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Bereits im vergangenen Jahrhundert begannen die neueren rechtsphilosophischen und strafrechtsdogmatischen Auseinandersetzungen um den rechtfertigenden Notstand. Seitdem ist der Strafrechtswissenschaft bewußt, daß dieses Rechtsinstitut stark irreguläre Züge aufweist. Worin diese Irregularität liegt, macht ein vergleichender Blick auf die Notwehrregelung deutlich.
Wer sich in einer Notlage befindet, darf zwangsweise auf Rechtsgüter eines Dritten zugreifen. Notwehr- und Notstandsrecht gestatten das. Die Eingriffsbefugnis erweist beide Regelungen als Ausnahmen vom Grundsatz des staatlichen
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Produktbeschreibung
Bereits im vergangenen Jahrhundert begannen die neueren rechtsphilosophischen und strafrechtsdogmatischen Auseinandersetzungen um den rechtfertigenden Notstand. Seitdem ist der Strafrechtswissenschaft bewußt, daß dieses Rechtsinstitut stark irreguläre Züge aufweist. Worin diese Irregularität liegt, macht ein vergleichender Blick auf die Notwehrregelung deutlich.

Wer sich in einer Notlage befindet, darf zwangsweise auf Rechtsgüter eines Dritten zugreifen. Notwehr- und Notstandsrecht gestatten das. Die Eingriffsbefugnis erweist beide Regelungen als Ausnahmen vom Grundsatz des staatlichen Gewaltmonopols.

Das staatliche Gewaltmonopol ist von zentraler Bedeutung für den modernen, den Schrecken der Anarchie und des Bürgerkriegs abgerungenen Staat. Es behält die gerechtfertigte Ausübung von Zwang prinzipiell den zuständigen staatlichen Organen vor; auf seiten der Bürger entspricht ihm eine generelle Friedenspflicht. Die Notrechte schränken den staatlichen Rechtsschutzvorrang gerade in den besonders heiklen Fällen akut zugespitzter Konflikte ein.
Autorenporträt
Prof. Dr. LL.M., ichael Pawlik, hatte den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock inne. Heute forscht und lehrt er an der Universität Regensburg Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2002

Alles, was unrecht ist
Was heißt hier Notstand? Michael Pawlik rückt den Durchwinkern mit Hegel zu Leibe

Seit 1975 enthält das deutsche Strafgesetzbuch eine Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand. Danach handelt nicht rechtswidrig, "wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden." Danach darf man zum Beispiel, wenn anders ein Menschenleben nicht zu retten ist, einen Autobesitzer zwingen, einen Schwerverletzten ins Krankenhaus zu fahren oder die Benutzung seines Autos zu diesem Zweck zu dulden, obwohl dies unabhängig von der Notsituation als Nötigung oder unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs strafbar wäre.

Die Frage, wie sich ein solches Notrecht legitimieren läßt und wie die Vorschrift im einzelnen auszulegen ist, bildet den Gegenstand der Bonner Habilitationsschrift von Michael Pawlik, der zweiten grundlegenden Monographie zum Thema, die nach dem gleichnamigen Buch von Theodor Lenckner (1965) in der Nachkriegszeit erschienen ist.

Pawlik liefert im ersten Teil seiner Arbeit eine rechtsphilosophische Begründung des Notrechts, das beispielsweise Kant noch mit dem Argument abgelehnt hatte, es könne keine Not geben, "welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte". Der Autor verwirft die heute vorherrschende Herleitung des Notrechts aus dem Utilitaritätsprinzip, wonach eine Handlung rechtmäßig ist, wenn bei Abwägung aller Umstände der gesellschaftliche Nutzen eines Verhaltens größer ist als der verursachte Schaden. Aber auch eine Rechtspflicht zur Solidarität, die aus dem verständigen Eigeninteresse des Bürgers oder aus dem Fairneßgedanken begründet wird, findet nicht seine Zustimmung.

Statt dessen gründet er das Notrecht auf eine "freiheitstheoretische" Konzeption, die er aus einer selbständigen Deutung und Weiterführung der Notstandslehre Hegels entwickelt. "Die Pflicht zur Duldung von Notstandseingriffen hat die Funktion, den Schutz gewisser fundamentaler Realbedingungen rechtlicher Freiheit auch dort zu ermöglichen, wo die organisiert-regelhafte Notbekämpfung zu spät käme. Der Notstandspflicht kommt mithin ein freiheitermöglichender Charakter zu." Auf dieser Grundlage werden dann in einem zweiten, umfangreicheren Teil des Buches die Einzelprobleme des Notstandes unter umfassender Einbeziehung der literarischen Diskussion einer das Notrecht so weit wie möglich einschränkenden Lösung zugeführt.

Das alles wird in klarer, eindringlicher Sprache auf hohem Niveau vorgetragen und kann auch von sozialphilosophisch interessierten Nichtjuristen mit Gewinn gelesen werden. Gleichwohl lassen sich gegen das Verfahren Pawliks zwei grundsätzliche Einwendungen erheben.

