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Wenn du Tschetschene bist, mußt du deinem Feind eine Unterkunft für die Nacht anbieten, du mußt für die Ehre eines Mädchens sterben, du darfst nicht weglaufen, auch wenn du tausend Gegnern gegenüberstehst. Und du darfst niemals weinen, außer wenn deine Mutter stirbt. Doch wenn du in Rußland keinen Wohnsitz anmelden kannst, ständig als »Schwarzarsch« beleidigt und als Terrorist verdächtigt wirst, nur weil du in Tschetschenien geboren bist, dann weißt du: Auch wenn es schwer ist, Tschetschene zu sein, ist es doch unmöglich, kein Tschetschene zu sein. Sadulajews Roman ist der erste literarische…mehr

Produktbeschreibung
Wenn du Tschetschene bist, mußt du deinem Feind eine Unterkunft für die Nacht anbieten, du mußt für die Ehre eines Mädchens sterben, du darfst nicht weglaufen, auch wenn du tausend Gegnern gegenüberstehst. Und du darfst niemals weinen, außer wenn deine Mutter stirbt. Doch wenn du in Rußland keinen Wohnsitz anmelden kannst, ständig als »Schwarzarsch« beleidigt und als Terrorist verdächtigt wirst, nur weil du in Tschetschenien geboren bist, dann weißt du: Auch wenn es schwer ist, Tschetschene zu sein, ist es doch unmöglich, kein Tschetschene zu sein. Sadulajews Roman ist der erste literarische Versuch, die tschetschenische Tragödie aus dem Inneren heraus zu begreifen.
Autorenporträt
German Sadulajew, 1973 als Sohn einer Russin und eines Tschetschenen in Tschetschenien geboren, hat u.a. auf dem Bau, in einem vegetarischen Restaurant und bei einer indischen Tabakkompanie gearbeitet. Er hat ein Jurastudium in St. Petersburg absolviert und arbeitet heute dort als Rechtsanwalt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2009

Der strenge Blick der Berge
Splitterroman: German Sadulajews poetische Erinnerungen an den Krieg in Tschetschenien

Wer über den Krieg schreibt und nicht unmittelbar aufschreien oder reportagehaft berichterstatten, sondern das Kriegserlebnis poetisch verdichten will, braucht Zeit. Er braucht Abstand, um eine Sprache zu finden für das, was unter dem Schock des Erlebnisses unsagbar erscheint. Das Erlebte gewinnt eine Übermacht, eine Absolutheit, die die Verbindungen mit anderen Erfahrungen des Lebens kappt. Erst in der Erinnerung lassen sich Kriegserlebnisse in Zusammenhänge integrieren - soweit sie, traumatisch, nicht blinde Flecken bleiben. Aber was macht die Zeit mit einem? Betrügt einen die Erinnerung nicht? Die "berühmte historische Distanz", hat der Schriftsteller Robert Musil gesagt, bestehe darin, "dass von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will". Der Kriegsliteratur müssen ihre eigenen Erzählordnungen deshalb suspekt bleiben. Immer muss sie die Voraussetzungen ihres Sprechens auch selbst befragen.

German Sadulajew tut genau das. Der 36-jährige tschetschenische Autor, der inzwischen in Petersburg lebt und dort als Justitiar einer Lebensmittel-Importfirma arbeitet, hat ein Buch über den Krieg in seiner ihm fremd gewordenen Heimat geschrieben. Er nennt es einen "Roman in Splittern", verweigert sich den übergeordneten Zusammenhängen, markiert die Lücken. "Ich bin Tschetschene", heißt dieser autobiographische Roman. Es ist der erste literarische Versuch, die Tragödie der Kriege seit 1994 aus einer tschetschenischen Perspektive zu beschreiben, in einer oft archaischen Sprache, die nach alten Märchen und einem vormodernen Ehrenkodex klingt. Doch ist die Perspektive selbst brüchig. Es sind nur archaische Scherben, letzte pathetische Reste dessen, was dem Autor von Tschetschenien geblieben ist. Zu einem ganzen Bild lassen sie sich längst nicht mehr zusammensetzen.

Du darfst nicht weinen.

