Marktplatzangebote
25 Angebote ab € 1,79 €
  • Broschiertes Buch

Goethe, 14.November 1781 " ... behandle ich die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt." 4. August 1803: "Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen." Frühjahr 1807: "Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lösen." 27.September 1826: "Man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten und zwar nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird." Von dem angeblichen…mehr

Produktbeschreibung
Goethe, 14.November 1781 " ... behandle ich die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt." 4. August 1803: "Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen." Frühjahr 1807: "Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lösen." 27.September 1826: "Man mag so gern das Leben aus dem Tode betrachten und zwar nicht von der Nachtseite, sondern von der ewigen Tagseite her, wo der Tod immer vom Leben verschlungen wird." Von dem angeblichen Giftmord, den die Freimaurer 1805 mit Wissen Goethes an Schiller verübten, bis zu der 1945 vom flüchtenden Gauleiter befohlenen, im letzten Augenblick noch verhinderten Sprengung seines Sarkophags und weiter bis in unsere Tage folgt die abenteuerliche Geschichte des (vermeintlichen) Schillerschen Schädels dem Strukturmodell des christlichen Heiligen- und Reliquienkultes. 1826 hat sich Goethe den Sc hädel des Freundes insgeheim ins eigene Haus bringen lassen. In der Nacht darauf entstand das letzte seiner großen naturphilosophischen Altersgedichte. Lebenslang mit anatomisch-osteologischen Studien befaßt, behandelt er hier die "Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt". Hier findet er seine Formel "Gott-Natur". Hier bewahrheitet sich seine Maxime: "Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lösen."
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2002

Wie mich geheimnisvoll die Form entzückt!
Literaturwissenschaft als Kunst: Mit Goethe beugt sich Albrecht Schöne über Schillers Schädel

Albrecht Schönes Essay ist Germanistik vom Feinsten, Literaturwissenschaft als Kunst. Den Jungen, die ihre Themen oft rupfen, quälen und quetschen, bis die so Geschundenen ein wenig Saft absondern, zeigt der Altmeister, wie man ein weithin bekanntes Gedicht so auffrischen kann, daß es sprudelnd lebt und Leben schenkt. Alles fügt sich hier glücklich: ein fesselnder Gegenstand, lückenlose Kenntnisse, unaufdringliche Eleganz des Stils, Geschick in der Anordnung der Materien, ein fast triumphales Zusammenfinden aller Linien am Schluß, als sich die Schädellehre und die Schlacht von Murten, Dantes Paradiso und der Zwischenkieferknochen, Spinoza und die Unsterblichkeit ineinander verschlingen zum großen Zusammenhang des Seins. Hier wird ein Gedicht nicht dekonstruiert, bis nur noch befremdliche Splitter bleiben, sondern es wird aufgebaut aus allem, was auf es einwirkte, so daß ein großer Resonanzraum entsteht, der am Schluß jedes Wort und jede Zeile volltönend klingen läßt.

Aus den mephitischen Dünsten des Makabren steigt Schöne in immer reinere Lüfte auf. Was im Moderduft zerborstener Särge im Weimarer Kassengewölbe beginnt, endet im Sonnenlicht der Gott-Natur oder, um Goethes Schreibweise exakt abzubilden, der Formel "Gott=Natur". Anfang, Ziel und Mittelpunkt des Buches ist das 1826 entstandene Gedicht "Im ernsten Beinhaus war's wo ich beschaute", dem Johann Peter Eckermann später den Titel "Bei der Betrachtung von Schillers Schädel" gab.

