Produktdetails
  • Friedenauer Presse Drucke
  • Verlag: Friedenauer Presse
  • Seitenzahl: 28
  • Deutsch
  • Abmessung: 5mm x 170mm x 248mm
  • Gewicht: 107g
  • ISBN-13: 9783932109423
  • ISBN-10: 3932109422
  • Artikelnr.: 13245498
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.03.2005

Wie man Kühe zum Fliegen bringt
Alberto Savinios wunderbarer Essay „Jules Verne”
Verächter der Dummheit gibt es wie Sand am Meer, unter ihnen nicht wenige Genies, von denen manche sich dummerweise verleiten lassen, den Kampf mit ihr aufzunehmen und diesem aussichtslosen Unterfangen am Ende das eigene Werk aufzuopfern wie Gustave Flaubert. Zur seltenen Spezies derjenigen, die den Genies Dummheit und der Dummheit Genie zutrauen, gehörte der italienische Schriftsteller, Essayist, Maler, Komponist, Regisseur und Bühnenbildner Alberto Savinio (1891-1952), der Bruder des Malers Giorgio de Chirico.
In seiner schmalen, kaum fünfzehn Druckseite umfassenden Skizze „Jules Verne”, halb Erzählung, halb biographischer Essay, umreißt Alberto Savinio in wenigen Sätzen einen Typus des Genies, der demjenigen Flauberts entgegengesetzt ist: „Für die wunderbare Seereise, in deren Verlauf hundertvier gebundene und von Riou, Bennett, Bayard und Neuville illustrierte Werke aus den Tiefen der Weltmeere zur Helle der Nordlichter emporsteigen werden, ist Jules Verne mit allem ausgerüstet: selbst mit dem notwendigen Block Dummheit, der für einen so kraftvollen Künstler dasselbe ist wie der Ballast für ein Schiff. Verne kennt keinen Zweifel. Die Introspektion nagt nicht an ihm. Er ist ein einfaches Genie mit einem Sinn fürs Praktische. Ein Giuseppe Verdi der Geographie. Aber wie zur See fahren, wenn man sich nicht mit der Einsamkeit der Meere umgibt?”
Savinio betrachtet die bärtigen Helden des 19. Jahrhunderts mit spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln. Von der triumphierenden Maschinengläubigkeit und den mythologischen Maskeraden, die über den Dampfhämmern und Kolben der Industrie die Wolke Jupiters schweben lassen, spricht er als ein Atheist des Fortschrittsglaubens. Amüsiert notiert er die Kernsprüche Jules Vernes, „die wie stählerne Säulen den Geist dieses Apostels der Entdeckung, dieses Mazzini der Landkarten, dieses Verfechters des Esperanto tragen”. Die „humanitäre Mission” Vernes, seinen Tribut an den Idealismus der bürgerlichen Seele seiner Zeit, fasst er in eine Salonsottise: „Die Mode des Humanitären blies ihn auf wie einen Ballon.” Aber weder den blinden Glauben an den Menschen noch den Glauben an die Majestät der Wissenschaft nimm Savinio seinem Helden übel. Daran, dass dieser Abkömmling von Justizbeamten ein wahrer Held der epischen Welt ist, lässt er keinen Zweifel: „Was der Tollkühne im Sinn hat, übersteigt das Vorhaben Balzacs, Homers und Dantes: es ist ein Spaziergang durch den Kosmos, nichts weniger.”
Alberto Savinio war ein ausschweifender, treuer Leser Jules Vernes. Nicht nur wegen der Eleganz seiner Konstruktionen, sondern vor allem, weil in den Romanen Vernes die Dinge und Menschen so häufig ins Schweben geraten, weil sie der Schwerkraft und der Zeit ein Schnippchen schlagen. Wem, wenn nicht Jules Verne passt Savinios Definition des Dichters wie angegossen? „Er bringt die Kühe zum Fliegen.” Der Satz steht in Savinios Buch über Guy de Maupassant. Der Essay über Jules Verne ist das heitere Gegenstück zu diesem dunklen Buch über und vor allem gegen Maupassant, in dem der Schüler Flauberts als Inbegriff des Künstlers erscheint, der sich nie vom Boden erhebt, der in die Materie seiner Kunst eingeschlossen ist.
Das Buch Savinios, dem der erstmals ins Deutsche übersetzte (und mustergültig kommentierte) „Jules Verne” entnommen ist, hieß „Narrate, uomini, la vostra storia” („Erzählt, ihr Menschen, eure Geschichte”). Es kam 1942 heraus und enthielt biographische Essays unterschiedlicher Länge, darunter über Nostradamus, Arnold Böcklin, Antonio Stradivari, Giuseppe Verdi, Carlo Collodi und Isadora Duncan. „Gleich Isidore Ducasse und Marcel Proust war Verne Musiknarr”, schreibt Savinio nicht nur, um den Rang anzudeuten, den er Verne zumisst. Die unterseeischen Improvisationen von Kapitän Nemo und die Wagnerschen Klänge im australischen Urwald aus „Die Kinder des Kapitän Grant” wehen als Echo durch seinen Essay.
An dessen Ende entbietet Albert Savinio Jules Verne den Abschiedsgruß der nachfolgenden Generationen nicht allein. Er hat sich den Dichter an die Seite geholt, der ihm den Weg aus dem 19. Jahrhundert an die Seite der literarischen und malerischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts gewiesen hatte: Guillaume Apollinaire.
LOTHAR MÜLLER
ALBERTO SAVINIO: Jules Verne. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Richard Schroetter. Friedenauer Presse, Berlin 2005. 32 Seiten, 9,50 Euro.
Jules Verne (8. Februar 1828 - 24. März 1905)
Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2005

