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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2003

Die Pinke kommt
Nach Feierabend: Andy Bellin zeigt die Hinterwelt des Pokerns

Gegen die dreisten Anpreisungen auf den Schutzumschlägen sind wir schon lange immun. Wie Pokerspieler maximieren Verlage ihren Gewinn, indem sie manchmal etwas flunkern. "Full House" von Andy Bellin ist beileibe nicht "das beste und spannendste Buch über das Pokerspiel, das je geschrieben wurde". "Poker Faces" von David M. Hayano, 1982 in der University of Chicago Press erschienen, war gewiß besser und spannender.

Sei's drum. "Full House" ist auf jeden Fall eine unterhaltsame Lektüre für eine lange Eisenbahnfahrt. Wer sich für das Thema Glücksspiel interessiert, wird sich nicht langweilen. Dabei ist es egal, ob man selber zum Zocken neigt oder ob man wie der Rezensent mehr dem Pharisäer gleicht, der Gott dankt, daß er kein Zöllner ist. "Glücksspiel" ist hier eigentlich nicht der korrekte Terminus. Beim Poker ist der Zufall nicht die entscheidende Komponente.

Vom Poker gibt es mehr Varianten, als August der Starke Kinder hatte. Prinzipiell geht es aber immer darum, daß der Spieler wettet, daß er bessere Karten als alle anderen hat, wenn er denn dieser Meinung ist. Poker ist ein Nullsummenspiel. Alle Spieler sind gleichberechtigt, es gibt keine Bank, und das eingesetzte Geld verläßt im wesentlichen nicht den Kreis der Teilnehmer. Außerdem braucht man viel Geschick zum Gewinnen. Diese Fakten sind der Grund dafür, daß man mit Poker Geld verdienen, ja sogar davon leben kann. Das ist anders als zum Beispiel beim Roulette, wo es auf lange Sicht außer der Bank nur Verlierer geben kann.

In Nordamerika gibt es genug schlechte Spieler, die zuviel Geld haben und bereit sind, sich davon zu trennen. Deshalb mußte dort zwangsläufig eine Subkultur von Poker-Profis und -Semiprofis entstehen, die das ausnützen. In der Nahrungskette kommen nach den Pflanzenfressern die Karnivoren. Bellin war einer davon.

Sein Buch ist ein bißchen Autobiographie, ein bißchen Geschichte, ein bißchen soziologische Untersuchung und ein bißchen Ratgeber. Der Originaltitel lautet "Poker Nation", und die Pokernation sind natürlich die Vereinigten Staaten. Poker ist genauso amerikanisch wie Baseball. Wer "Full House" gelesen hat, versteht die amerikanische Mentalität ein wenig besser. Auch bei Enron und Worldcom waren letzten Endes nur glücklose betrügerische Pokerspieler am Werk.

Beim Schach können Computer gewinnen. Poker ist nicht so einfach. Natürlich benötigt man dafür auch mathematisches Talent. Beim Bieten muß man mit Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung abschätzen, welche Karten die Mitspieler haben und welche noch kommen könnten. Bellin kann so etwas. Er hat Astrophysik studiert und wurde dabei von seinem Mathematikprofessor zum regelmäßigen Spiel verführt. Genauso wichtig sind aber andere Fähigkeiten. Ein Pokerspieler muß auch ein Psychologe, Detektiv und Schauspieler sein. Die Gegner sind Menschen mit menschlichen Schwächen, und langfristig kann nur gewinnen, wer diese Schwächen erkennt, gnadenlos ausnützt und gleichzeitig die eigenen verbirgt. Archie Goodwin, der gerissene fiktive Detektiv im Dienst von Nero Wolfe, hat jeden Donnerstag mit seinen Freunden gepokert. Wen wundert es? Richard Nixon - Tricky Dick - hat seinen ersten Wahlkampf für den Senat teilweise am Spieltisch finanziert. "Das Spiel ist ein anschauliches Beispiel für die schlimmsten Seiten des Kapitalismus, die unser Land so wunderbar machen" (Walter Matthau).

Zur Ökonomie: Im Klub oder Kasino zahlt man nur eine Pauschale dafür, daß man am Tisch sitzen und spielen darf. Deshalb ist Poker im Spielkasino oft das Lockvogelprodukt. Die Tische sind tief im Inneren des Gebäudes plaziert wie die Sonderangebote bei Aldi. Wer allerdings beim Poker gewinnt und sich nicht beherrschen kann, wird oft genug auf dem Rückweg beim Würfeln oder anderen Glücksspielen ausgenommen. Auch die anderen Unkosten wie Amphetamine, Nutten und der Porsche sind vorhersehbar. Bellin vergleicht sich mit einer "Geldleitung", durch die im Jahr eine Million Dollar fließt. Davon bleibt aber nur ein kleiner Teil bei ihm hängen. Die Umsatzrendite ist nicht höher als im Lebensmitteleinzelhandel. Der Stundenlohn liegt im mittleren zweistelligen Dollarbereich. Dafür zahlt man wenig Steuern, sehr wenig. Aber in einem allgemein zugänglichen Buch sollte man sich bei heiklen Themen natürlich auf Andeutungen beschränken. Sonst hat man schneller eine Kugel "im Torso", als man das Herz-As palmieren kann.

