft die Osteuropäische Geschichte nach ihrer vermeintlichen Identitätskrise Mitte der Neunziger heute wieder fähig ist. Zudem beweist Bohns Buch, dass es geschichtswissenschaftliche Arbeiten trotz ihres akademischen Anspruchs ihren anglo-amerikanischen Kollegen hierzulande gleich tun und eine größere Leserschaft erreichen können, wenn es denn gelingt, luzide vom Leben zu erzählen und aus dem Vergangenen eine Relevanz für das heutige Leben herzustellen.
Inspiriert durch die „Raum-bewusste Historiografie” eines Karl Schlögel erörtert Bohn, dass theoretisch-ideologische Diskussionen über einen Umbau von Minsk im marxistisch-leninistischen Geiste nur rudimentär eine Rolle spielten. Die Antwort auf die Frage, wie eine sozialistische Stadt im Gegensatz zu einer kapitalistischen Stadt auszusehen habe, wurde nie wirklich geklärt. Andrej Zhdanov, der als kulturpolitischer Sprecher im ZK der Bolschewiki das Monopol über die Deutung des „sozialistischen Realismus” gepachtet hatte, kam bis zu seinem Tod 1948 nur dazu, die Literatur, den Film und die Musik einer „Formalismus”-Kampagne zu unterziehen.
Der Wiederaufbau von Minsk orientierte sich zunächst am Moskauer Generalplan von 1935 und überraschenderweise an der im Jahre 1933 verabschiedeten Charta von Athen des Internationalen Kongresses für Architektur, auf dem die architektonische Moderne definiert wurde. Letzten Endes aber diktierten Arbeitskräftemangel, ökonomische Zwänge, organisatorisches Chaos und bürokratisches Unvermögen den Rahmen für den Umbau – vor allem nach dem Massenwohnungsbau in den Sechzigern, mit der die Sowjetunion den eklatanten Wohnraummangel überwinden wollte. „Wenn sie (die Architekten) sich von einer Idee leiten ließen”, schreibt Bohn, „dann war es…die ,stalinistische Sorge um den Menschen’.
Es ging, einer vielzitierten Forderung Stalins folgend, um die Normalisierung der Lebensbedingungen sowie um die Eliminierung von Elendsvierteln am Stadtrand.”
Bohn lässt sich bei seiner Studie, die sich in weiten Teilen so spannend wie ein Milieuroman liest, allerdings nicht nur von der städtebaulichen Theorie und ihrer Umsetzung leiten. Wirklich bemerkenswert ist Bohns Leistung, weil es ihm gelingt, mit Hilfe der Urbanistik und Sozialgeschichte erstmals ein Modell aufzustellen, über das sich auch künftig Probleme des Stadtwachstums und der Urbanisierung in Osteuropa untersuchen lassen. Sehr anschaulich zeigt Bohn, wie die Minsker wohnten und lebten, und wie die sowjetische Gesellschaft an der Peripherie funktionierte. Im letzten, äußerst anregenden Abschnitt zieht der Forscher vier Fallstudien heran, die beweisen, wie die Minsker die Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit der Bürokraten nutzten, um sich ihrerseits Räume des Protests, des Privaten und der Freiheit zu erobern – was wiederum veranschaulicht, dass die sowjetische Gesellschaft alles andere als apathisch war. Zudem liefert Bohn so eine indirekte Erklärung dafür, warum man die demokratischen Entwicklungen im heutigen autoritären Weißrussland nicht abschreiben sollte. INGO PETZ
THOMAS M. BOHN: Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945. Böhlau Verlag, Köln 2008, 400 Seiten, 59,90 Euro.
Der Palast der Republik am Oktoberplatz in Minsk Foto: laif
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ingo Petz zeigt sich begeistert von der Studie des Osteuropa-Historikers Thomas Bohn. Dass sich Habilschriften auch ohne akademische Sozialisation lesen lassen, ja dass es sogar lehrreich, wegweisend und aufregend sein kann, sich geschichtswissenschaftlich, raumhistoriografisch schlau zu machen, durfte er anhand dieses Bandes erfahren. Wie sich sozialistische Stadtplanung und rurale Milieus miteinander verbinden, erfährt Petz am Beispiel der Stadt Minsk. Bohn erzählt dem Rezensenten "luzide" vom Leben, von städtebaulicher Theorie und Praxis in Osteuropa und ganz nebenbei auch von Hoffnung. Die gegen den sozialistischen Masterplan verteidigten privaten Nischen der Minsker sind für Petz Ausdruck für die demokratische Kraft innerhalb der Sowjetgesellschaft.

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