Wie es kam, daß Goethe den (vermeintlichen) Schädel des 1805 verstorbenen Freundes fast ein Jahr lang bei sich zu Hause hatte, die ganze abenteuerliche Geschichte von Schillers unfeierlicher Bestattung in einer Massengruft, von der mühseligen Herausklaubung seiner mutmaßlichen Gebeine zwanzig Jahre später aus einem Wust schimmelnder Särge und verwesender Leichen, von der wundersamen Identifikation des "richtigen" aus 23 zur Wahl stehenden Schädeln durch eine Bürgermeister Schwabe zuteil gewordene jähe Erleuchtung ("Das muß Schillers Schädel sein!"), die diversen Aufenthalte des fraglichen Schädels bis zu seiner Bestattung in der Fürstengruft 1827, wo sich 1832 auch die Exuvien Goethes einfanden, die zweite Ausräumung des Kassengewölbes 1883, die einen zweiten Schiller zutage brachte, die Angst, alle beide möchten unecht sein, die Auslagerung und Beinahevernichtung 1945 und die treue, vom Westen her gleichwohl bis in unsere Tage diffamierte Bewahrung der Reliquien in der DDR-Zeit - das alles macht, sorgfältig recherchiert und fesselnd erzählt, den ersten Teil des Buches aus. Am Rande erfährt man, daß Goethes Sarg einst von Unbekannten aufgebrochen worden und seitdem undicht war, daß bei seiner 1970 vorgenommenen Öffnung das Gesicht des großen Toten von Hunderten von Fliegenlarven bedeckt war, die nur Augen und Mund freiließen, so daß es aussah wie ein von Miesmuscheln übersätes Stück Strandholz, daß das Gebein deshalb im Weimarer Museum für Ur- und Frühgeschichte "mazeriert", also gereinigt wurde, was im Westen polemisch als Präparation à la Lenin-Mausoleum verdächtigt wurde, als hätte man Goethe zum sozialistischen Heiligen machen wollen. Daß freilich die ganze Geschichte Züge einer protestantisch-profanen Mutation der alten katholischen Reliquienkulte aufweist, daran läßt Schöne keinen Zweifel.

Was veranlaßte Goethe, der doch sonst dem Tod und seinen Zeichen aus dem Wege ging, wo immer er konnte, zu der düsteren Idee, den Schädel des Freundes fast ein Jahr lang bei sich zu Hause aufzubewahren und zu betrachten? Nicht das schaurige Memento mori war's. Er war kein Hieronymus im Gehäus, kein Hamlet vor Yoricks Schädel. Es ging viel banaler zu: Goethe trieb osteologische Studien. Der Geist forme sich den Schädel, so hatte er bei dem Phrenologen Franz Joseph Gall gelernt, und hatte ergriffen und erschüttert die Buckel und Einbuchtungen des mutmaßlichen Gefäßes abgefühlt, in dem einst der "Wallenstein" erdacht worden sein mußte. Außerdem suchte und fand er auch an "Schillers Schädel" das os intermaxillare, jenen Zwischenkieferknochen, der für ihn lange vor Darwin den Zusammenhang von Menschen- und Tierwelt bewies. Die Natur macht keine Sprünge. "Sie könnte zum Exempel kein Pferd machen, wenn nicht alle übrigen Tiere voraufgingen, auf denen sie wie auf einer Leiter bis zur Struktur des Pferdes heransteigt." Ein paar Sprossen weiter ist dann der Mensch zu finden. Vielleicht ist er auf Dauer gar nicht das Höchste. Es sei wahrscheinlich, so berichtet Charlotte von Stein über Goethes Studien, "daß wir erst Pflanzen und Tiere waren; was nun die Natur weiter aus uns stampfen wird, wird uns wohl unbekannt bleiben".

Anders als der Vulgärdarwinismus von heute wollte Goethe den Menschen nicht reduktionistisch auf den Affen zurückführen, sondern umgekehrt die triumphale Aufstiegsbewegung beweisen, die "gottgedachte Spur", die vom urzeugerischen, gestaltenwimmelnden Meer zum Menschen führt und bei ihm nicht zu enden braucht. Deshalb las er aus Schillers Schädel: "Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! / Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! / Der Blick, der Mich an jenes Meer entrückte / Das flutend strömt gesteigerte Gestalten."

Goethes Religiosität wird von Albrecht Schöne ernst genommen wie in der Goethe-Forschung schon lange nicht mehr. Des frommen Heiden Pantheismus erscheint als kräftige Lebensart, nicht als Verwässerung des Christentums. In allen vier Evangelien, so sagte Goethe zu Eckermann kurz vor seinem Tode, sei "der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden das Göttliche erschienen ist. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen? so sage ich: Durchaus! - Ich beuge mich vor ihm als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. - Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren? so sage ich abermals: Durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind, und alle Pflanzen und Tiere mit uns. Fragt man mich aber, ob ich geneigt sei, mich vor einem Daumenknochen des Apostels Petri oder Pauli zu bücken? so sage ich: Verschont mich und bleibt mir mit euren Absurditäten vom Leibe!"

