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Auf zu neuen Ufern - doch zu welchen? So könnte das gemeinsame Motto dieser beiden meisterhaften Novellen, Der Umzug und Leptis Magna , lauten. Sie handeln von Krisen und Lebenslügen, von der Balance zwischen Bodenhaftung und Selbstverlust, von Bindungsängsten und dem Sog der Selbstauflösung.

Produktbeschreibung
Auf zu neuen Ufern - doch zu welchen?
So könnte das gemeinsame Motto dieser beiden meisterhaften Novellen, Der Umzug und Leptis Magna, lauten. Sie handeln von Krisen und Lebenslügen, von der Balance zwischen Bodenhaftung und Selbstverlust, von Bindungsängsten und dem Sog der Selbstauflösung.
Autorenporträt
Hartmut Lange, geboren 1937 in Berlin-Spandau, Studium an der Filmhochschule Babelsberg. 1960 Anstellung als Dramaturg am Deutschen Theater in Ostberlin. Nach einer Reise nach Jugoslawien Wechsel nach Westbelin, Arbeit für die Schaubühne am Halleschen Ufer und in den 70er Jahren für die Berliner Staatsbühnen sowie als Dramaturg und Regisseur am Schiller- und Schlosspark-Theater. Der Autor lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2004

Würgeengel küßt man nicht
Menschenachtung: Hartmut Lange findet den Fixpunkt der Novelle

Plötzlich. Es ist dieses Wort. Sollte man die Kunst dieses Novellenstellers fassen wollen, auf kleinem Raum und in kurzer Form aus allem Faßbaren ein unfaßbares Geheimnis zu machen, dann in diesem Wort. Plötzlich. Läßt sich eine Restaurantrechnung nicht mehr entziffern. Zeigt sich ein dunkler Fleck an der Wand. Wird ein Brief nicht gelesen. Wird eine Reise nicht gemacht. Wird eine längst gemachte und beendete Reise nicht abgebrochen. Liegt eine kostbare fremde Geige auf dem Wohnzimmertisch.

Und alles Geplante, Geordnete, Umzäunte bricht zusammen. Obwohl der Erzählfluß Hartmut Langes, seine prägnanten, knappen, fast schmucklosen, ihren schlanken Stil absichtsvoll untertreibenden Sätze genausowenig etwas Plötzliches haben, wie es die Produktion dieses Schriftstellers hat, der Jahr um Jahr mit einer Stetigkeit und einer unspektakulären Ruhe, die selbst in der bunten Abgeschiedenheit des Diogenes-Verlags ihresgleichen sucht, Novelle um Novelle herausbringt. Eine erzählte ungeheure Begebenheit um die andere. So viel regelmäßige Ungeheuerlichkeit könnte leicht eine oder die andere zuviel sein. Als würde der Knall den Effekt, den er machte, sofort auch wieder schlucken.

Doch nichts bei Hartmut Lange ist Knall. Und nichts Effekt. Er schreibt so durchdringend leise, daß man gegen Langes Stille fast schon wieder Ohrstöpsel nehmen möchte. So wurde er zu einem der bekanntesten Unbekannten der Gegenwartsliteratur. In all seinen Novellen herrscht ja auch nichts als: Normalität. Aber Normalität mit Kultur.

Sein Personal bleibt en famille. Wenn Kinder vorkommen, dann als erwachsene Kinder. Ein Mann, eine Frau, eine Altbauwohnung. Das reicht. Höchstens noch ein Einfamilienhaus. Oder mal eine Reisegruppe. Oder ein Probenraum für ein Streichquartett. Berlin. Rom. Dahlem. Johannisthal. Libyen. Alles sehr gepflegt, selbst noch in der Wüste. Auf jeden Fall gehobenes Bildungsbürgertum. Man hat studiert, promoviert, bekleidet Lehrstühle, sitzt an prominenten Musikerpulten, ist in Kanzleien beschäftigt, besitzt stattliche Bibliotheken. Der Ton ist gedämpft, freundlich sachlich.

Kein Schmutz. Keine Raserei. Keine Leidenschaften, die über ein etwas verschämt verwühltes Bett hinausreichten. Diskrete Bourgeoisie, deren Solidität eine gewisse Unantastbarkeit garantiert: Man bleibt immer auch etwas genierlich derart unter sich, daß es ganz und gar ungehörig und verletzend wäre, würde da jemand von außen einzudringen wagen. Und vor allem ein Erzähler hat hier als Eindringling, als Durchschauer gar, als besserwisserischer Durcheinanderbringer und Figurenkneter nichts verloren.

