Kinderdämmerung ist Gerhard Polts szenische Bestandsaufnahme der Spezies Kind in seiner Rolle als Schädling und Nützling, Delinquent und Kostenfaktor: als Säugling angeklagt wegen "arglistiger Infantilität", als "zu erziehendes Seiendes" das größte Problem der Schule, als Benutzer einer Wohnanlage untragbar für die Nachbarn. Ein Stationendrama auch um kindliche Richter, mangelhafte Schulleistungen der Väter und mangelhafte Tennisleistungen der Kinder.
CD | |||
1 | Das Urteil | 00:03:29 | |
2 | Mangelhaft | 00:03:16 | |
3 | Beweisaufnahme | 00:03:45 | |
4 | Die Pädagogen | 00:07:03 | |
5 | Stolperschwelle | 00:05:26 | |
6 | Allergisches Leiden | 00:04:34 | |
7 | Ungenügend | 00:01:25 | |
8 | Infernalische Geräusche | 00:03:06 | |
9 | Mega Ludo | 00:03:32 | |
10 | Longline | 00:03:37 | |
11 | Sonderbegabung | 00:05:17 | |
12 | Bodenlos | 00:01:29 | |
13 | Wichel Wachel | 00:03:32 | |
14 | Anteilseigner | 00:06:11 | |
15 | Grabrede | 00:04:17 |
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.09.2003DAS HÖRBUCH
Zur Muse watschen
Bayerische Vollstreckung Gerhard Polts „Kinderdämmerung”
Wie klingt die bayerische Stimme? Urig, etwas dumpf, aber gemütlich, ein Ton wie dunkler Lodenstoff? Gerhard Polt räumt mit solchen Vorstellungen auf: Er kürzt die Vokale, kantet das R und spitzt die Zischlaute in einer Weise, dass dem eher stimmlosen Dialekt noch der letzte Resonanzboden wegbleibt.
Polt ist ein Meister des verschärften Hochbayerisch, und er leiht es jenen, die schon durchgestartet sind nach „Bayern 3000”. Den Yuppies, Lehrern und Eltern, die ihre Sprosse, die eigentlich Zukünftigen, fürsorglich am Spalier ziehen und alle wilden Seitentriebe stutzen.
„Kinderdämmerung” hieß Polts Programm von 1994, jetzt wieder zu hören in fünfzehn Wegstationen eines radikalen Infantilitätsexorzismus. Nur Anfangs darf ein Baby noch unartikuliert mucken, dann übernehmen die Erziehungsvollstrecker das Wort, welches die Grabrede auf einen Schülerselbstmord – eine Zeugnisverlesung – beschließt. In herrlich deftigen Dramen der unbegabten Eltern geben Gerhard Polt und die kongeniale Gisela Schneeberger bayerisch dynamische Erzieher, die ihre Tochter zur Muse watschen oder Anteile auf Söhnleins Tenniskarriere in spe verkaufen. Dergleichen könnte zwar überall stattfinden, aber gerade der realistische Lokalton des für Familien bald unerschwinglichen Großraums München macht die Szenen exemplarisch. Der kindheitsmordende Fortschritt kommt im krachledernem Dialekt deshalb so effektvoll daher, weil er die Aporie von Laptop und Lederhosn darstellt, den Tribut der bayerischen Theodizee von High-Tech-Zukunft und konservativem Familienidyll. In der hinterfotzigen Naivität von Schneebergers Karrieremutter, in Polts Sekunden-Entwicklung vom pfundigen Papa zum gscherten Verbalwildschützen hört man, wie das weiß-blaue Tapetenimage mit einem bitterbösen, vergnüglichen und sehr echtem Geräusch zerreißt.
WILHELM TRAPP
GERHARD POLT: Kinderdämmerung. Mit Gerhard Polt u. a. Kein & Aber Records, Zürich 2003. 1 CD, 60 Minuten, 16,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Zur Muse watschen
Bayerische Vollstreckung Gerhard Polts „Kinderdämmerung”
Wie klingt die bayerische Stimme? Urig, etwas dumpf, aber gemütlich, ein Ton wie dunkler Lodenstoff? Gerhard Polt räumt mit solchen Vorstellungen auf: Er kürzt die Vokale, kantet das R und spitzt die Zischlaute in einer Weise, dass dem eher stimmlosen Dialekt noch der letzte Resonanzboden wegbleibt.
Polt ist ein Meister des verschärften Hochbayerisch, und er leiht es jenen, die schon durchgestartet sind nach „Bayern 3000”. Den Yuppies, Lehrern und Eltern, die ihre Sprosse, die eigentlich Zukünftigen, fürsorglich am Spalier ziehen und alle wilden Seitentriebe stutzen.
„Kinderdämmerung” hieß Polts Programm von 1994, jetzt wieder zu hören in fünfzehn Wegstationen eines radikalen Infantilitätsexorzismus. Nur Anfangs darf ein Baby noch unartikuliert mucken, dann übernehmen die Erziehungsvollstrecker das Wort, welches die Grabrede auf einen Schülerselbstmord – eine Zeugnisverlesung – beschließt. In herrlich deftigen Dramen der unbegabten Eltern geben Gerhard Polt und die kongeniale Gisela Schneeberger bayerisch dynamische Erzieher, die ihre Tochter zur Muse watschen oder Anteile auf Söhnleins Tenniskarriere in spe verkaufen. Dergleichen könnte zwar überall stattfinden, aber gerade der realistische Lokalton des für Familien bald unerschwinglichen Großraums München macht die Szenen exemplarisch. Der kindheitsmordende Fortschritt kommt im krachledernem Dialekt deshalb so effektvoll daher, weil er die Aporie von Laptop und Lederhosn darstellt, den Tribut der bayerischen Theodizee von High-Tech-Zukunft und konservativem Familienidyll. In der hinterfotzigen Naivität von Schneebergers Karrieremutter, in Polts Sekunden-Entwicklung vom pfundigen Papa zum gscherten Verbalwildschützen hört man, wie das weiß-blaue Tapetenimage mit einem bitterbösen, vergnüglichen und sehr echtem Geräusch zerreißt.
WILHELM TRAPP
GERHARD POLT: Kinderdämmerung. Mit Gerhard Polt u. a. Kein & Aber Records, Zürich 2003. 1 CD, 60 Minuten, 16,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nach Ansicht des Rezensenten Wilhelm Trapp funktioniert der Kommentar, den Gerhard Polt sich 1994 zum modernen Bayern und seinen Familienstrukturen ausgedacht hat, nach wie vor richtig gut. Seine Sprechstil nehme das Gemütliche raus aus der bayrischen Mundart, und das ist dem Thema durchaus angemessen - auch wenn sich die Dramen mit den überehrgeizigen und inkompetenten Eltern natürlich grundsätzlich überall abspielen können. "Der kindheitsmordende Fortschritt kommt im krachledernen Dialekt deshalb so effektvoll daher, weil er die Aporie von Laptob und Lederhosn darstellt, den Tribut der bayerischen Theodizee von High-Tech-Zukunft und Familienidyll." Letzteres zerreißt nach Meinung des Rezensenten allerdings mit einem "sehr echten Geräusch" und das Zuhören macht ihm richtig Spaß.
© Perlentaucher Medien GmbH
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