Albrecht Schöne: "Schillers Schädel". Verlag C. H. Beck, München 2002. 110 S., br., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2002

Von Klassikern und Huronen
Wie soll man mit bedeutenden Gebeinen umgehen? Albrecht Schöne betrachtet das posthume Schicksal Schillers und Goethes
Nur wenige mögen sich Rechenschaft davon geben, dass sie im Innern ihres Körpers ein Skelett beherbergen. Es lässt sich – denn es reicht an vielen Stellen bis auf Millimeter an die Oberfläche heran – gut ertasten, aber es ist in gnädige Unsichtbarkeit gehüllt. (Eine Ausnahme stellen die Zähne dar, die als einziger Skelettteil ohne eine schwere Körperverletzung sichtbar gemacht werden können). Es bleibt, wenn der Rest des Menschen sich auflöst, und ist deswegen Unterpfand seiner Dauer ebenso sehr wie seiner Vergänglichkeit. Sein Anblick zwingt jeden, der nicht gerade von gerichtsmedizinischem Zynismus verbogen ist, zum Innehalten, in schreckensvoller Andacht vor dem kalt Allgemeinen, das einmal ein warmes Besonderes war.
Darum fördert die Recherche, welches Schicksal die Gebeine bedeutender Menschen erlitten haben, nicht nur traurig makabre Anekdoten zutage (das freilich auch), sondern rührt unmittelbar an die Frage, was es heißt, Nachwelt zu sein. „Schillers Schädel” nennt Albrecht Schöne sein neues Buch. Mit Neugier und Ernst, nimmt er das knöcherne Gehäuse gewissermaßen in die Hand und wendet es, und es öffnet ihm, wie ein Schlüssel, der gedreht wird, große dunkle Räume: Man erfährt, wie die Zeit um 1800 beerdigt hat und was sie unter Pietät verstand; man bekommt eine Einführung in die damals florierende Wissenschaft der Phrenologie, die aus der Schädelform moralische und intellektuelle Qualitäten ableiten wollte; vor allem aber geht es um Goethe, und wie er es anhand von Schillers Schädel unternahm, seines außergewöhnlich starken Schauders vor dem Tod Herr zu werden.
Schiller war am 9. Mai 1805 gestorben. Goethe, dem um zehn Jahre älteren Freund, darf man es nicht sagen; Christiane Vulpius bringt es ihm schonend bei, das Wort „Tod” muss dabei unbedingt gemieden werden. Als man ihn fragt, ob er den Leichnam noch einmal sehen wolle, wehrt er entsetzt ab: „O nein! die Zerstörung!” Goethe, der auch der Beerdigung seiner Eltern und selbst seiner Frau fernblieb, nimmt nicht an der Trauerfeier teil. Schillers Sarg wird in das sogenannte „Kassengewölbe” in Weimar hinabgelassen, wo schon mehrere Dutzend weiterer Särge stehen - eine schlichte Bestattung, doch keineswegs das Verscharren im Massengrab, das die Legende daraus hat machen wollen.
Zwanzig Jahre später braucht man Platz, auch Schiller soll weichen, zumal seine Witwe nunmehr eine Einzelbestattung wünscht. Das Gewölbe ist jedoch inzwischen, wie ein Zeitgenosse es ausdrückt, „ein Chaos aus Moder und Fäulnis”, in dem sich unmöglich noch mit Bestimmtheit die Knochen ihren vormaligen Besitzern zuordnen lassen. Vor Schiller hatte man hier 52, nach ihm noch 24 weitere Verstorbene beigesetzt. Was tun? Der Weimarer Bürgermeister Schwabe, der die Arbeiten leitet, lässt die aufgefundenen Schädel alle auf ein Brett stellen. „Kaum aber, dass dieses geschehen war, konnte ich auch schon ausrufen, auf den größten Schädel zeigend: ,Das muss Schillers Schädel sein!‘”
