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Das als Einführung für Studierende und Lehrende konzipierte Buch vermittelt und diskutiert die Grundlagen der Theorie der Rationalität, ihre zentralen Begriffe und Methoden;zugleich werden wichtige philosophische Anwendungsmöglichkeiten vorgeführt.
Die Autoren zeigen, daß die Theorie rationaler Wahl nicht nur für die praktische Philosophie, sondern auch für die ökonomischen Disziplinen, für weite Be-reiche der praktischen Philosophie, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Jurisprudenz sowie der Evolutions- und Sozialbiologie eine wichtige Rolle spielt.

Produktbeschreibung
Das als Einführung für Studierende und Lehrende konzipierte Buch vermittelt und diskutiert die Grundlagen der Theorie der Rationalität, ihre zentralen Begriffe und Methoden;zugleich werden wichtige philosophische Anwendungsmöglichkeiten vorgeführt.

Die Autoren zeigen, daß die Theorie rationaler Wahl nicht nur für die praktische Philosophie, sondern auch für die ökonomischen Disziplinen, für weite Be-reiche der praktischen Philosophie, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Jurisprudenz sowie der Evolutions- und Sozialbiologie eine wichtige Rolle spielt.

Autorenporträt
Julian Nida-Rümelin studierte Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft in München und Tübingen, lehrte Philosophie und politische Theorie in München, Minneapolis, Tübingen, Brügge, Göttingen und Berlin (1993-2003 o. Professor für Philosophie an der Universität Göttingen, seit 2004 Ordinarius für politische Theorie und Philosophie an der Universität München) und war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Am Ende steht die Tat
Was ein deutscher Philosoph schreibt, ist wahr: Julian Nida-Rümelin wird als Bundeskulturbeauftragter seine Theorie praktisch werden lassen / Von Christian Geyer

Vorbei die Zeiten, in denen die Antwort auf die Frage nach der praktischen Wirksamkeit der Philosophie noch lautete: Nichts ist praktischer als die Theorie selbst. Heute gewinnt die philosophische Theorie praktische Bedeutung nur noch in Gestalt der sogenannten praktischen Philosophie, als deren Vertreter sich auch der designierte Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin versteht, wenn er in seinem neuen Buch nach der "Rationalität in der praktischen Philosophie" fragt. Tatsächlich will Nida-Rümelin in Berlin nicht nur für kulturpolitische Zufälligkeiten wie den "Mozart-Pfennig" für die Kunst eintreten, sondern, wie er in Interviews jetzt bekanntgab, sein neues Amt dezidiert im Sinne einer Herrschaft der Philosophie ausbauen. Es wundert insoweit auch nicht, daß er - noch vor dem Mozart-Pfennig - als allererstes den Auszug des Kulturstaatsministers aus dem Kanzleramt und den Einzug in ein eigenes Ministerium-Arkanum gefordert hat.

Nida-Rümelin wird nicht verhindern können, daß eine solche Forderung zunächst einmal das etablierte Vorurteil stützt, wonach die praktische Philosophie als eine Sphäre des Wissens gilt, in welcher der Geist in Klarsichthüllen zur Wiedervorlage kommt, in der man jedenfalls vergeblich nach dem besten, dem anarchistischen Erbteil der Philosophie fahndet: doch gerade nicht festgestelltes Denken zu sein. In der praktisch auftretenden Spielart der Philosophie werden vielmehr jene Sinnstifter vermutet, die Übersicht über sich und ihre Lebenswelt reklamieren, die Streber der Zunft gewissermaßen, die einer irgendwie geistfremden Ordentlichkeit frönen und mit rücksichtsloser Kleinteiligkeit ihre normativen Phantasien ausbreiten.

