Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 69,00 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Seit der Genese der modernen Prozeßgeschichte wie des zugehörigen Bewußtseins erhebt sich Kritik an ihren ontologischen, epistemologischen und lebenspraktischen Herrschaftsansprüchen. Im Unterschied zur Historismuskritik oder Skepsis gegenüber einzelnen Geschichtsphilosophien stellt die Kritik der Geschichte die Universalität des prozeßgeschichtlichen Denkens, aber auch eines dadurch bestimmten Daseins überhaupt in Frage. Diese Kritik vollzieht sich weithin als eine Selbstdestruktion des modernen Geschichtsdenkens. Die prozeßgeschichtliche Synthese mit ihrem Versprechen, Historizität…mehr

Produktbeschreibung
Seit der Genese der modernen Prozeßgeschichte wie des zugehörigen Bewußtseins erhebt sich Kritik an ihren ontologischen, epistemologischen und lebenspraktischen Herrschaftsansprüchen. Im Unterschied zur Historismuskritik oder Skepsis gegenüber einzelnen Geschichtsphilosophien stellt die Kritik der Geschichte die Universalität des prozeßgeschichtlichen Denkens, aber auch eines dadurch bestimmten Daseins überhaupt in Frage. Diese Kritik vollzieht sich weithin als eine Selbstdestruktion des modernen Geschichtsdenkens. Die prozeßgeschichtliche Synthese mit ihrem Versprechen, Historizität gleichermaßen denken und erfahren zu können, zerbricht sowohl realgeschichtlich wie in der wissenschaftlichen und philosophischen Theorie. Einzelne Momente dieser Synthese wie die Vorstellung eines homogenen geschichtlichen Raums oder der unhintergehbaren Geschichtlichkeit der Existenz verselbständigen sich. Hierdurch entstehen alternative Deutungen individuellen wie kollektiven Daseins in der Zeit. Ihre grundlegenden Möglichkeiten differenzieren sich bereits im 19. Jahrhundert vollständig gegeneinander aus und bestimmen den Umgang mit dem geschichtlichen Bewußtsein bis in die Gegenwart. Jürgen Große bietet eine Gesamtdarstellung dieser Problematik. Im ersten Teil stellt er eine Typologie von vier Formen der Geschichtskritik auf: überhistorisch, transhistorisch, unhistorisch und antihistorisch. Im zweiten Teil des Buches werden deren Transformationen und Vermischungen im 20. Jahrhundert verfolgt. Dabei zeigt sich, daß die prozeßgeschichtliche Synthese des 19. Jahrhunderts in einer reduzierten Form überlebt hat, nämlich in der liberalistischen Utopie grenzenlosen Wachstums - einer störungsfreien, "ungeschichtlichen" Geschichte.
Autorenporträt
Geboren 1963; Studium der Geschichte und Philosophie; Lektor und Korrektor in Verlagen; 1996 Promotion; 2005 Habilitation in Philosophie; lebt als wissenschaftlicher Autor in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2007

Die Matrix als Strohhalm
Gegen den Primat der Geschichte: Ein systematischer Überblick über A-, Anti-, Trans- und Überhistoriker
Die Geschichte hat man, seit sie im 18. Jahrhundert entdeckt wurde, im 19. Jahrhundert ihren theoretischen Ausbau erfuhr und im 20. Jahrhundert zeigen durfte, was sie praktisch kann, als einen anthropologischen Grundfaktor zu behandeln, nicht unähnlich der Sexualität: Nicht immer spürbar aktiv, doch immer da, man kann sie preisen, verteufeln, sie für überschätzt erklären, alles was man will – aber sich in irgendeiner Weise zu ihr zu verhalten, das wird niemandem erlassen. Ein Buch, das den allumfassenden Titel „Kritik der Geschichte” führt, legt sich sogleich als ein schwerer Barren in die Hand; ob aus Blei oder Gold, das bleibt abzuwarten, doch ist es der Mühe wert, es herauszufinden.