Dieser Augenblick der Erleuchtung bleibt erstaunlicherweise unangefochten; man kann heute nachweisen, dass es der falsche Schädel war, wie übrigens auch ein zweiter, den das spätere 19. Jahrhundert exhumiert. Goethe nimmt Schillers „Exuvien”, wie er in seiner charakteristischen Hüllsprache sagt (man versteht darunter eher Dinge wie abgeworfene Geweihe oder Schlangenhemden), an sich und lässt dazu eine Art Reliquiar anfertigen, einen Glassturz auf blauem Samt. In einer intimen Feierstunde – anwesend sind, außer dem Großherzog und dem Kanzler, nur wenige Vertraute – wird das Gefäß der Goetheschen Bibliothek übergeben. Der protestantische Superintendent protestiert, ohnmächtig, gegen die „huronenmäßige” Zeremonie. Da er Goethe und seinen Herzog vermutlich nicht im Ernst mit diesen nordamerikanischen Wilden vergleichen möchte, die ihre Toten in Rindenschreinen auf hohen Pfählen über der Erde beisetzen, so meint er wohl: eine katholische. Sich so an die Gebeine der großen Wohltäter zu klammern, das scheint ihm der finstere Aberglaube substratgebundener Heiligenverehrung. Schöne schließt den schmalen Band mit einer ausführlichen, ebenso liebevollen wie kenntnisreichen Deutung von Goethes Gedicht, das unter dem Titel „Bei Betrachtung von Schillers Schädel” bekannt ist, wobei sein besonderes Augenmerk der sich offenbarenden „Gott= Natur” gilt, „Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen / Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.” Dies ist die Formel, mit der sich Goethe zwingt, dem Anblick des so ausdrucksvollen wie schrecklichen Knochens standzuhalten.
Tatsächlich ist der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken, der die Behandlung bedeutsamer Gebeine betrifft, bis heute nicht gelöst: Soll man Staub dem Staube überantworten und nur die Stelle ehren, wo er liegt, oder soll man das tun, was man früher als ihre „Erhebung” bezeichnet hat? Er kehrt akut polemisch, wenngleich in Gestalt eines Exkurses, in Schönes Buch wieder und entzündet sich diesmal nicht an Schiller, sondern am zunächst überlebenden der beiden Dioskuren, der nun auch schon hundertsiebzig Jahre tot ist.
In den letzten Tagen des Krieges hatte der thüringische Gauleiter im Zuge einer Politik der verbrannten Erde befohlen, auch die sterblichen Überreste Goethes und Schillers zu vernichten. Das war zwar, da ein Mediziner die Särge hinter Haufen von Mull und anderem Gerät versteckt hielt, nicht mehr geschehen; doch stellte man rund ein Vierteljahrhundert später fest, dass Goethes Sarg damals beschädigt worden war und der Inhalt zu verfallen drohte. Die zuständigen Stellen der DDR (in deren Obhut sich die Weimarer Gedenkstätten befanden) beschlossen, die Gebeine zu „mazerieren”, das heißt von anhängenden Geweberesten zu reinigen, sie zu konservieren und neu zu betten. Der Vorgang wurde protokolliert, doch blieb die Akte lang verborgen. Als sie vor einigen Jahren wieder zum Vorschein kam, löste sie eine heftige Debatte aus: Hat man dies tun dürfen oder gar sollen? Oder liegt hier ein neuer Fall von „huronenmäßiger” Misshandlung der Gebeine vor?
Auch Schöne nimmt in diesem Streit deutlich Stellung. Vor allem wehrt er den damals erhobenen Vorwurf ab, man habe Goethes sterbliche Überreste in aller Heimlichkeit zu einer „Trophäe des Sozialismus” herrichten wollen. Denn, so sagt er ganz zurecht, schon das Taktgefühl verbiete es, einen Vorgang wie die Öffnung eines Grabes im Beisein von Publikum durchzuführen; und eine Absicht, Goethe in einem schneewittchen- oder leninhaften Glassarg für die Öffentlichkeit zu präparieren, lasse sich nirgendwo erkennen.
Tod und Trost
Die ergreifendste Passage seines Buches findet sich abgedrängt in eine lange Fußnote. Auch Schöne hat Einblick in das Protokoll der Sargöffnung genommen und die zugehörigen Fotografien angesehen. Bild 1 zeigt den „vollständig mit Aaskäferlarven bedeckte(n) Schädel”. Und Schöne hält ihm stand wie seinerzeit Goethe dem Schädel Schillers.