Diese enthemmte Lust am Normativen ist denn auch in der Tat das eigentlich Bestürzende an vielen Protagonisten der praktischen Philosophie. Die Einengung des Gedankens auf Ethik und Moral, wie wir sie in weiten Teilen dieser Zunft kennenlernen, hat etwas zutiefst Entmutigendes und ist gar geeignet, dem Denken überhaupt mit Mißtrauen zu begegnen. Denn wird hier nicht allzuoft so getan, als lasse sich aus den kümmerlich-partikularen Lebenserfahrungen, um die man nun einmal nicht herumkommt, etwas Verläßliches ableiten über die Natur von Mensch und Ding? Das Großsprecherische, das in manchen Manifesten der praktischen Philosophie so unangenehm berührt, zwingt zu einem ewigen Hochrechnen der Erfahrung auf das Ganze des Weltgeschehens und macht so alles geheimnislos. Zunichte mithin die Hoffnung, der Mensch könne mehr und anderes sein als die Summe seiner Erfahrungen. Ob es sich um das rechte Wirtschaften, das rechte Fortpflanzen oder das rechte Sterben handelt: Der praktische Philosoph weiß immer schon Bescheid und ist sich keiner Indiskretion zu schade, um den ihres metaphysischen Daches beraubten Menschen zu sagen, wo es langgeht. Das ist das wirklich Verlegenmachende an dieser Wissenschaft: daß sie mit allen Koketterien postmetaphysischen Denkens dennoch so auftritt, als bringe sie den Menschen die Gesetzestafeln vom Berge Sinai herab.

Da hat es schon etwas verwirrend Bescheidenes, wenn Nida-Rümelin die sofort geäußerten Befürchtungen, er wolle von Berlin aus Hegels sittlichen Staat wiederherstellen, mit einem harmlosen Referat von Entscheidungstheorien zu zerstreuen scheint. Es seien schon "ziemlich komplizierte Modelle", mit denen es ein Staatsminister für Kultur zu tun habe, der im politischen Tagesgeschäft aus der Philosophie lernen wolle, wiegelt er ab. Aber andererseits lasse sich nun einmal vieles aus der Entscheidungstheorie auch im Kabinett Schröder praktisch nutzbar machen, kündigt er an. Zum Beispiel habe er als Philosoph beobachtet, daß sehr häufig die Reihenfolge der Abstimmungen das Endergebnis mitbestimme. "Diesen Ablauf kann man als Politiker steuern, zum Beispiel über vorentscheidende Gremien oder auch die Richtlinienkompetenz, die ich zu den Mini-Diktaturen zähle." Den Basta-Kanzler wird all dies nicht wirklich überraschen, aber er kann sich trotzdem freuen, mit Nida-Rümelin künftig jemanden an der Seite zu haben, der die Konsens-Politik genannte Mini-Diktatur philosophisch abzusichern weiß.

Oder sollte Nida-Rümelin sich unter Schröder zu einem Thomas Morus entwickeln, zu einem als Entscheidungstheoretiker getarnten Gesinnungsethiker, der im Zweifel "lieber ein unglücklicher Sokrates als ein glückliches Schwein" (John Stuart Mill) sein will? Und ewig hallt da der erste Satz aus Nida-Rümelins vor acht Jahren bei Wolfgang Stegmüller erstellten "Kritik des Konsequentialismus" nach: "Vernünftigerweise tut man das, was die besten Folgen hat. Diese scheinbar trivial richtige These ist falsch." Wie weit, so fragt man sich kurz vor der Amtsübernahme als Kulturstaatsminister, wird ein Nida-Rümelin in der Politik wohl gehen, wenn er soeben noch die Folgen einer Handlung für nicht maßgeblich erklärt und statt dessen eintritt für die primäre Bewertung der "intrinsischen Eigenschaften" von Handlungen noch vor den sich aus ihnen ergebenden ferneren Folgen? Aus einem solchen Plädoyer ergibt sich notwendigerweise die Unbedingtheit bestimmter Unterlassungspflichten. Die Handlungspflicht unterliegt demnach immer einer Abwägung, bei der der Gedanke des geringeren Übels jenen legitimen Platz hat, den er bei der Unterlassungspflicht gerade nicht haben kann. Wird der Anti-Konsequentialist Nida-Rümelin den Schirlingsbecher trinken, den Gang zum Schafott antreten, wenn Schröder ihn zum Offenbarungseid zwingt? Oder wird er wie der Außenminister an seinem Amt kleben, wenn der Kanzler sich von irgendeiner militärischen Intervention ein zweites Mal die weltweit besten Folgen für seine Parteipolitik verspricht?