Erstens nämlich kann es bei der Auslegung geltender Gesetze nicht darauf ankommen, was sich aus einem richtigen Verständnis der Philosophie Hegels ableiten läßt. Entscheidend ist vielmehr, was der Gesetzgeber gewollt hat. Dieser aber ist, wie schon der Wortlaut des Gesetzes erkennen läßt, von einer umfassenden Interessenabwägung und damit von einer utilitaristischen Konzeption ausgegangen, wie sie sich in der deutschen Rechsprechung und Literatur der ersten drei Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts und auch bei den Gesetzesberatungen durchgesetzt hatte. Die bahnbrechende Entscheidung des Reichsgerichts von 1927, die den medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch aus dem Gesichtspunkt eines damals "übergesetzlichen" Notstandes rechtfertigte, beruht eindeutig auf dem Güterabwägungsprinzip.

Dies alles hat die nachfolgende Entwicklung maßgeblich beeinflußt und ist auch in das gesetzliche Regelungsprogramm eingegangen. Wenn Pawlik diesen "Urfall" des rechtfertigenden Notstandes, wie er ausdrücklich einräumt, "freiheitstheoretisch" nicht begründen kann, hätte er sich fragen müssen, ob dies nicht ein Indiz dafür ist, daß seine Konzeption sich von den gesetzgeberischen Intentionen gelöst hat. Jedenfalls hätte das Spannungsverhältnis von philosophischer Strafrechtsbegründung und gesetzestreuer Auslegung gründlicher thematisiert werden sollen.

Zweitens fragt sich, ob man, auch wenn man sich auf den Ausgangspunkt Pawliks stellt, aus den wenigen Zeilen, die Hegel dem Notstand widmet, stringente Lösungen für die zahllosen Probleme ableiten kann, die der Notstand in der Gegenwart aufwirft. Pawlik sieht das Problem und begnügt sich damit, die Vorgaben Hegels als "Leitlinien" der Interpretation zu verwenden. Auf der anderen Seite betont er aber auch, daß er weniger eine "Neuheit" der Ergebnisse als ihre philosophische Fundierung anstrebe. Wieviel "Positivität" und wieviel "Philosophie" in seinen Lösungen steckt, bleibt freilich vielfach offen.

Jedoch kommt es für ein Gesamturteil über das Werk auf meine beiden Einwände - so zentral sie sein mögen - nicht an. Denn sein größter Wert liegt in der Vielzahl, der Originalität, dem Scharfsinn und der Subtilität der Argumente, die Pawlik zur Lösung der zahlreichen umstrittenen Problemkonstellationen des rechtfertigenden Notstandes beibringt. Sie haben in vielen Fällen unabhängig von ihrem philosophischen Hintergrund Bestand, regen auch dort, wo man Zweifel hegen mag, zu weiterem Nachdenken an und werden mit Sicherheit die künftige Diskussion über den rechtfertigenden Notstand nachhaltig beeinflussen. Insgesamt: ein gutes und wichtiges Buch über ein Grundproblem der allgemeinen Straftatlehre.

CLAUS ROXIN

Michael Pawlik: "Der rechtfertigende Notstand". Zugleich ein Beitrag zum Problem strafrechtlicher Solidaritätspflichten. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 2002. 365 S., geb., 138,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Claus Roxin lobt die Habilitationsschrift zur Legitimation des strafrechtlichen Notstands und seiner Auslegung im Einzelfall insgesamt als "gutes und wichtiges Buch", wobei er darauf hinweist, dass es sich erst um die zweite Veröffentlichung zum Thema seit der Nachkriegszeit handelt. Die Ausführungen des Autors preist er für ihre "klare, eindringliche Sprache" und das "Niveau" seiner Argumentation, und er betont, dass das Buch einen "Gewinn" auch für Nichtjuristen, die sozialphilosophisch interessiert sind, darstellt. Allerdings hat er zwei inhaltliche Einwände gegen die Darlegungen des Autors. Zum einen findet er es grundsätzlich problematisch, wenn Pawlik das Notstandsgesetz an der Philosophie Hegels misst und zu dem Schluss kommt, dass es sich "freiheitstheoretisch" nicht absichern lässt. Auf jeden Fall hätte der Autor dieses Problem "gründlicher thematisieren" sollen, kritisiert Roxin. Zum anderen hat er zu bemängeln, dass Pawlik aus den "wenigen Zeilen" zu dem Thema bei Hegel für "zahllose" Einzelfälle Lösungen abzuleiten versucht. Und trotzdem kommt der Rezensent am Ende zu dem Urteil, dass diese Einwände grundsätzlich den Wert des Buches, das er für seine "Originalität, den Scharfsinn und die Subtilität der Argumente" preist, nicht schmälern und die "künftige Diskussion" zum Thema nur befruchten können.

© Perlentaucher Medien GmbH
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