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Michael Köhler bestimmt das Prinzip des Rechts und die Gerechtigkeit als dessen Verwirklichung. Er erschließt die europäische Rechtsphilosophie und insbesondere die Leistung Kants, der von der Ethik guten Willens das Recht durch gesetzliche Selbstbestimmung im äußeren Verhältnis unterscheidet: Recht ist Form allgemeiner Freiheit in inhaltlicher Differenz. Kritik bezieht sich auf die Teleologik des älteren Naturrechts und auf den Empirismus, besonders den Utilitarismus, in der Gerechtigkeitstheorie auf Konzepte egalitärer Umverteilung wie die Wohlfahrtsökonomie, aber auch auf Rawls'…mehr

Produktbeschreibung
Michael Köhler bestimmt das Prinzip des Rechts und die Gerechtigkeit als dessen Verwirklichung. Er erschließt die europäische Rechtsphilosophie und insbesondere die Leistung Kants, der von der Ethik guten Willens das Recht durch gesetzliche Selbstbestimmung im äußeren Verhältnis unterscheidet: Recht ist Form allgemeiner Freiheit in inhaltlicher Differenz. Kritik bezieht sich auf die Teleologik des älteren Naturrechts und auf den Empirismus, besonders den Utilitarismus, in der Gerechtigkeitstheorie auf Konzepte egalitärer Umverteilung wie die Wohlfahrtsökonomie, aber auch auf Rawls' widersprüchlichen Ansatz. Hingegen bieten freiheitsrechtliche Grundbegriffe wie das Menschenrecht, die Menschenpflichten, das Privatrecht, ursprünglicher Erwerb und der Vertrag die systematische Basis für die Hauptformen der Gerechtigkeit und deren Konkretisierung insbesondere in Familie und Gesellschaft. Im Gegenzug zur krisenhaften Gespaltenheit der Besitzverhältnisse bis hin zu den Extremen überflüssigen Reichtums und empörenden Elends wird vor allem die neu begründete Form der Teilhabegerechtigkeit herausgestellt. Diese räumt jeder Person aufgrund des ideal-ursprünglichen Gemeinbesitzes der Menschheit an der Weltsubstanz ein vermögensproportionales Erwerbsrecht ein - zu konkretisieren etwa in Rechten auf Bildung und auf Arbeit. Erst dadurch wird Gesellschaft ein ausgeglichenes Verhältnis freier, gleicher, selbständiger Bürger. Politisch entsprechen der Gerechtigkeitssystematik der demokratische, auf verantwortliche Repräsentation gegründete Rechtsstaat sowie ein Friedensbund souveräner (selbstbestimmter) Staaten, dessen Verfassung in weltbürgerlicher Hinsicht auch drängende Probleme internationaler Gerechtigkeit lösen könnte.
Autorenporträt
Geboren 1945; Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und München; beide Staatsexamina, Promotion, Habilitation in Heidelberg; Professuren an den juristischen Fakultäten der Universitäten Heidelberg, Köln und Hamburg, dort am Seminar f. Rechtsphilosophie (bis 2010).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2017

Mit Interessenpolitik lässt sich kein Staat machen
Für Michael Köhler ist die Demokratie an einem toten Punkt angelangt. Der Rechtsphilosoph verspricht Abhilfe

Martin Schulz wird dieses Buch nicht mögen. Zwar schilt sein Autor, der emeritierte Hamburger Rechtsphilosoph und Strafrechtler Michael Köhler, das "Grundsatzunrecht, die freie, an sich produktive Person ganz von der Produktionsgrundlage zu trennen und auf ihre bloße vertragliche Selbstentäußerung in Abhängigkeit von der Willkür anderer zu reduzieren". Auch fordert Köhler die gerechte, ein selbstbestimmtes Leben ermöglichende Teilhabe aller Bürger am gesellschaftlichen Vermögen. Von einem Recht auf Bildung bis zu einem Recht auf Arbeit und einem Verbot prekärer und miserabel entlohnter Beschäftigungsverhältnisse umfasst diese Teilhabe so ziemlich alles, was das sozialdemokratische Herz erfreut.

Zugleich polemisiert Köhler aber mit einer Heftigkeit, die ihn fast für den Ludwig-Erhard-Preis qualifiziert, gegen den "allenthalben eingreifenden und umverteilenden Steuer-, Subventions-Wirtschaftsinterventions- und Sozialstaat". Unter der Piratenflagge der Solidarität - eines diffusen, von Interessen getragenen Gummibegriffs ohne rechtliche Basis - überziehe dieser die Bürger fast nach Belieben mit Steuern, degradiere viele von ihnen zu hilflosen Klienten einer überbordenden Sozialbürokratie und bringe die Übrigen durch eine hemmungslose Geldvermehrungspolitik langsam, aber sicher um ihre Ersparnisse.