Weit wird Nida-Rümelins sympathische Opposition in dieser Frage nicht tragen, wenn er sich als letzten Anker immer wieder auf das "vortheoretische Wissen" bezieht, das man angeblich nur zu "rekonstruieren" braucht, um zu wissen, was zu tun ist respektive unter keinen Umständen getan werden darf. Gerade der Streit um den Nato-Einsatz auf dem Balkan hat gezeigt, daß ein angeblich allen gleichermaßen vor Augen liegendes vortheoretisches Wissen nicht existiert oder sich aber so gut verbirgt, daß es nicht entziffert werden kann. Denn schließlich haben Befürworter wie Gegner auf ein solches vortheoretisches Wissen gepocht, was nur zeigt, daß es sich nicht einfach im Sinne einer Evidenzvermutung gegen die Pflicht zur geduldigen, stets unter Fallibilitätsvorbehalt stehenden Argumentation ausspielen läßt.

Tatsächlich ist die praktische Philosophie ein Feld der akademischen Ehre, auf dem die zwingende Begründung genauso wie ihr Scheitern Tradition haben: Als Existenzphilosophie erklärt sie die Bedingungen einer gern auch authentisch genannten Lebensführung; als Hermeneutik untersucht sie eine über die Aneignung von Überlieferungen laufende Selbstverständigung; und als Diskurstheorie verfolgt sie die Argumentationsprozesse, mit denen die Frage nach dem guten Leben durch jene nach dem gerechten Zusammenleben ersetzt werden soll. Und doch ist eine sich praktisch nennende Philosophie alles in allem eine Sphäre, in der seit je nicht nur der große, sondern gerade auch der eilige Geist sein Auskommen hat. Nach dem Fiasko eines falschen Praktischwerdens der Philosophie im Marxismus erscheint der alte, von Kant hervorgehobene Gegensatz zwischen Schulphilosophie und Weltphilosophie nun in neuer Form: Schulphilosophen haben Zeit, Weltphilosophen stehen unter Strom. Allzu groß ist offenbar der Orientierungsbedarf, der aus dem persönlichen und gesellschaftlichen Leben tagtäglich an letztere herangetragen wird.

Unter Hochdruck reagieren praktische Weltphilosophen wie Vittorio Hösle oder Peter Koslowski denn auch auf das Bedürfnis einer vorbildlosen Moderne, aus eigener Kraft ein normatives Selbstverständnis auszubilden. Hösle legte kurz entschlossen ein zwölfhundertseitiges Buch über die Grundlagen einer politischen Ethik für das einundzwanzigste Jahrhundert vor, Koslowski hat offenbar ähnliches im Sinn, wenn er soeben den Direktorenjob seines Forschungsinstituts gegen den Status des freien Publizisten eintauschte.

Aber radikaler als Hösle und Koslowski, nämlich doch irgendwie bis an die Grenzen der Selbstverleugnung, betreibt Julian Nida-Rümelin das Geschäft der praktischen Philosophie. Weil Hegel im Medium des versöhnenden philosophischen Gedankens die unversöhnt fortbestehende gesellschaftliche Realität nur verklärt habe, will Nida-Rümelin gewissermaßen als "Partei der Tat" die Philosophie aufheben, um sie zu verwirklichen. Zu diesem Zweck hat er sich schon vor Jahren von seinem Göttinger Lehrstuhl beurlauben lassen und versuchte seitdem als Kulturreferent in München, das philosophisch Gesollte auch praktisch herbeizuführen. "In München ist in meiner Amtszeit weniger geredet und mehr entschieden worden als früher": Der Rausschmiß Dieter Dorns als Intendant der Kammerspiele war dort die eine Tat, mit der Hegels "Ohnmacht des Sollens" ein für allemal konterkariert werden sollte. Ansonsten hört man von Lichtschnüren, die der Kulturreferent zur Adventszeit als Kunst im öffentlichen Raum plazierte. Das Ideal der umwälzenden Praxis ist es auch, das Nida-Rümelin jetzt veranlaßte, Michael Naumanns Nachfolger im Amt von Schröders Kulturstaatsminister zu werden: "Wenn Schröder jemanden gewollt hätte, der nur bei Ansprachen glänzt, hätte er nicht mich gefragt. Bei meiner Arbeit in München ist deutlich geworden, daß es mir um die konkrete Realisierung von Projekten geht."