Himmel und Hintern
Hemdsüchtig: Alberto Savinios schräger Blick auf Jules Verne

Bei einem Diner im Januar 1910 sticht dem Autor ein Hemd in die Augen: gestärkte Brust wie Grabsteinmarmor, darauf reliefartige Blumenmuster, absurd, unzeitgemäß! Ein Kunstmaler trägt es, und er hat es von seinem Onkel geerbt. Dieser Onkel aber war niemand anders als der fünf Jahre zuvor verstorbene Jules Verne.

Das Stichwort "Hemd" würde in Alberto Savinios soeben neu aufgelegtem "Mein privates Lexikon" (F.A.Z. vom 16. März) irgendwo zwischen "Händedruck" und "Hitler" auftauchen und reichen Anlaß für Savinios assoziative Kulturpsychologie bieten. Savinio springt ja gerne auf der Diagonale zwischen Zeiten und Zitaten, zwischen Poesie und Politik, und neben seiner Geschichte des Bartes oder der Stöckelschuhe würde sich eine Geschichte des Hemdes ebenfalls bestens machen.

Im vorliegenden, erstmals auf deutsch übersetzten Essay aber dient das auffällige Kleidungsstück als Überleitung in die Ambivalenzen eines Erfolgsschriftstellers. Wie die endlose Liane in "800 Meilen auf dem Amazonas" dient es ihm als Wegweiser über die Zeiten hinweg. Jules Verne nämlich war hemdensüchtig. Savinio wird es von Vernes hemdtragendem Neffen Pierre Roy erfahren haben, der ihm zu so manchem biographischen Detail verhalf. Savinio (eigentlich Andrea de Chirico), der Bruder des Surrealisten Giorgio de Chirico, macht ausgiebigen Gebrauch von Anekdoten, um ungewohnt schräge Lichter auf den großen Autor, den bärenhaften Inbegriff des neunzehnten Jahrhunderts, zu werfen. So berichtet der Neffe von einem Besuch des Vaters der Science-fiction im Vatikan: "Als mein Onkel von der Audienz bei Leo XIII. kam, heulte er wie ein Schloßhund."