Wie passt das zusammen? Köhlers Antwort illustriert die methodologische Grundüberzeugung seines rechtsphilosophischen Entwurfs. Der Umgang mit Rechtsfragen darf danach nicht nach politischem Gutdünken oder nach Maßgabe einer prinzipienlosen Abwägung erfolgen. Auf diese Weise lasse sich bei hinreichender Geschicklichkeit alles und daher nichts begründen. Den Bürgern dürften vielmehr nur solche Verpflichtungen auferlegt werden, die sich auf die Grundkategorien des Rechts, letztlich den Begriff der Gerechtigkeit zurückführen ließen.

Aus dieser Warte erweisen sich Rechtspolitik und Rechtsdogmatik über weite Strecken als "praktische Prinzipienwissenschaften", mithin als angewandte Rechtsphilosophie. Dem Vertrauen Köhlers auf die rechtserschließende Kraft prinzipiengeleiteter Argumentation entspricht ein Mut zu langen Ableitungsketten und eine Urteilssicherheit, um die ihn weniger deduktionsfreudige Leser nur beneiden können. Köhler weiß, wie die Welt des Rechts einzurichten ist, und noch die kleinstteiligen rechtspolitischen Positionsbestimmungen - etwa die Ablehnung der Homo-Ehe und eine einseitig auf frühkindliche Fremdbetreuung abzielenden Familienpolitik - präsentiert er als vernunftrechtlich abgesicherte Erkenntnisse.

Köhler ist sich darüber im Klaren, dass die Auflösung einer einheitlich-teleologischen Weltordnung den Rückgriff auf ein tragendes Ethos von unvermittelter Gegebenheit, auch wenn es so schöne Namen wie "Wertegemeinschaft", "Lebenswelt" oder "Grundkonsens" trägt, von vornherein ausschließt. "Vielmehr ist es das Recht allgemeiner Freiheit und Gleichheit, nach eigenen Wohl- und Glückskonzepten, Entwürfen guten Lebens sich unabhängig vom Gutdünken anderer zu verwirklichen." Das dadurch bedingte Verhältnis der Gegensätzlichkeit und Unsicherheit sei nicht unmittelbar behebbar, sondern müsse zur Ordnung eines Einander-gewähren-Lassens verarbeitet werden, aus der dann eine neuartige und komplexere Form sozialen Zusammenhalts - gleichsam eine Stabilität zweiter Stufe - hervorgehen könne.

Diese Verarbeitung leiste der kantische Rechtsbegriff. Als "Form der Formen" allgemeiner äußerer Handlungsfreiheit eröffne er den Raum, innerhalb dessen die einzelnen Bürger ihren individuellen Lebensplänen nachgehen könnten. Der Polemik Köhlers gegen den Wohlfahrts- und Interventionsstaat liegt dieses klassisch-liberale Rechtsverständnis zugrunde. Danach steht es dem staatlichen Gesetzgeber weder zu, besser als die einzelnen Bürger wissen zu wollen, was gut für sie sei, noch habe er die Befugnis, der Bürgerschaft von ihm als "gerecht" ausgegebene Verteilungspläne aufzuzwingen.

Klassisch liberal, aber ohne neoliberale Verkürzungen.

Dabei bleibt Köhler jedoch nicht stehen. Aus dem von Kant eher beiläufig präsentierten Lehrstück vom ursprünglichen Gesamtbesitz aller Menschen an Erdboden leitet er deren eingangs erwähnten, allen Individualrechten geltungslogisch vorangehenden Anspruch auf "gerechte Teilhabe an der organisierten Existenzgrundlage bis hin zu komplexen gesellschaftlichen Austauschprozessen" ab. Dies ist ein ehrenwerter Versuch, dem Anliegen des klassischen Liberalismus treu zu bleiben, ohne den neoliberalen Verkürzungen aufzusitzen. Ihn als Auslegung des kantischen Textes auszugeben, tut sowohl dem Wortlaut als auch dem systematischen Standort der kantischen Ausführungen Gewalt an.

Neben der gegenwärtigen Wirtschaftsverfassung erregt auch die heute übliche Organisation der politischen Willensbildung den Unwillen Köhlers. Den Wettbewerbsmodellen des Politischen stellt er die Forderung an die Gesetzgebung gegenüber, sich "am kategorisch Allgemeinen zu orientieren" und sich nicht durch die Macht partikularer Interessen deformieren zu lassen. Im Laufe des politischen Prozesses sollen danach die vielen Einzelstandpunkte der von ihren Privatinteressen beherrschten Bürger schrittweise von der ihnen anhaftenden Partikularität gereinigt werden.