Mit dieser Projektbezogenheit des Denkens besteht Nida-Rümelin weit mehr als Hösle und Koslowski auf dem Anspruch der Vielsprachigkeit, welche die Philosophie in die Lage versetzt, in den auseinandergetretenen Vernunftmomenten der Moderne die Einheit zu wahren. Ein solches Sprach- und Diskursgrenzen überschreitendes, gleichwohl für holistische Hintergrundkontexte empfindliches Projekt war auch jenes von Nida-Rümelin unter der Überschrift "Philosophy meets politics" organisierte Gespräch zwischen Schröder und Jürgen Habermas im Mai 1998, bei dem natürlich nicht nur Habermas, sondern auch Nida-Rümelin selbst mit dem Kanzler einen Gesprächsfaden wob, der jetzt prompt wieder aufgenommen wurde, als Habermas, wie zu hören ist, für den Posten des Kulturstaatsministers abgewunken und Schröder sich daraufhin mit mehr Erfolg an Nida-Rümelin gewandt habe.

Wie um noch ein letztes Mal eine Kritik des Konsequentialismus zu veröffentlichen, bevor er selbst zum Konsequentialisten oder aber zum Märtyrer wird, legt Nida-Rümelin gemeinsam mit seinem Assistenten Thomas Schmidt nun eilig sein Rationalitäts-Buch vor. Im Vorwort wird Schmidt "herzlich für die reibungslose Zusammenarbeit" gedankt: "Es ist ganz überwiegend ihm zu verdanken, daß aus der Vielzahl von Themen und Texten, die sich in vielen Jahren meiner wissenschaftlichen Befassung mit praktischer Rationalität aufgetürmt haben, ein übersichtliches Buchmanuskript hervorgegangen ist." Gleichwohl erscheint Schmidt nicht etwa als Ghostwriter, sondern als Mitautor der aufgetürmten Summe von Nida-Rümelins entscheidungstheoretischen Überlegungen. Fürs Schreiben pflegte sich der Münchner Kulturreferent bisher "etwa vier Stunden" an Wochenenden zu nehmen - diese Zeit mußte reichen, um der demokratischen Ordnung jenes ethische Fundament zu basteln, auf dem die Republik während seiner Berliner Amtszeit dann sicher wird ausruhen können.

Nida-Rümelin glaubt nämlich "schon, daß eine demokratische Ordnung ein ethisches Fundament braucht". Denn ohne "Rücksichtnahme, Loyalität zu Institutionen und dergleichen" kann eine Demokratie nun einmal nicht funktionieren. Aus dergleichen Gründen suggeriert Nida-Rümelin, sein neues Amt zu einem Hort des Widerstands gegen das instrumentelle Rationalitätsverständnis der Politik umwandeln zu wollen. Mit einem "im Vergleich zu Naumann sicher ruhigeren, gelasseneren Stil" will er "unbequeme Entscheidungen" treffen, als ein Thomas Morus dann doch, der ein ebenso intimes Verhältnis zu den Wissenschaften wie zum Common sense unterhält und die Spezialsprachen der Expertenkulturen ebenso gut verstehen möchte wie die in der Praxis verwurzelte Umgangssprache.