Nun erzählen ja die meisten deutschen Gegenwartskurzstreckenerzähler, die jüngeren vor allem, auch von nichts anderem als von dieser sie umgebenden, mehr oder weniger bürgerlichen Normalität, der sie wenig hinzuerfinden, in die sie sich aber verwickeln lassen oder vor der sie kapitulieren oder auf die sie spürbar stolz sind, wenn sie ein wenig in sie eingedrungen, an ihr gelitten und an ihr herumgeknetet haben, wenn möglich im Metropolenmaßstab: Berlin-Mitte zum Beispiel tut da klischeemäßig immer gut. Eigentlich aber haben sie gar nichts zu erzählen - außer daß sie dauernd vom Erzähler (von sich, mehr haben sie nicht) erzählen. Neuere deutsche zeitliche Literatur - also die von heute morgen und von gestern abend - verschafft einem hie und da einen Erzählerüberdruß: eine auktoriale Magenübersäuerung.

Dagegen ist der ältere, unzeitgemäße Hartmut Lange (Jahrgang 1937), der einst ziemlich besserwisserische Theaterstücke (unter anderem "Die Gräfin von Rathenow", 1969, "Trotzki in Coyoacan", 1972) schrieb, als Novellist der absolute Anti-Eindringling. Der Erzähler, der absolut nichts von sich hermacht, weiß, wenn es wie in "Leptis Magna" um eine antike Wüstenstadt in Libyen geht, zwar furchtbar viel über römische Provinzialarchäologie oder im "Streichquartett" fast alles über Strukturen, Töne und Schwierigkeitspassagen aus Schönbergs Opus 37. Lange ist einer der letzten Vertreter des Typus poeta doctus. Aber er will absolut nichts von dem wissen, was seinen Figuren widerfährt. Es herrscht in Langes Novellen eine Demut des Staunens und Nichtwissens, die sensationell ist. Er läßt: gelten. Und leben. In aller geheuerlichen Ungeheuerlichkeit.

So schildert er im "Umzug", der ersten seiner zwei neu erschienenen Novellen, wie Professor Bodewig, Politikwissenschaftler in Berlin, mit einer jungen Studentin Arm in Arm geht oder in ein Auto einsteigt, ohne daß der Erzähler ihm folgt oder weiß, wohin der Ordinarius geht und was er mit der jungen Dame macht, dieser seltsame Mann, der sein Berliner Haus leer räumen läßt, seine Frau nach Wien schickt, wo sie eine alte Villa kauft und einrichtet. Der Novellist schaut Herrn Bodewig einfach nur zu, wie er jetzt tage- oder nächtelang auf einen schwarzen Fleck in der leeren, hohen Berliner Wohnung starrt, in die nur die Licht- und Scheinwerferreflexe vorbeifahrender Autos ein wenig unheimliches Leben bringen. Herr Bodewig, ganz normaler Mensch und Professor, bleibt ein Geheimnis. Und wird irgendwann verschwinden - nach dem Ende der Erzählung, das mit diesem Verschwinden nicht zusammenfällt, sondern es nur ermöglicht.

Der Erzähler bleibt diesem rührend Einsamen, dem keine Macht der Welt, keine Geliebte, keine Ehefrau, kein Schwiegersohn, keine Tochter, kein Lehrstuhl und schon gar kein Erzähler mehr helfen können, auf diskrete, humane und geschmackvoll höfliche Weise auf den Nicht-Fersen. Er umkreist ihn nicht. Er vermutet nichts über ihn. Er läßt ihn in unheimlicher Ruhe. Und exakt in diesem staunenden Leben- und Geltenlassen liegt der Punkt, den man als den G-Punkt der großen Novellenkunst Hartmut Langes bezeichnen könnte: den Geheimnispunkt.

So scheint bei Lange jeder Mensch die Rätselstimme in einer literarischen Partitur, die von jemandem komponiert sein könnte, den man getrost "Gott" nennen darf: Der Erzähler spielt diesen Gott nicht, er achtet ihn nur. Insofern sind Langes Erzählungen in ihrer kühlen, distanzierten Art wahrhaft fromm: menschenachtend. Er verweigert diesen Rätselstimmen den Kontrapunkt, den gesicherten Boden. Und gibt ihnen eine figurale Autonomie: Sie haben das göttliche (oder teuflische) Recht, zu tun, was sie wollen. Sie sind völlig frei. Sie dürfen auch verschwinden - und nichts tun sie lieber. Oder weiterleben - und nichts fällt ihnen schwerer.