"Schwer ist es", schreibt German Sadulajew, "Tschetschene zu sein. Wenn man Tschetschene ist, muss man seinen Feind, wenn er als Gast anklopft, bewirten und beherbergen. Man muss ohne Zaudern für die Ehre eines Mädchens sterben. Man muss seinen Bluträcher töten, indem man ihm einen Dolch durch die Brust bohrt, denn man darf ihn nicht hinterrücks erschießen. Und man darf nicht weinen, egal, was geschieht. Selbst wenn du von einer geliebten Frau verlassen wirst, wenn Armut dein Haus verwüstet oder in deinen Armen Kameraden verbluten, du darfst nicht weinen, wenn du Tschetschene bist, wenn du ein Mann bist. Nur ein einziges Mal im Leben darfst du weinen: wenn deine Mutter stirbt." So ist der Romantitel - weit davon entfernt, ein patriotisches Bekenntnis zu sein - als Dilemma zu verstehen: "Ich bin Tschetschene" heißt gewendet nichts anderes als: "Ich kann nicht nicht Tschetschene sein".

Vor vier Jahren erschien Sadulajews Roman in gekürzter Fassung zunächst in der literarischen Zeitschrift "Snamja", das Moskauer Off-Theater "Praktika" brachte ihn dann als Stück auf die Bühne, und es kamen 5000 Buchexemplare bei "Ultrakultura" heraus, dem subversiven Verlag des Dichters und Übersetzers Ilja Kormilzew, der kurz darauf geschlossen wurde. Kormilzew, in Russland vor allem bekannt als Songschreiber der Band Nautilus Pompilius, deren Lieder Hymnen der Perestroika waren, überwarf sich mit seinen Rockmusikfreunden, als diese für die Putin-Jugend der "Unsrigen" spielten. Zugleich stand er im Visier der russischen Anti-Drogen-Behörde, weil er, neben Eduard Limonow oder der amerikanischen Beat-Literatur, das Buch "Marihuana - Verbotene Medizin" der Harvard-Professoren Lester Grinspoon und James B. Bakalar verlegte. Er ging nach London und starb dort wenig später an Krebs. German Sadulajews Debüt war eins der letzten Bücher, die er verlegte. In Russland ist es längst vergriffen. Und es ist wirklich ein Glück, dass es nun ins Deutsche übersetzt worden ist - also wenigstens hier gelesen werden kann.

Denn German Sadulajew entwickelt beim Schreiben eine besondere poetische Kraft. Sein Buch ist weniger eine Kriegserinnerung als eine Vergegenwärtigung des Kriegs mit poetischen Mitteln. Zwar findet, wer Anna Politkowskajas Reportagen über den zweiten Tschetschenienkrieg gelesen hat, ihre waghalsigen und eindrucksvollen Berichte über die Opfer in der tschetschenischen Zivilbevölkerung, die die Journalistin selbst zum Opfer werden ließen, bei Sadulajew in Bruchstücken gewissermaßen die Vorgeschichte des ersten Kriegs.

Schrei der Schwalben.

Nur begreift der junge tschetschenische Autor sich, anders als Politkowskaja, nicht als Berichterstatter. Er sucht, mit dem Abstand der Jahre, Bilder. Er schreibt über Vögel. Er erzählt, wie im Kaukasus immer der Sommer begann, wenn die Schwalben geflogen kamen, seitenlang beschreibt er das; und wie in jenem Jahr, als im Winter 1994 Grosny durch Panzereinheiten der russischen Armee eingenommen werden sollte, in den Straßen die Panzer brannten und die Soldaten in den Panzern verbrannten, die ankommenden Schwalben schrien: "Sie haben noch nie gehört, wie Schwalben schreien? Sie glauben, Schwalben können nicht schreiben? In jenem Frühling zogen die entgeisterten Vogelschwärme über die Trümmer der Häuser hinweg und stießen lange Schreie aus, kummervoll und untröstlich." Und dann kommt schon wieder ein Schnitt und im Roman ein neuer Erinnerungssplitter. Das poetische Pathos wird ständig durchbrochen.

Ein Krieg, sagt Sadulajew, wird immer zum Mythos. Tausende von Büchern werde man über ihn schreiben und nach den Büchern Filme drehen. Man könne das ja längst sehen: Ehemalige Offiziere, Soldaten und sogar Generäle veröffentlichten ihre Memoiren und Geschichten darüber, wie sie für Russland gekämpft und in Tschetschenien Krieg geführt haben. Einige schrieben sogar darüber, wie sie die Zivilbevölkerung umbrachten. Und, auf der anderen Seite, schrieben die Krieger des Islams, wie sie gegen die Ungläubigen kämpften, wie schön und herrlich es sei, Dschahid zu sein und zu Allah zu gelangen, indem man die Pforte zum Paradies wie seine eigene Haustür aufstößt. "Nur ich", sagt Sadulajew, "schreibe über Schwalben. Denn ich bin selbst eine Schwalbe. Kein föderaler Rittersmann, kein heiliger Mudschahed, nur eine Schwalbe, die nicht unter ihr vertrautes Dach zurückgekehrt ist."