Wo soll ein solcher Sprengsatz der Politik verortet werden? Weil Philosophie und Demokratie sich nicht nur historisch demselben Entstehungszusammenhang verdanken, sondern auch strukturell aufeinander angewiesen sind, hat sich Nida-Rümelin für einen multipolaren Wohnsitz entschieden: "Ich will in Berlin eine Bleibe haben wie früher bei meinen Professuren in Tübingen und Göttingen. Aber den Wohnsitz in München gebe ich nicht auf, genau wie Schröder in Hannover." Die öffentliche Wirkung philosophischen Denkens bedarf des institutionellen Schutzes der Gedanken- und Kommunikationsfreiheit, während umgekehrt ein stets gefährdeter demokratischer Diskurs auch von der Wachsamkeit und Intervention des Philosophen als öffentlichem Hüter der Rationalität abhängt. Anders als in den Zeiten Kants ist Mobilität heute der Preis, den zu zahlen hat, wer mit der Philosophie noch etwas bewirken will. Hösle und Koslowski haben es als rasende Tagungsreisende vorgemacht.

In seinem neuen Buch schreibt Nida-Rümelin sein antikonsequentialistisches Paradigma fort. Unter Berufung auf Wittgenstein und Elisabeth Anscombe und in deutlichem Kontrast zum moraltheologischen Mainstream unserer Tage plädiert er für die Strukturierung der Verantwortung im Stil der klassischen Lehre vom "ordo amoris", einer Ordnung des Wohlwollens, das sich auf ein bestimmtes individuelles oder kollektives Gegenüber richtet, nicht aber auf die Optimierung der ganzen Welt. Eine Ethik, die im Sinne des Konsequentialismus den universalen Nutzenkalkül fordert - ganz gleich, auf welche Parameter des Nutzens er auch immer bezogen wäre -, hält Nida-Rümelin für eine Überforderung und Unterforderung zugleich. Der Hypermoral im Abstrakten entspricht demnach die Demoralisierung im Konkreten. Hier folgt die Argumentation jener Robert Spaemanns, der in seiner Ethik "Glück und Wohlwollen" das Paradox des Konsequentialismus so beschrieb: "Der Konsequentialismus, der alles Einzelne mit Bezug auf das Ganze eines nicht vorstellbaren Weltprozesses relativiert, wirkt daher in konkreten Kontexten demoralisierend und trägt so zur Verschlechterung der Welt bei."

Während Spaemann jedoch aus dem substantialistischen Zug seiner Philosophie keinen Hehl macht und dem Leser die damit verbundenen Zumutungen nicht nur offenlegt, sondern bewußt abverlangt, präsentiert Nida-Rümelin einen Gaul, dem man lieber nicht ins Maul schauen soll. Er versteckt den normativen Anspruch seiner Philosophie durch den Aufweis der bloßen empirischen Möglichkeit dieses Anspruchs. Da benimmt er sich bereits als der mit den Wassern der Politik gewaschene Philosoph, der weiß, daß am Kabinettstisch nur solche Positionen durchsetzungsfähig sind, die durch eine entsprechende Statistik als mehrheitsfähig beglaubigt sind. Wie Elisabeth Noelle-Neumann auf die wertsetzende Kraft der richtigen Fragestellung setzt, so vertraut Nida-Rümelin auf die normative Kraft der Normbeschreibung und hofft zugleich, daß niemand den naturalistischen Fehlschluß bemerken möge. Wo sind die Wege zwischen Sein und Sollen schon so kurz wie in der Politik?

