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Europa verlassen - Otterbeck, Christoph
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Im frühen 20. Jahrhundert wirkten die kolonialen Bestrebungen des deutschen Kaiserreichs auch in viele Bereiche der Alltagskultur ein. Zugleich übten die außereuropäischen Kulturen auch auf Teile der modernen Künstlerschaft eine große Anziehungskraft aus. So haben einige Künstlerinnen und Künstler wie Wassily Kandinsky, Paul Klee, August Macke, Gabriele Münter, Emil Nolde und Ottilie Reylaender in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Europa für einige Zeit verlassen. Ihre Reisen in den Orient, die Südsee, nach Japan, Indien oder Mexiko stehen im Mittelpunkt dieses Bandes, mit dem erstmals eine…mehr

Produktbeschreibung
Im frühen 20. Jahrhundert wirkten die kolonialen Bestrebungen des deutschen Kaiserreichs auch in viele Bereiche der Alltagskultur ein. Zugleich übten die außereuropäischen Kulturen auch auf Teile der modernen Künstlerschaft eine große Anziehungskraft aus. So haben einige Künstlerinnen und Künstler wie Wassily Kandinsky, Paul Klee, August Macke, Gabriele Münter, Emil Nolde und Ottilie Reylaender in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Europa für einige Zeit verlassen. Ihre Reisen in den Orient, die Südsee, nach Japan, Indien oder Mexiko stehen im Mittelpunkt dieses Bandes, mit dem erstmals eine übergreifende Studie der Künstlerreisen des frühen 20. Jahrhunderts vorliegt. Ein besonderes Interesse gilt dabei der Verarbeitung der individuellen Erfahrungen zu Kunstwerken. Entgegen der populären Vorstellung, in der Reise ein Erlebnis mit unmittelbarer Wirkung auf die künstlerische Praxis zu sehen, zeigt der Autor, dass die formale und thematische Auseinandersetzung über längere Zeiträume stattfand. Inwieweit es dadurch zu einer Beeinflussung der künstlerischen Avantgarde kam und welche Rolle die Kunst im Geflecht kolonialer Machtbeziehungen spielte, vermag die interdisziplinär angelegte Studie aufschlussreich zu beantworten.
Autorenporträt
Christoph Otterbeck wurde mit dieser Arbeit an der Universität Marburg promoviert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Was die Künstler zum Reisen treibt

Gabriele Münter und Wassily Kandinsky reisten 1905 nach Tunesien in der Hoffnung, dort ihre außereheliche Liebesbeziehung sanktionsfrei ausleben zu können; Emil Orlik erlernte während seines Japan-Aufenthaltes die Technik des Farbholzschnitts; René Beeh konnte sich in Algerien 1910/11 endlich die Modelle leisten, die ihm in München zu teuer gewesen waren; Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet zeigten sich auf ihrer Tunis-Reise vor allem von den neuartigen Licht- und Farbverhältnissen fasziniert; Karl Hofer scherzte in Indien mit wechselnden "Genossinnen" herum und integrierte nebenbei indische Figuren in seine Bildkompositionen; Max Pechstein fand auf den Palau-Inseln sein Südsee-Paradies à la Gauguin; die Worpsweder Malerin Ottilie Reylaender schließlich blieb in Mexiko hängen, wo sie von 1910 bis 1927 lebte und malte. Was all diese denkbar heterogenen Künstlerpersönlichkeiten verbindet, ist ihre Reisetätigkeit über die Grenzen Europas hinaus - dies jedoch aus ganz unterschiedlichen Motivationen.

Christoph Otterbeck hat in seiner Marburger Dissertation mit dem programmatischen Titel "Europa verlassen" versucht, die Reisebewegungen von Künstlern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nachzuvollziehen ("Europa verlassen". Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2007. 480 S., 35 Farb- und 149 S/W-Abb., geb., 54,90 [Euro]). Hierbei schreibt er gleich gegen mehrere in der Forschung verbreitete Vorurteile an: Er lehnt die Romantisierung dieser Künstlerreisen als Erfüllung von Sehnsüchten nach einer unverdorbenen, naiven Kultur ab wie auch die Meinung, der Weg in die Fremde sei Inspirationsquelle für entscheidende Stilentwicklungen, ja Brüche im Werk des jeweiligen Künstlers gewesen.