So erzählt dieses Buch die Geschichte eines durch den Krieg Entwurzelten: German Sadulajew ging noch während des ersten Tschetschenienkriegs nach Petersburg. Er holte auch seine Schwester dorthin, als diese zu Hause auf dem Dorfplatz von der Druckwelle schwer verwundet wurde, die die Boden-Boden-Rakete eines U-Boots im Kaspischen Meer ausgelöst hatte. Die verletzte Schwester im Arm, musste er alle nur denkbaren Schikanen des FSB, also des russischen Inlandsgeheimdienstes, der sie am Flughafen kontrolliert, über sich ergehen lassen. Er konnte seine Gefühle nicht zurückhalten: "Ihr Unmenschen, Schwachköpfe, Missgeburten! Sie ist völlig entkräftet, wollt ihr sie vielleicht ins Gefängnis werfen? Meint ihr, eine Terroristin gefunden zu haben? Eine Heckenschützin? Sie ist Lehrerin. Ihr Hunde, ihr Schweine, ihr habt mein Dorf bombardiert, sie kam gerade von der Arbeit, da habt ihr über unserem Dorf eine Rakete abgeworfen, als es dort überhaupt keine Rebellen gab."

Esel in der prallen Sonne.

In Petersburg wird er ausspioniert, kann polizeilich nicht registriert und wegen der fehlenden Registrierung von der Miliz jederzeit ausgeplündert werden. Er gilt als "Feind" - und will doch nicht zurück nach Hause, weil er sich als Mann "verweichlicht" fühlen müsste, dem archaischen tschetschenischen Kodex und dem "strengen Blick der Berge" nicht standhalten könnte: "Man sagt, wenn ein Esel einmal im Schatten war, will er nicht mehr in der prallen Sonne arbeiten."

Der durch den Krieg entwurzelte Erzähler, der wie der Autor im Roman German Sadulajew heißt, stürzt auf diese Weise in eine Identitätskrise, die vor allem auch eine Krise der Männlichkeit ist. Sie hätten, früher in Tschetschenien, immer von den Frauen mit dem Weizenhaar geträumt, erzählt er. Jetzt hätten sie sie und seien zusammen mit diesen blonden russischen Frauen selbst zu Frauen geworden. In diesem Sinn ist der Romantitel zu verstehen: "Ich bin Tschetschene", sagt German Sadulajew, weil er nicht anders kann. Er will die strengen Männlichkeitsregeln seiner Heimat, mit denen er aufgewachsen ist, nicht mehr befolgen, kann zugleich aber auch nicht leugnen, ein Tschetschene zu sein, weil er in Petersburg beständig darauf hingewiesen wird.

Und es ist eine Krise der Sprache: Die archaischen Formeln sind nur noch wie ein fernes Lied in einem völlig zersplitterten Text.

JULIA ENCKE.

German Sadulajew: "Ich bin Tschetschene". Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Ammann-Verlag, 155 Seiten, 17,95 Euro.

Das Buch erscheint am 14. Juli.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Berührt zeigt sich Rezensentin Birgit Veit von German Sadulajews Buch "Ich bin Tschetschene", einem "epischen Klagegesang". Sie schwärmt von den lyrischen Naturschilderungen des Autors, um die herum er Geschichte und Mythologie Tschetscheniens entfaltet. Dabei hebt sie hervor, dass  Sadulajew nicht chronologisch vorgeht, sondern den Selbstbehauptungswillen der Tschetschenen und die überlegene russische Waffentechnologie aufeinanderprallen lässt. Nicht verschweigen will sie, dass das Buch naturgemäß sehr einseitig daherkommt, wenn es die Tschetschenen als unbeugsame Helden zeigt, die der russischen Übermacht ausgeliefert sind. Veit hätte sich allerdings vom Verlag einen Kommentar mit einer objektiveren Einordnung der subjektiven Sicht des Autors gewünscht. Ihr Fazit: "ein schönes und ein schreckliches Buch".

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