Am Ende soll dann ein Gesetz stehen, das nicht nur eine irgendwie zustande gekommene Mehrheit der Abgeordneten hinter sich vereint, sondern das dem kantischen Rechtsprinzip allgemeiner äußerer Freiheit für einen bestimmten Lebensbereich die erforderliche konkrete Ausgestaltung verleiht. "Gesetzesrecht ist zufolge des erinnerten substantiell-allgemeinen Begriffs kein bloßer Interessenkompromiss, sondern eine kritische Auseinandersetzung vorläufiger, beschränkter Gesetzeskonzepte in der Perspektive der Vereinigung in einer sich inhaltlich und interpersonal erweiternden, konkreten Regelallgemeinheit." Vor dem Hintergrund dieser außerordentlich anspruchsvollen Aufgabenbestimmung nimmt sich die politische Realität der Gegenwart notwendigerweise klein und hässlich aus. Köhler spart diesbezüglich nicht an deutlichen Worten. "Mit der Dominanz von Interessenverbänden und Interessenpolitik, mit einer Mehrheit Abhängiger, einem Heer von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Depravierten lässt sich keine freiheitliche Republik halten."

Für einen neuen Typus von Abgeordneten jenseits der Parteien.

Wie soll der von Köhler diagnostizierte "tote Punkt" der modernen Demokratie überwunden werden? Die Antwort fällt enttäuschend nostalgisch aus. Unter erneuter Berufung auf Kant plädiert er dafür, den Antagonismus zwischen der Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit auf der einen und der Opposition auf der anderen Seite durch eine konsequent durchgeführte Gewaltentrennung zu ersetzen. Die danach erforderliche Verselbständigung der Abgeordneten gegenüber der Regierungsspitze will Köhler durch eine Neubelebung des Gedankens politischer Repräsentation absichern. Der Abgeordnetentypus, für den er wirbt, scheint allerdings geradewegs dem Paulskirchenparlament entsprungen zu sein. Nicht Parteisoldat solle der Parlamentarier sein, sondern persönlich und wirtschaftlich unabhängig; "der Abgeordnete bleibt wirklich Bürger unter Bürgern, behält also seine gesellschaftliche und berufliche Lebensstellung bei".

Er soll mithin sowohl seine Arztpraxis auf der Schwäbischen Alb fortführen als auch in Berlin an einer Vielzahl hochkomplexer Gesetzgebungsvorhaben mitwirken, und dies alles, ohne auf die Expertise der von seiner Partei geführten Ministerien zurückgreifen zu dürfen. Wie dies funktionieren soll, bleibt Köhlers Geheimnis.

In überraschendem Kontrast zum hochgestimmten Idealismus von Köhlers innerem Staatsrecht steht der robuste Realismus seiner Positionen zu internationalrechtlichen Fragen. Das große Thema von Köhlers bisherigen Darlegungen - die Gewährleistung realer Freiheit für jeden einzelnen Bürger - wird hier überlagert durch die Frontstellung gegen einen "Absolutismus, der im Namen der Menschenrechts-Idee andere Verhältnisse zu bevormunden trachtet". Dies hat zur praktischen Folge, dass Köhler sich darum bemüht, die Zulässigkeitsvoraussetzungen humanitärer Interventionen und den Anwendungsbereich des Völkerstrafrechts so eng wie möglich zu halten.

Auch seine Ausführungen zur internationalen Teilhabegerechtigkeit fallen im Vergleich zu seinen minutiösen Erörterungen der entsprechenden innerstaatlichen Problematik außerordentlich knapp und ziemlich defensiv aus. Angesichts der ernüchternden Erfahrungen mit einem überbordenden internationalen Tatendrang gibt es für diese Vorsicht gute Gründe. Aber folgt sie wirklich zwingend aus der vernunftrechtlichen Gesamtkonzeption Köhlers? Trotz der auch hier reichlich ausgestreuten Kant-Zitate ist dies eine zumindest offene Frage.

Die von Köhler errichtete Kathedrale hat also Risse. Dessen ungeachtet handelt es sich bei seinem Buch um eine imponierende wissenschaftliche Leistung. Keine einzige Zeile des Werks ist auf Anbiederung und das Streben nach billigen Effekten getrimmt. In einem universitären Klima, das es den einzelnen Wissenschaftlern immer schwerer macht, sich der Verführungskraft narkotisierender Konsensformeln zu entziehen, gibt Köhler sich gleichsam ungeschützt seinen Lesern preis, mit allen Ecken und Kanten, Übertreibungen und Einseitigkeiten, die sich im Laufe eines langen und produktiven Wissenschaftlerlebens unweigerlich einstellen. Man muss den Autor nicht lieben oder ihn gar als Maß aller rechtsphilosophischen Dinge verehren. Hohen Respekt aber verdient er allemal.

MICHAEL PAWLIK.

Michael Köhler: "Recht und Gerechtigkeit". Grundzüge einer Rechtsphilosophie der verwirklichten Freiheit.

Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2017. 915 S., geb., 139,- [Euro].

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