Oder aber auch einen Mord begehen wie der Primarius in der Novelle "Das Streichquartett" aus dem Jahr 2001, einen Mord, von dem man am Ende kurz aus einer Zeitungsnotiz erfährt. Erzählt wurde er nicht. Erzählt wurden die Irreleitungen in den Nerven- und Wahrnehmungsbahnen eines Geigers - als seien es ganz normale Alltagswege. Was an Ungeheurem geschah, passierte buchstäblich zwischen den Zeilen. So wird jede Zeile zum Spannungsmoment, der nichts verrät, aber alle Geheimnisse und Schrecken, Liebes-, Mord- und Todessachen als Möglichkeiten bereithält. Unterderhand. Langes große Kunst ist eine Möglichkeiten-, eine Alltagsdurchbrechungs-, eine Bodenlosigkeitskunst - vollkommen aufgehoben aber in Alltäglichkeiten und Bodenhaftigkeiten.

Es ist, als habe den Professor Bodewig, der sich weigert, seiner Frau und seiner Familie nach Wien zu folgen, der alle Beziehungen abbricht, der alles, selbst das Kolleghalten wie zum letzten Mal zu tun scheint, die Lieblingsfigur des Autors sanft küssend gestreift: der Würgeengel. Dieser treibt Langes Menschen zu ihren Rätseltaten. Schon in "Schnitzlers Würgeengel" aus dem Jahr 1995 sorgt dieser Schutzlosenengel fürs Verschwinden eines Dichters, den ein Besucher nicht mehr erreichen und fassen kann. Und in "Leptis Magna", der zweiten der neuen Novellen, die dem Bändchen auch den Titel gab, scheint dieser Würgeengel den typischen rötlichen Sand aus der römischen Ruinenstadt in der libyschen Wüste in einen Berliner Altbauwohnungsflur zu tragen, wo er immer und überall auftaucht. Und Sibylle, die Juristin mitten im zweiten Staatsexamen, liest plötzlich nicht den Brief, den van der Velde, ihr Lebensgefährte, wahrscheinlich zum Abschied schrieb, der Mann, der versprach, sie zu heiraten, die Firma ihres verstorbenen Vaters zu übernehmen und als Hochzeitsreise mehr aus Jux den Trip ins libysche Leptis Magna vorschlug. Aber verschwunden bleibt. Wobei sie trotzdem plötzlich das Aufgebot bestellt, vor dem Standesamt allein herumsteht, plötzlich eine neue gemeinsame Wohnung einrichtet. Wie überhaupt Wohnungen einrichten oder ausräumen bei Lange ein Hauptleitmotiv sind: die Tragikomik der Enthausung im Behausten.

So wie Sibylle eigensinnig, eigenwillig und völlig verloren den verlorenen Mann sucht, so bewegen sich fast alle Figuren Langes durch die Geschichte: bodenlose Deutsche, die nichts mehr haben als ihren Willen zum Leben, den sie dem Würgeengel verpfänden im mutwilligen Glücksspiel um Sein oder Nichtsein. Es ist nicht ihre Tragik, daß daraus ihr Nichtsein folgt. Es liegt viel Komik darin, daß Sibylle, die auf ihrer Geliebtensuche in die libysche Wüste nach Leptis Magna geflüchtet ist, umrauscht von Sandstürmen und Regengüssen, belauert von Polizisten und wilden Tieren, weiter an ihrem Dasein zu nagen, zu beißen und zu weinen hat. Dies irre kleine, große Leben ist nicht zu erklären. Es ist nur zu ertragen. Und Hartmut Lange zeigt, wie rätselhaft schön und ungeheuer weit es trägt.

GERHARD STADELMAIER

Hartmut Lange: "Leptis Magna". Zwei Novellen. Diogenes Verlag, Zürich 2003. 166 S., geb., 16,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Rezensent Gerhard Stadelmaier ist begeistert von den beiden Novellen dieses Bandes. Nicht nur weil ihn Hartmut Langes durchdringend leiser Ton fasziniert, ihn seine prägnanten, knappen, fast schmucklosen Sätze fesseln. Auch die kühle, distanzierte Art, mit der Stadelmaier in den Novellen die Menschen beschrieben findet, lassen ihn tief den Hut vor diesem Autor ziehen. Es herrsche "eine Demut des Staunens und Nichtwissens, die sensationell ist", lesen wir. Exakt in diesem "staunenden Leben- und Geltenlassen" liegt für den Rezensenten der "G-Punkt", der Geheimnispunkt von Hartmut Langes großer Erzählkunst. So wird für Stadelmaier jede Zeile zum Spannungsmoment, der "alle Geheimnisse und Schrecken, Liebes- Mord- und Todessachen als Möglichkeiten bereithält".

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