Otterbecks Gegenthese lautet: Für die stilistische Entwicklung hin zur Abstraktion bleiben die Reisen eher marginal. Dahin gehende Weichenstellungen fanden, so der Autor, zumeist bereits vor Reiseantritt statt; oftmals kehrten die Künstler sogar in der fremden Umgebung zu betonter Gegenständlichkeit zurück. Es waren mehr die neuartigen Motive als deren innovative formale Behandlung, die die unmittelbaren Auswirkungen der exotischen Welten auf die Werke der Reisekünstler ausmachten. Dementsprechend schließen fast alle Unterkapitel der ziemlich länglichen präsentierten Reisenacherzählungen mit einem für die künstlerische Entwicklung der Betroffenen eher resignativen Fazit: So war "die Tunis-Reise von Kandinsky und Münter nicht der entscheidende Schritt bei der Erarbeitung eigenständiger avantgardistischer Positionen", und auch Max Slevogt wurde durch seine Erlebnisse in der ägyptischen Wüste nicht zu einem Anderen, war er doch "ein eher prosaischer Mensch und brauchte für seine Kunst keine solch sehnsüchtige Romantik".

Otterbecks Lust, den Inspirationslegenden die Luft rauszulassen, ist durchaus erfrischend, der Leser fragt sich allerdings: Welche Bedeutung haben die Reisen dann? Sollte es einzig die wenig revolutionäre These sein, dass die reisenden Künstler in der Fremde etwas suchten, was sie zu Hause nicht fanden? Und dass sie im Fremden wie weiland Goethe in Italien immer nur das Eigene entdeckten? Otterbeck macht diese Einsichten an einer augenfälligen Diskrepanz fest. Demnach zeige die direkt von den Reisen beeinflusste bildkünstlerische Produktion im Zuge von Modernisierungsflucht, Exotismus und Primitivismusbegeisterung meist nur kleine Ausschnitte aus einer idealisierten, naturwüchsigen und von allen Zeichen westlich-kolonialer Eingriffe bereinigten ursprünglich-unverdorbenen Welt. Gleichwohl sprächen die flankierenden Texte der Künstler häufig von enttäuschten Erwartungen und entzaubernden Erfahrungen. In den Bildern dominiere eine Ästhetik der Harmonie und der Gefälligkeit, die der Realität in den bereisten Kolonialreichen deutlich widerspreche.

Generell versucht Otterbeck, die Reisen in das kulturpolitische Phänomen des Kolonialismus einzubetten und dessen Rückwirkungen auf die Bildwelt der Heimat durch Weltausstellungen, sogenannte Völkerschauen, exotistische Plakatwerbungen und Exponate in Völkerkundemuseen nachzuzeichnen. Dieser interessante Ansatz krankt jedoch an dem methodischen Defizit, dass der Autor in anachronistischer Weise dem Diskurs des Postkolonialismus nach dem Mund redet und sich auf modische Gewährsmänner wie Edward W. Said stützt. So werden die reisenden Künstler zwar vom direkten Vorwurf freigesprochen, Handlanger des imperialistischen Kolonialismus gewesen zu sein. Kritisch jedoch merkt Otterbeck an, dass sie durch die einseitig vereinnahmende Vernutzung außereuropäischer Motive diese zum auszubeutenden Rohstoff degradiert hätten, um sie dann gewinnbringend auf dem europäischen Markt zu verkaufen.

Und geradezu empörend findet der Autor, dass die Künstler die Theorie der Anerkennung des Anderen und des kulturellen Dialogs noch nicht kannten und daher keine entschiedene Kolonialismuskritik in ihren Bildern betreiben konnten, sondern sich das Fremde schönsahen und -malten. Emil Nolde wird so zum Kronzeugen eines politisch gänzlich unkorrekten Blicks auf das Fremde, wenn er in seinen Erinnerungen schreibt: "Wenn das Abmalen der Eingeborenen Schwierigkeiten machte, zeigten wir das Bild des Kaisers von Deutschland, indem wir sagten: ,Dieser big fellow Kaiser will sehen, wie Ihr ausseht, und deshalb werdet Ihr abgemalt.'"

CHRISTINE TAUBER

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Durchaus erfrischend" findet Christine Tauber die Dissertation von Christoph Otterbeck und ihren ins Auge springenden Willen, Gegenthesen zur Romantisierung von Künstlerreisen des frühen 20. Jahrhunderts zu formulieren. Das "resignative Fazit", das der Autor auf seine "länglichen" Reisenacherzählungen folgen lässt und demzufolge die Fremde den Künstlern kaum Impulse des Anderen zu vermitteln vermochte, steht für Tauber jedoch auf fragwürdigem methodischen Fundament. Die Künstlerreisen über "modische Gewährsmänner", wie Edward Said, mit dem Phänomen des Kolonialismus zu verbinden und einen Emil Nolde für einen politisch unkorrekten Blick auf das Fremde zu tadeln, scheint ihr nicht ganz geheuer.

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