Freilich sind nicht Meinungsumfragen wie in Allensbach, sondern entscheidungstheoretische Analysen das Medium des Moralisten Nida-Rümelin. Da sie sich als ein "inhaltlich weitgehend neutrales Instrumentarium der praktischen Philosophie darstellen" lassen, kommt für den praktischen, um die Breitenwirksamkeit umständlicher Begründungen fürchtenden Philosophen alles auf den Nachweis an, daß sie "mit einem weiten Spektrum anthropologischer und rationalitätstheoretischer Positionen vereinbar" sind. In diesem Sinne ist es eines der systematischen Ziele dieses Buches, plausibel zu machen, daß die Interpretation der Entscheidungstheorie als eines Ansatzes, "innerhalb dessen nur konsequentialistische Handlungsgründe rekonstruiert werden können, nicht zwingend ist". Ist aber der "Blick für die typologische Vielfalt unterschiedlicher Entscheidungssituationen" erst einmal geöffnet, dann erwächst aus jener Vielfalt des Faktischen offenbar auch schon die Vielfalt des Normativen selbst - eine Abkürzung im Begründungsverfahren, die dicke Bücher überflüssig macht und es ermöglicht, die gesparte Zeit um so unbeirrter in die philosophische Praxis zu stecken.

Das Problem ist nur, daß andere sich die Zeit genommen haben, über dasselbe Thema dicke Bücher zu schreiben, deren Lektüre Nida-Rümelin manch krachendes und lachendes Einrennen offener Türen erspart haben dürfte. Um es mit dem vom Autor erläuterten Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen zu formulieren: Der subjektive Nutzen einer Einheit eines Gutes nimmt ab, je mehr Einheiten von demselben Gut bereits zur Verfügung stehen. So hat etwa Gebhard Kirchgässner schon vor zehn Jahren eine überaus kundige und verständliche Einführung über die sozialwissenschaftliche Figur des "homo oeconomicus" geschrieben, in dem just jene Modellfiguren als "Zerrbilder" des homo oeconomicus erledigt werden, deren Dekonstruktion Nida-Rümelin nun ganz im Brustton der ersten Stunde noch einmal und dabei doch erheblich schematischer glaubt vornehmen zu müssen. Im Gegensatz zur traditionellen Lehrbuchversion, so Kirchgässner, ist der "moderne" homo oeconomicus eben nicht immer und überall ein Optimierer. Daher sei das ökomomische Verhaltensmodell auch mit dem Konzept der "eingeschränkten Rationalität" vereinbar, wonach das Individuum unter den ihm zugänglichen Alternativen so lange sucht, bis es auf eine "hinreichend" akzeptable Lösung stößt und sich bei derart gesenktem Anspruchsniveau für diese dann entscheidet, auch wenn vollständige Informationen über alle relevanten Folgen einer Handlung ersichtlich noch lange nicht vorhanden sind. Man kann eben nie wissen, welche Aspekte sich als relevant für die Rationalität einer Entscheidung erweisen werden.

Hätte Nida-Rümelin die Spur solcher teilweise von ihm selbst angedeuteten relativierender Hinweise entschiedener verfolgt, wäre die entscheidungstheoretische Drohkulisse eines schrankenlosen Konsequentialismus zerbröckelt und hätte jedenfalls nicht länger als jene Folie herhalten können, die dem Autor zur Reduzierung seines Begründungsaufwands offenbar willkommen ist. Möglicherweise hätte er seine Geschichte dann zu Tode recherchiert. Nach dem konsequentialistischen Konzept des homo oeconomicus gelte es, sich in jeder Entscheidungssituation "alle möglichen Handlungssituationen zu vergegenwärtigen und ihre Konsequenzen mit Bezug auf die Nutzensumme gegeneinander abzuwägen", schreibt Nida-Rümelin. Dies laufe jedoch dem gängigen Entscheidungsverhalten von Menschen zuwider: "Personen entscheiden sich nicht nur für Einzelhandlungen, sondern auch dafür, bestimmten Regeln zu folgen (oder auch: Menschen eines bestimmten Typs sein zu wollen), ohne sich dann zu jedem Zeitpunkt zu fragen, ob sie die Nutzensumme in der Welt wirklich maximieren." Die Frage ist bloß: Gegen wen schreibt Nida-Rümelin hier an? Wer behauptet heute noch das, was er als gängige Version des homo oeconomicus unterstellt?