Man darf nicht vorhersehbar spielen. Manchmal - aber wohldosiert - sollte man im Spiel bleiben, obwohl man nur mäßige Karten hat. Kontraproduktiv sind die sogenannten Tells. Das ist verräterische Körpersprache. Wer jedesmal ein kaltes Glitzern in den Augen hat, wenn er ein gutes Blatt bekommt, ist sehr im Nachteil. Als guter Spieler muß man Tells vermeiden und sie gleichzeitig bei anderen erkennen, sozusagen als wandelnder Lügendetektor. Die hohe Kunst besteht natürlich darin, einen Tell nur vorzutäuschen, aber wer so perfekt schauspielern kann, der könnte sein Geld vermutlich als Heiratsschwindler, Immobilienhändler oder Ministerpräsident viel leichter verdienen.

"Full House" versucht auch, uns die Logik und Mathematik des Spiels mit den zweiundfünfzig Karten plus Joker näherzubringen. Man darf annehmen, daß der Durchschnittsleser diese Teile eher ignorieren wird. Beim Anfänger setzen sie zu viele Vorkenntnisse voraus, der Fortgeschrittene hätte es gerne gründlicher. Immerhin bekommt man doch einen gewissen Überblick. Es gibt zum Beispiel 2 598 960 Möglichkeiten, fünf Karten aus zweiundfünfzig auszuwählen. Darunter ist genau viermal ein unschlagbarer Royal Straight Flush, die Kombination aus den fünf höchsten Karten einer Farbe. Man muß offenbar ein Leben lang spielen, bis man vielleicht einmal diese Zusammenstellung erhält. Darauf zu spekulieren lohnt sich nicht. Und es reicht natürlich nicht, die eigenen Karten zu analysieren, man muß auch aus dem Bietverhalten der Gegner die richtigen Schlüsse ziehen. Perfektion kann man da nur anstreben, aber nie erreichen.

Bellin hat sich nie wirklich als Profi-Spieler gesehen. Dafür hatte er zuviel Hochachtung vor den wirklichen Profis. 1949 verlor Johnny Moss 250 000 Dollar in einem einzigen Five-Card-Stud-Spiel gegen Nick den Griechen, und am Ende hatte er trotzdem noch zwei Millionen gewonnen. "Anschließend ging er ins Bett." Verglichen damit, gehört Bellin tatsächlich nur der Schmalspurklasse an. Ein Einsatz von ein paar Tausendern ist für ihn hoch. Er schätzt, daß es auf der Welt zirka 135 000 bessere Pokerspieler gibt. Deshalb wechselte er den Beruf und wurde Journalist. Das ist einfacher. Jetzt schreibt er übers Pokern und spielt nach Feierabend. Der melancholische Unterton seines Buches ist denn auch unverkennbar. Trotz seiner ausgeprägten Legasthenie hat Bellin es zum Contributing Editor der Literaturzeitschrift "The Paris Review" gebracht. Das gibt Anlaß zu der Vermutung, daß sein Englisch besser klingt als das etwas krude Deutsch der Übersetzung ("David hatte Mistkarten ..."). Wer zu so profunden Erkenntnissen fähig ist, wie der, daß die Hasenpfote dem Hasen auch nichts genützt hat, muß im Grunde seines Herzens ein wahrer Poet sein.

ERNST HORST

Andy Bellin: "Full House". Die Poker-Spieler und ihre Geheimnisse. Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg. Europa Verlag, Hamburg, Wien 2002. 288 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Also: "Poker Faces" von David M. Hayano hat Ernst Horst besser gefallen, aber eine unterhaltsame Lektüre bietet seines Erachtens auch Andy Bellin, der sich eine Zeitlang als Semiprofi beim Pokern versucht haben soll. Das Buch changiert zwischen Autobiografie und Ratgeber, ein bisschen Soziologie und Geschichte ist auch mit dabei, meint Horst. Wenn es darum geht, den Lesern die mathematischen Gesetzmäßigkeiten des Spiels näher zu bringen, verschätzt sich der Autor nach Haubrich: für die einen ist Bellin zu ungenau, für die anderen eine Überforderung, vermutet er. Interessant dagegen seien die Partien, in denen Bellin über die Psychologie des Spieles plaudere: genaue Kontrolle und Kenntnis der Körpersprache, Intuition, kühles Abschätzen sind Eigenschaften, die einen guten Pokerspieler ausmachen. Deutlich ist das Buch von einer gewissen Melancholie getränkt, schreibt Ernst, was wohl darin liege, dass der Autor mittlerweile als Journalist arbeite und seine Karriere als Pokerspieler an den Nagel gehängt habe.

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