Jürgen Große hat systematisch alle Positionen zusammengestellt, die sich nicht etwa gegen diese oder jene Geschichtsphilosophie, sondern gegen den Primat der Geschichte im Dasein der Menschheit überhaupt wenden. Es ist ein Opus geworden, das von Fleiß und Beharrlichkeit in einem einschüchternden Grad zeugt. Wie viel konzentrierte Disziplin hat es erfordert, alle diese Gesammelten Werke durchzulesen, von Goethe, Schopenhauer, Hegel, Nietzsche, Sartre, Dilthey, Ranke, Lévi-Strauss, Ernst Jünger, Kierkegaard, Schelling und zwanzig anderen, sie zu analysieren und aufeinander zu beziehen! Weit mehr ist es, als man selbst von einer Habilitationsschrift (um eine solche handelt es sich) erwarten dürfte; es streift die Grenzen dessen, was ein Mensch in einem Leben leisten kann.
Um die Masse seines überaus komplexen Materials zu ordnen, bildet Große vier Hauptkategorien, die im Gegenzug nun wieder betont einfach geraten müssen: das Überhistorische, das Transhistorische, das Ahistorische und das Antihistorische; jedes der drei wird nochmals in Seinslehre, Erkenntnislehre und Wertlehre gegliedert. Den Schwerpunkt legt er auf das 19. Jahrhundert, das, wie er sagt, alle diese Kategorien komplett ausgearbeitet hat, während das 20. ihnen nichts grundsätzlich Neues hinzufügt, sondern vor allem Hybriden erzeugt, die einen guten Teil der eben etablierten Ordnung wieder verwirren.
Diese Kategorien erklären sich keineswegs von selbst. Die Kritik vom Standpunkt des Überhistorischen aus verbindet sich mit den Namen Goethes, Schopenhauers und Jacob Burckhardts, die angesichts der Ewigkeit der Typen über das bunte transitorische Gewimmel als belanglos hinweggehen. Transhistorisch äußert sich vor allem die christliche Romantik (Schelling und andere), die Geschichte als eine Art Sündenfall betrachtet, welcher dem Paradies einer mythischen Frühzeit das Ende bereitet. Als Ahistoriker gerieren sich etwa die Positivisten, die Zeit als bloße Funktion der stets identischen materiellen Substanz ansehen. Die Antihistoriker, unter ihnen Kierkegaard, aber auch Spengler oder Sartre, reagieren mit Spott, Trauer und Trotz auf das, was die Geschichte unter den Menschen anrichtet, und halten jeden Fortschritts- und Entwicklungsglauben für einen gewaltsamen Unfug. Nietzsche in seinen verschiedenen Phasen muss als Vagabund gebucht werden. Die Debatte um das Ende der Geschichte wird nur knapp zum Schluss berührt, ohne dass der Name Fukuyamas fiele. Der Überblick, den ich gebe, stellt zweifellos eine unangemessene Verkürzung dar; aber es fällt dem Leser schwer, die Abgrenzungen in hinlänglich deutlicher Erinnerung zu behalten. Auch dem Autor selbst scheint das nicht leicht geworden zu sein, denn er schließt sein Buch mit einer Matrix, die den Gegenstand etwas brachial so traktiert: „Historisches sinnhaltig als I Überhistorisch: Phänomen, II Transhistorisch: Faktum, III Ahistorisch: Problem, IV Antihistorisch: Existenz” oder: „Prakt.-politische Tendenz meist I Überhistorisch: konservativ, II Transhistorisch: reaktionär, radikal, III Ahistorisch liberal, IV Antihistorisch: radikal”.