Vielleicht ist ja auch das Kabinett Schröder gar nicht so konsequentialistisch verkrustet, wie Nida-Rümelin erwarten mag. Gewiß ist die Politik die klassische Arena fürs strategische Handeln, aber gerade deshalb tritt in ihr die Inkonsequenz des Konsequentialisten am deutlichsten zutage. Denn Politiker, also Konsequentialisten qua Amt, hören mit der Übernahme von Verantwortung für weitreichende Folgen ja immer dezisionistisch irgendwo auf - sei es nun an den Schranken der Verfassungswerte oder jenen des Termindrucks. So gesehen fällt jedes noch so offene Optimierungskalkül irgendwann der Begrenzung des Substantiellen anheim, spätestens dann, wenn die aus ihm folgende Entscheidung in die Tat umgesetzt wird und somit weitere Handlungsalternativen schließlich genauso entfallen wie die Scheinevidenz ihrer normativen Dignität.

Julian Nida-Rümelin, Thomas Schmidt: "Rationalität in der praktischen Philosophie". Eine Einführung. Reihe Edition Philosophie. Akademie Verlag, Berlin 2000. 228 S., br., 65,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Rezensent Christian Geyer steht den Ausführungen des designierten Kulturstaatsministers und Philosophen Julian Nida-Rümelin und seines Assistenten Thomas Schmidt über die Rationalität in der praktischen Philosophie ausgesprochen kritisch gegenüber. Sehr ausführlich und mitunter selbst in einer hochkomplexen philosophischen Terminologie befangen, rezensiert er das neue Buch Nida-Rümelins nur am Rande. Ihn interessieren vielmehr die Person des Autors und dessen Anspruch, philosophischer Theorie praktische Taten in der Politik folgen zu lassen. Und da ist er skeptisch. Praktische Philosophie allein nehme bereits der Philosophie ihr Bestes: ihr anarchistisches Erbteil, eben nicht festgestelltes Denken zu sein. Sie packe komplexes Denken in Klarsichthüllen, verschreibe sich einer geistfremden Ordentlichkeit und breite mit rückhaltloser Kleinteiligkeit normative Phantasien aus. Nida-Rümelin sieht der Rezensent als einen Vertreter dieser Zunft. Verärgert ist Geyer darüber, dass der Autor selbst den Vorwurf der Orientierung am Normativen in seinen Schriften zu zerstreuen sucht. Praktische Philosophie und Politik am Kabinettstisch, da könne sich am meisten der Kanzler freuen, seine Konsens-Politik so philosophisch absichern zu lassen. Einem Philosophen im Ministeramt bleibe nur die Wahl, ein als Entscheidungstheoretiker getarnter Gesinnungsethiker zu sein oder sich zum Konsequentialismus zu bekennen - in aller Konsequenz eben, was, so Geyer, Nida-Rümelin aber mitnichten tue. Der Autor habe vielmehr "eilig" vor Amtsantritt sein "Rationalitäts-Buch" vorgelegt. Und für dieses Buch habe er sich nach eigenen Angaben vier Stunden am Wochenende Zeit genommen. Das musste reichen, "um der demokratischen Ordnung jenes ethische Fundament zu basteln, auf dem die Republik während seiner Berliner Amtszeit dann sicher wird ausruhen können", merkt Geyer ironisch an. Unmut erregen auch die Ausführungen des Autors über den homo oeconomicus. Seine Kritik an diesem Konzept ist ein alter Hut, findet der Rezensent. Und den Rückschluss des Autors auf einen Zusammenhang zwischen der Vielfalt der Entscheidungen, des Faktischen und damit auch des Normativen hält Geyer schlicht für einen Kurzschluss. Nicht ohne Grund seien allein über ein solches Begründungsverfahren in der Philosophie dicke Bücher geschrieben worden, deren Lektüre Nida-Rümelin vielleicht dazu veranlasst hätten, mutmaßt Geyer, seine eigenen Ausführungen gründlicher zu überdenken.

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