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Das Geschichtsbewußtsein der Deutschen befindet sich im Umbruch. Der wachsende Abstand zum Dritten Reich, der Generationswechsel und das veränderte internationale Umfeld bewirken Umorientierungen im Bewußtsein der Menschen und in der Politik, die vor zehn Jahren noch als Tabubruch gewertet worden wären. In den Jahren 1989 bis 1991 wurde die bislang einzige repräsentative Befragung zum Geschichtsbewußtsein der Deutschen durchgeführt. Darin werden die Einstellungen und Deutungen der Ost- und Westdeutschen hinsichtlich ihrer kollektiven Vergangenheit beschrieben. Der Autor hat über die umfassende…mehr

Produktbeschreibung
Das Geschichtsbewußtsein der Deutschen befindet sich im Umbruch. Der wachsende Abstand zum Dritten Reich, der Generationswechsel und das veränderte internationale Umfeld bewirken Umorientierungen im Bewußtsein der Menschen und in der Politik, die vor zehn Jahren noch als Tabubruch gewertet worden wären. In den Jahren 1989 bis 1991 wurde die bislang einzige repräsentative Befragung zum Geschichtsbewußtsein der Deutschen durchgeführt. Darin werden die Einstellungen und Deutungen der Ost- und Westdeutschen hinsichtlich ihrer kollektiven Vergangenheit beschrieben. Der Autor hat über die umfassende Darstellung der Befragung hinaus die Ergebnisse aus den Jahren der Einigung Deutschlands seit 1991 fortgeschrieben. Außerdem verfolgt er die Entwicklungen im Geschichtsbewußtsein der Deutschen bis zu aktuellen Kontroversen, wie die endlose Debatte um das Holocaust-Mahnmal.
Das Buch zeigt die Zusammenhänge zwischen Vergangenheitsdeutung und politischer Gegenwart auf der Grundlage umfangreicher empirischer Daten. Die aktuelle Politik wird oftmals erst vor dem Hintergrund des historischen Bewußtseins der Menschen verständlich und erklärbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2001

Wer nicht stolz sein darf, ist aus dem Schneider
West-Verdränger gegen Ost-Verdränger: Felix Philipp Lutz beäugt deutsches Geschichtsbewußtsein

"Die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen in Deutschland haben unterschiedliche Wertstrukturen in Ost und West entstehen lassen, die jedoch keine negativen Auswirkungen auf die Stabilität der politischen Kultur gezeigt haben." Dieser letzte Satz zeigt, daß die Arbeit in den Strudel der Zeitgeschichte geraten ist. Sie geht auf ein Projekt zurück, mit dem Ende der achtziger Jahre das Geschichtsbewußtsein der Deutschen in der alten Bundesrepublik festgestellt werden sollte. Dann kam die Wende. Also mußten die Ostdeutschen einbezogen werden. Die hatten aber andere Sorgen als die Westdeutschen, und das störte die Einheitlichkeit des Gruppenbewußtseins.

Lutz betreibt erheblichen theoretischen Aufwand, ehe er Geschichtsbewußtsein als "die Fähigkeit einer Person" beschreibt, "die drei Zeitdimensionen Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft reflexiv und subjektiv sinnvoll ordnen zu können". In diesem Sinne hat jeder Erwachsene Geschichtsbewußtsein. Das spezifisch Ddeutsche erkennt man, indem man fragt, wie die Deutschen mit historischen Ereignissen umgehen, und dann die Antworten mit Parallelbefragungen anderer Nationen vergleicht.

Ähnlich unterscheidet Lutz fünf "Verarbeitungsmuster" - Verdrängung, Konformismus, Skeptizismus, Verantwortungsbewußtsein, Verklärung - und befragt jeden Typ unter fünf Aspekten: Beschäftigung mit Geschichte und Politik, Verarbeitung der NS-Vergangenheit, Nationalbewußtsein, Systemzufriedenheit und Außenpolitik. Ein Vergleich mit anderen Nationen findet indessen nicht statt. Spätestens seit dem Historikerstreit der achtziger Jahre fällt über jeden Vergleich zwischen Vergangenheitsbewältigungen in Deutschland und anderswo das Verdikt der Relativierung des NS-Unrechtes. Deutsche Nabelschau also.

Die Gründe für einen Verzicht auf den Vergleich mit ausländischen Vergangenheitsbewältigungen rechtfertigen indessen nicht den Verzicht auf einen Vergleich zwischen der Bewältigung der braunen und der Bewältigung der roten Vergangenheit. Beide sind deutsch. Gänzlich ausklammern ließ sich der Vergleich freilich nicht. Im Falle der Ostdeutschen wählt Lutz jedoch andere Maßstäbe und anderes Material. Entscheidend ist aber: Nach 1945 wurden die "früheren" Nazis mit Gestapo und Judenmorden konfrontiert. Dagegen spielte 1990 "in den Interviews mit den Bürgern der ehemaligen DDR das Thema Staatssicherheit so gut wie keine Rolle". Grund: In den Gesprächsleitfäden war die Frage nicht vorgesehen, und von sich aus sind die Ostdeutschen nicht darauf zu sprechen gekommen.

Lutz erklärt das damit, "daß das Stasi-Thema zum Befragungszeitpunkt noch keinen Eingang in das Geschichtsbewußtsein gefunden hatte". Der Rezensent fühlt sich eher an das kollektive Beschweigen des NS-Unrechtes nach 1945 erinnert. Jedenfalls bedeutet die Lücke im Gesprächsleitfaden, daß wir aus diesem Buch nicht alles über das Geschichtsbewußtsein der Ostdeutschen lernen können.

Den Verfasser beunruhigt das nicht: "Die politisch-historische Deutungsmacht (. . .) liegt vor allem bei den Westdeutschen." Das ist politisch nicht korrekt. Interessanter ist aber, ob es stimmt. Die Westdeutschen sind zwar zahlreicher als die Ostdeutschen, aber von der Mehrheit soll die Deutungsmacht nicht abhängen, vielmehr von so etwas wie Moderne, Vorhandensein bestimmter Einstellungen, Tabus, offizielle Regierungspolitik oder Generationenzugehörigkeit. Das sind in der Tat vernünftige Gesichtspunkte, mit denen man die Erheblichkeit politischer Ansichten einschätzen kann. Aber wie verhalten sie sich zum Geschichtsbewußtsein?

Die größte Schwäche der Arbeit liegt in den intensiv wertenden Definitionen der Verarbeitungsmuster. Die Muster orientieren sich am Ereignis des NS-Unrechtes. Damit ist das Ergebnis vorgezeichnet. Man braucht keine Befragung, um zu wissen, daß die Mehrheit der "Verdränger" sich wenig mit Geschichte und Politik beschäftigt, vor allem das NS-Unrecht verdrängt, einen Schlußstrich ziehen will, sich selbst für besonders tüchtig hält und politisch wenig aktiv ist. Für "Verantwortungsbewußte" gilt das Gegenteil. Letztlich will das Buch selbst helfen, das NS-Unrecht zu bewältigen. Insofern ist der Verfasser Partei. Und das schafft ein Problem, das über die Bedeutung des Buches hinausreicht.

Jede historische Verantwortung setzt eine individualisierbare Gruppe voraus, die Verantwortung übernimmt oder die verantwortlich gemacht wird. Lutz erörtert die Gruppenexistenz unter "Identität", sieht aber nicht, daß es die Verantwortung untergräbt, wenn Deutsche in Deutschland schlechte Noten bekommen, weil sie sich auf deutsche "Identität" berufen. Das Problem lautet so: Wenn ein Deutscher nicht stolz darauf sein darf, was andere Deutsche Gutes getan haben, warum soll er sich dafür verantwortlich fühlen, was andere Deutsche Schlimmes getan haben?

GERD ROELLECKE

Felix Philipp Lutz: "Das Geschichtsbewußtsein der Deutschen". Grundlagen der politischen Kultur in Ost und West. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2000. X, 424 S., br., 74,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gerd Roellecke kann sich mit diesem Buch nicht wirklich anfreunden. Problematisch findet er vor allem die "intensiv wertenden Definitionen der Verarbeitungsmuster". Jedenfalls ist es nach Ansicht des Rezensenten keine Überraschung, wenn sich bei Befragungen herausstellt, dass sich Menschen, die das NS-Unrecht verdrängen, im allgemeinen wenig mit Geschichte und Politik beschäftigen. Unverständnis zeigt der Rezensent auch angesichts der Tatsache, dass der Autor bei der Befragung ehemaliger DDR-Bürger (1990) nicht auf die Stasi eingeht. Weil die Befragten jedoch von sich aus selten auf das Thema zu sprechen gekommen sind, kann man aus diesem Buch "nicht alles über das Geschichtsbewusstsein der Ostdeutschen lernen", bedauert Roellecke. Davon abgesehen scheint es dem Rezensenten nicht wirklich einzuleuchten, warum Lutz bei der Befragungen von Ost- und Westdeutschen "andere Maßstäbe und anderes Material" verwendet hat.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Lutz unterscheidet zwischen der Kriegsgeneration, den DDR-Generationen und der jungen Generationen im Osten sowie der Kriegsgeneration, der Nachkriegsgeneration, der 68er Generation und der jüngsten Generation im Westen. Generationsübergreifend arbeitet er für den Westen die Grundtypen des Verdrängers, des Konformisten, des Skeptikers, des Verantwortungsbewussten und des Verklärers heraus, um schließlich zu dem Schluss zu gelangen, dass das 'normale Geschichtsbild' der Moderne in der Bundesrepublik von Europabewusstsein, Verantwortungsbewusstsein und Verfassungspatriotismus bzw. Systemzufriedenheit geprägt sei." (Rainer Eckert, Deutschland Archiv, Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, 35. Jg., 2/2002, 28.05.02)