Die Matrix dient als Strohhalm, an den man sich anklammern kann, wenn man in der Fülle zu ertrinken droht. Diese dichte Fülle wird zur Gefahr des Buchs. Ein Satz wie „Aber aus dieser Tradition des Seins- und Logosdenkens war ja auch – nämlich durch J.G. Fichte – ein Modell entwickelt worden, die Übergeschichte als Geschichte apriorisch zu denken und vor dem Wissen um ihre Konfigurationen die episodische Erfahrung konkreter empirischer Gegenwart noologisch zu entmächtigen” ist gewiss weder sinnlos noch unbegreiflich; das Problem besteht vielmehr darin, dass ein ganzes Buch mit mehr als dreihundert engbedruckten Seiten sich überwiegend aus solchen Sätzen aufbaut. Nach einiger Zeit ertappt man sich dabei, wie man immitten des weglosen Ozeans solcher Lektüre auf die zahlreich eingestreuten Zitaten-Inseln lauert, die das Gemeinte meist viel klarer erkennen lassen, wenigstens soweit sie von Goethe, Schopenhauer, Nietzsche stammen oder sich doch, wie im Fall Kierkegaards, als leuchtende Rätsel empfehlen.
Was es ist mit der Geschichte auf sich hat und was sich gegen sie allenfalls einwenden ließe, das beschäftigt alle Menschen. Besteht keine Möglichkeit, die Antworten, die darauf bislang gegeben worden sind, in einer Weise darzustellen, dass sie sich ohne eine intellektuelle Anstrengung begreifen ließen, die so extrem ist, dass man sie eine geistige kaum noch nennen mag? Duldet das ernsthafte Philosophieren keine andere Sprache als diese? Es ist die Frage nach der Zukunft der Philosophie. Vielleicht müsste man dabei vom Prinzip der Vollständigkeit ein wenig abweichen, Gewichtungen setzen, die Einzelnen als Einzelne statt als Exponenten einer Denkrichtung mehr zu Wort kommen lassen. Und: Muss ein solches Buch 74 Euro kosten und sich dazu in einen so mönchisch grauen Umschlag hüllen, dass man auf Anhieb bloß das Blei sieht und die Adern aus Golderz, die es dicht durchziehen, gar nicht vermuten kann? BURKHARD MÜLLER
Jürgen Große
Kritik der Geschichte. Probleme und Formen seit 1800
Mohr Siebeck, Tübingen 2007.
352 Seiten, 74 Euro.
Duldet das ernsthafte Philosophieren keine andere Sprache als diese?
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Schwere Kost scheint Rezensent Burkhard Müller dieser systematische Darstellung von Positionen gegen den Primat der Geschichte, die Jürgen Große als Habilitationsschrift vorgelegt hat. Beeindruckt, ja fast ein wenig eingeschüchtert hat ihn die Fülle des komplexen Materials, das der Autor zusammengetragen hat. Er bewundert Großes Fleiß und Ausdauer, zahllose Autoren von Goethe, Schopenhauer, Hegel, Nietzsche über Dielthey und Ranke hin zu Sartre und Levi-Strauss und viele mehr zu analysieren, kategorisieren und zueinander in Beziehung zu setzten. Beflissen rekapituliert er die Grund- und Unterkategorien, räumt aber ein, in seiner Besprechung nur einen sehr verkürzten Überblick geben zu können. Die "dichte Fülle" des Buchs hält er auch für den großen Schwachpunkt des Buchs: selbst ein engagierter Leser verliere irgendwann den Überblick. Die Sprache des Autors macht die Sache in Müllers Augen nicht gerade leichter: höchste intellektuelle Mühen hat er auf sich genommen, um den Ausführungen zu folgen, aber irgendwann hat er sich über jedes Zitat geradezu gefreut, zumal wenn es von Goethe, Schopenhauer und Nietzsche stammte, die das Gemeinte entschieden klarer ausgedrückt hätten als der Autor selbst. Da stellt sich Müller schon die Frage: "Duldet das ernsthafte Philosophieren keine andere Sprache als diese?"

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr