Produktdetails
  • Verlag: Ammann
  • ISBN-13: 9783250600213
  • ISBN-10: 3250600210
  • Artikelnr.: 08188856
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999

Trutz Komplex
Mit László Krasznahorkai im Internet / Von Christoph Bartmann

Wer ein paar neuere ungarische Romane gelesen hat, zum Beispiel jene von Lászlo Darvasi, Imre Wirth oder das letzte Buch von Lászlo Krasznahorkai, "Krieg und Krieg", dem drängt sich der Eindruck auf, es müsse mitten in Europa eine Sprache, eine Kultur mit einer radikal anderen Ordnung der Dinge geben. Oder richtiger: mit einer radikalen Unordnung der Dinge, die, um mit Michel Foucault zu sprechen, "die Bruchstücke einer großen Zahl von möglichen Ordnungen in der gesetzlosen und ungeometrischen Dimension des Heterokliten aufleuchten lässt". Was Foucault für China formulierte, könnte es nicht ebenso auf Ungarn zutreffen?

Empirisch verlässlicher dürfte die Behauptung sein, dass die neuere ungarische Literatur stark von Kleists, Kafkas und Borges' Paradoxien beeinflusst ist. Kafkas Wort vom "stehenden Sturmlauf" könnte als Motto über Krasznahorkais Roman stehen. Es herrscht in ihm Verwirrung, Zerrüttung, ein albtraumhafter Aufruhr, aber im Zentrum steht eine Figur, mit der verglichen die Gehülfen Robert Walsers Tatmenschen sind. Wie eine mit Effet gespielte Billardkugel schnellt György Korim durch den Roman. Was ihn vorantreibt, ist nichts als die Fliehkraft. Etwas, das er, Korim, mit Hermes in Verbindung bringt. Dessen Name, sagt er, bezeichne seinen "tiefsten geistigen Ursprung". Aber nicht etwa der geleitende und begleitende Gott der Kaufleute, sondern Hermes, der "wegleitende, der wegrufende, der wegziehende, der verlockende, der aus dem Gleichgewicht bringende" Gott. György Korim ist als Romanfigur ein Wiedergänger dieses Hermes; er ist das desorganisierende Prinzip. So kommt es, dass ein Provinzarchivar aus dem südöstlichen Ungarn auf seiner Reise von Budapest über New York nach Schaffhausen eine Schneise der Verstörung zieht.

Tatsächlich lautet das Motto zu Krasznahorkais Roman: "Der Himmel ist traurig". Wir wissen nicht, ob sich der Satz auf den griechischen Götterhimmel oder vielmehr auf jene blaue Leinwand bezieht, deren Anblick György Korim gelegentliche Beruhigung verschafft. Wir wissen auch nicht, ob der Himmel über Ungarn und New York immerfort traurig ist oder ob er trauert über die finsteren Machenschaften all der Figuren, denen der Held auf seiner Reise begegnet. Wir können ebenso wenig beurteilen, ob die Traurigkeit des Himmels auf der Erde eine Fortsetzung findet. Fest steht, dass Krasznahorkais Roman bei allem Aufgebot an Düsternis das Wort Verzweiflung nicht kennt. Es gibt kein Seelenleben in diesem Roman und folglich weder Seelenfrieden noch Seelenunfrieden. Der Leser wird Zeuge und Opfer eines Spiels. Die Karten, mit denen der Autor spielt, sind gezinkt.

Seit Hermes von ihm Besitz ergriffen und er durch eine betrübliche Wendung seines Schicksals "den Kopf verloren hat", der ihm zuvor ein Auskommen als Lokalhistoriker ermöglichte, plant György Korim einen Amoklauf. Aber nur in eigener Sache. Er will sterben, aber vorher, so scheint es, will er eben noch die Welt aus dem Gleichgewicht bringen. Um diesen Romanhelden zu beschreiben, müßte man zum "Simplex" den "Komplex" hinzuerfinden. György Korim verkörpert beides in derselben Person. Seine hervorstechende Eigenschaft ist diese: Er redet ohne Unterlass. Und wenn sich sein Gesprächspartner entnervt von ihm abwendet, redet er halt auf dessen Rücken ein. György Korim redet sich um Kopf und Kragen, die er beide längst schon verloren hat, und er redet sich um den Tod, den er doch eigentlich sterben möchte. Als ihm eine Kinderbande am Bahndamm mit Steinschleudern und scharfen Messern auflauert, tischt er solange Geschichten auf, bis man entnervt den Idioten ziehen lässt. Korim will sterben, aber er will nicht hier und jetzt sterben, sondern in New York. Also näht er seine Ersparnisse in die Jacke und besorgt sich in Budapest ein Flugticket.

So wie das Geld in Korims Jacke, so ist in diesem Roman ein anderer Text eingenäht. Ein herrenloses Manuskript aus dem Provinzarchiv stellt das einzige Gepäckstück auf Korims Reise dar. In New York angekommen, heuert der vollständig fremdsprachenunkundige Korim einen Dolmetscher als Mittelsmann zur Außenwelt an. Er muss ihm einen PC und einen Internetzugang beschaffen, denn Korim hat ein Projekt. Er will das ungarische Manuskript - dem er später den Titel "Krieg und Krieg" geben wird - mit Hilfe eines Wörterbuches ins Englische übertragen und alsdann ins Internet stellen. Im Zentrum der Welt angekommen, will Korim seinen Plan verwirklichen: "die Annäherung an die Ewigkeit und den persönlichen Tod". Das Internet, hat er erkannt, ist das Medium der Ewigkeit, und also sei in ihm die Idee gereift, "dass er dieses Material nicht zurück ins Archiv, sondern vorwärts in die Unsterblichkeit befördern müsse". Und so befördert György Korim Tag für Tag und Wort für Wort jenes "die ganze Welt berührende, bestürzende, erschütternde und geniale Manuskript" auf seine neue Homepage.

"Krieg und Krieg", das Manuskript, erzählt die Geschichte von vier Männern und einem dazwischenkommenden fünften, der wie die Zusatzzahl im Lotto, vom Schicksal aus der selben Lostrommel gezogen wurde. Die Männer heißen sonderbar: Kasser, Falke, Bengazza, Toot und, der fünfte, Mastemann. Mal treten sie uns als gerettete Schiffbrüchige im antiken Kreta vor die Augen, dann sitzen sie im mittelalterlichen Köln und trinken an einem Fenstertisch mit Domblick ihr Kölsch, "und am merkwürdigsten", meint zumindest Korim, sei es, "dass man beim Lesen keinerlei Unzufriedenheit oder Befremdung deswegen empfinde", dass die Typen so urplötzlich von einer in die nächste Welt schreiten. Was die Szenen verbindet, ist das lauernde Unheil.

Jedes Mal kündigt sich irgendein Krieg an, worauf die Männer erneut fliehen müssen. Von Köln nach Venedig, von dort zurück ins antike Rom - welchen Schauplätzen sich Krasznahorkai jedes Mal mit der demonstrativen Detailkenntnis des historischen Romanciers annimmt, ehe dann György Korim dazwischenfährt und Inkommensurables zur Interpretation des Manuskripts zum Besten gibt. Den Autor, meint er, interessiere im Grund nur eines: "die bis zum Wahnsinn beschriebene Wirklichkeit, die mit wahnsinniger Detailliertheit und manischen Wiederholungen geschilderte Situation in die Fantasie einzuritzen". Je weiter man sich dem Ende des Manuskripts nähere, desto mehr ließe sich das Ganze auf diesen einen Nenner bringen: "Zusammenbruch, Zusammenbruch und Zusammenbruch, collapse, collapse and collapse."

Kaum nötig zu erwähnen, dass bei diesem Zusammenbruch nichts zusammenbricht, sondern dass sich, wie bei Kleist, die Steine gegenseitig bremsen, weil sie alle zur selben Zeit stürzen wollen. Und so rast der Roman, der diesem Manuskript ein Asyl geboten hat, einem Zusammenbruch entgegen, der keiner ist. Zwar fließt noch Blut in New York, aber es ist nicht György Korims Blut. Ihn hat nämlich unterdessen die fotografische Bekanntschaft mit einem von Mario Merz' berühmten Glas-Iglus derart gefesselt, dass er augenblicklich beschließt, nach Schaffhausen zu reisen, um dortselbst nicht zu sterben, ehe ihm nicht versprochen sei, dass "an der Mauer des Museums von Herrn Merz" künftig eine Tafel von seiner Tat künden werde. Wie zu hören ist, hat die Wirklichkeit den Roman inzwischen eingeholt, und das wäre nun wirklich die finale Pointe und Finte eines in jedem Sinn des Wortes tollen Romans.

Laszlo Krasznahorkai: "Krieg und Krieg". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Skirecki. Ammann Verlag, Zürich 1999. 318 S., geb., 42,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

"Krieg und Krieg" ist nicht weniger als der "Abgesang auf die Geschicke der Menscheit, sinniert Klaus Dermutz in seiner Besprechung von Krasznahorkais neuem Roman. Dermutz gibt dem Leser dabei eine recht gute Unterweisung in der Kunst der ungarischen Traurigkeit, als deren "kühnster Repräsentant" Krasznahorkai gilt: In "Krieg und Krieg" ist der Held eine völlig vereinsamte Figur, die Bilanz seines Lebens spricht gegen ihn. Er weiß, dass Krieg nicht etwas Vorübergehendes ist, sondern eine schwere Krankeit, die unser Leben zersetzt. Laut Dermutz hat die elende Existenz der Hauptfigur von "Krieg und Krieg" selbstverständlich nichts mit Psychologie zu tun, sondern allein mit Endzeit: "Der Mensch ist in Krasznahorkais radikaler Weltsicht ein bloße Verirrung der Schöpfung", schreibt Dermutz, "eine pulsierende Masse von Fleisch und Knochen, gezeichnet von den Schrecken der Geschichte".

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