„Das ist korrekt. Und ist für nicht beruflich Abgehärtete gewiss so schwer erträglich, wie es manche Angaben gerichtsmedizinischer Untersuchungsprotokolle sein können. Aber der gleiche Sachverhalt lässt doch unterschiedliche Betrachtungsweisen zu. Ich muss eine Beschreibung aus der Erinnerung versuchen und fasse mich kurz.
Diese Fotografie ist ein Brustbild des auf dem Rücken liegenden Toten. Die Schalen der selber längst verendeten Insekten überziehen lückenlos das Antlitz, lassen dabei große schwarze Augenhöhlen und den leicht aufklaffenden Mund ganz frei. Randscharf geben sie (en face) die Form des Schädels wieder, der diese Metamorphose erlitten hat. (...) Das Bild erinnert, ich wüsste aus optischen Erinnerungen keine andere Verdeutlichungshilfe, an die Holzstämme alter Buhnenreste, wie sie bei Ebbe aus dem Meer auftauchen: ganz mit Miesmuscheln überzogen. Wie ein von der gestaltend umgestaltenden Natur selber hervorgebrachtes Artefakt gemahnt es in ikonographischer Hinsicht an die manieristischen Bilder Giuseppe Arcimboldis, des Prager Hofmalers Rudolphs II.: an das der Nymphe Flora etwa, mit Frühlingsblüten bekränzt, die lückenlos auch ihr Gesicht bedecken. (...)
Abgesehen von einigen Silhouetten und Weißers Gipsmaske aus dem Jahr 1807 ist diese Fotografie das einzige Abbild seiner äußeren Erscheinung, das uns nicht die von eigenwilligen Augen gelenkten Hände der Zeichner, Maler, Bildhauer übermittelt haben. Ohne Zweifel wird es eines Tages sichtbar werden und wird unser Goethe-Bild verändern, nicht allein das visuelle.”
Die Stiftung Weimarer Klassik hat es abgelehnt, die Erlaubnis zur Publikation dieses Bildes zu geben, und Schöne kommentiert: „Eigentlich fühle ich mich entlastet.” Und es genügt auch: Dass Einer, der den Leichnam Goethes in all seiner Grausigkeit angeschaut hat, so darüber zu sprechen versteht und zugleich, als müsste er noch die ungeheure Todesangst des jetzt Toten beschwichtigen, auf ihn so trostvoll seine eigene Metamorphosenlehre zur Anwendung bringt. Für uns insgesamt hat Schöne dies getan, so wie einst Goethe Schillers Schädel betrachtete, über den er ein Gedicht schrieb, das jeder lesen kann, und den er gleichwohl in seiner Bibliothek vor fremden Blicken verschlossen hielt; es war ein hoher Akt der Stellvertretung. Die Vorstellung, dass dieses Bild eines Tages sichtbar werden könnte, flößt Unbehagen ein. Besser, es bliebe, wie unser Skelett: da, aber unsichtbar.
BURKHARD MÜLLER
ALBRECHT SCHÖNE: Schillers Schädel. C.H. Beck Verlag, München 2002, 110 Seiten, 12 Euro.
Ernste Männer im Dienst an unserer letzten Reliquie. Foto: Joachim Hucke
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die Abhandlung des emeritierten Göttinger Literaturwissenschaftlers Albrecht Schöne über Goethes Interesse am Totenschädel Schillers ist für Ina Hartwig "ein betörendes philologisches Kabinettstück". Dabei gehe es dem Goethe-Kenner aber nicht nur um Schillers Schädel, der während seiner langen Irrfahrt auch ein halbes Jahr in Goethes Haus verweilte, sondern um Dichtung, im besonderen um Goethes "Terzinen-Gedicht" "Im ernsten Beinhaus war's wo ich beschaute", informiert die Rezensentin - nach Schöne "das letzte der großen naturphilosophischen Altersgedichte" des Meisters. Darüber hinaus aber halte Schöne auch noch, verspricht Hartwig, für ganz unterschiedliche Leserinteressen und -neigungen eine "schwindelerregende" Werkgenese bereit: Ostelogen und Phrenologen, Sittenkundler und "Schauerromantiker", Göttinger und Weimarer "Lokalpatrioten" kämen hier voll auf ihre Kosten. An dem Band hat die Rezensentin aber auch gar nichts auszusetzen: "Wunderbar klar und leichthändig", "gelehrt" und "scharfzüngig" habe sich der "Göttinger Emeritus" auf eine spannende und überaus lesenswerte Spurensuche begeben, lobt Hartwig.

© Perlentaucher Medien GmbH