Für Savinio ist der konservative Utopist der Begründer der "Kolbenmythologie", der von der "Mode des Humanitären" aufgeblasen wird wie ein Ballon. Getrieben von seinem Verleger Hetzel, der "Etzel" auszusprechen ist, einem wahren Attila also, fabriziert Jules Verne Jahr für Jahr zwei rot-goldene Werke, die er "als Nikolaus für die Kinderwelt beider Hemisphären" auf den Gabentisch legt. Er ist der Verdi der Geographie, bei dem noch aus dem Dschungel Opernmusik ertönt. Die Wissenschaft läßt Savinio als Bibelverkäuferin der Heilsarmee auftreten, bewaffnet mit Meßgeräten und Gläsern. Dem jungen Jules Verne verscheucht sie den Unsinn und die Frivolität seiner jugendlichen Theaterproduktionen. Der Erfinder abenteuerlicher Seefahrten legt sich selbst ein Schiff zu, doch liegt er meist bäuchlings auf Deck. Seine Frau wirft ihm vor, er könne den Himmel wohl nicht anders anschauen als mit seinem Hintern. "Sie wußte nicht", schreibt Savinio, "daß man zum höchsten Zweck der Poesie den Himmel eben gerade mit dem Hintern anschauen muß."

Alberto Savinio, der selbst als Schriftsteller, Maler und Komponist tätig war, kennt die Ambivalenz aller Kunst. Er weiß etwa, daß ein kraftvoller Künstler auch den notwendigen Block Dummheit braucht, der dasselbe ist wie der Ballast für ein Schiff. Die Charakterskizze über Verne erschien 1942 in einem Band mit weiteren Porträts. Es ist alles zwei- und mehrschneidig in diesem blitzenden Essay, der weder mit surrealen Bildern noch Kalauern spart. Jules Verne wird hier mit Schere und Klebstoff neu zusammengesetzt zu einer Figur, die dem Surrealismus Spaß macht, eine Collage in der Art eines Max Ernst.

Im Nachwort stellt sich der Herausgeber Richard Schroetter schützend vor Savinio. Gegebenenfalls beleidigte Vernianer werden den Spott überleben und vielleicht eines Tages dankbar sein für die surreale Schräglage dieses Monuments, vielleicht die einzige Art, ihn als Erwachsener im 21. Jahrhundert zu lesen. Apollinaire und andere haben dies frühzeitig erkannt. Natürlich ist der Essay eine Abrechnung mit dem neunzehnten Jahrhundert, mit seinen Denkmälern und Hemdkrägen. Wohl auch mit dem eigenen Vater, der einiges mit dem Franzosen gemeinsam hatte. Der Essay wäre damit zugleich eine Art Brief an den Vater. Aber er ist eben nicht nur Abrechnung, sondern zeigt auch, um wieviel mehr Verne und das neunzehnte Jahrhundert inspirieren können, wenn man ihnen groteske Abgründe zugesteht.

Die Liebe des misogynen Verne, schreibt Savinio, gehörte dem Meer. Hier wird er weiter die Welt umkreisen, als Kapitän Nemo, als unterseeischer Rebell und Enttäuschter. Da wundert es nicht, daß Savinio selbst eines Tages einen Brief aus dem Meer erhielt. Er kam von einem U-Boot-Kapitän aus der Adria, der einen Kommentar zu Savinios Zeitungsartikeln abgeben wollte. Seine Adresse wollte der Absender aus strategischen Gründen allerdings nicht angeben. Im Gegensatz dazu hat Jules Verne, wohl ebenfalls aus strategischen Gründen, viele Adressen hinterlassen. Einige davon hat nun Alberto Savinio für uns ausgemacht.

ELMAR SCHENKEL

Alberto Savinio: "Jules Verne". Aus dem Italienischen übersetzt von Marianne Schneider. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Richard Schroetter. Friedenauer Presse, Berlin 2005. 32 S., br., 9,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Alberto Savinio, der 1952 verstorbene Bruder des Malers Giorgio de Chiricio, war ein "treuer Leser" Jules Vernes, stellt Lothar Müller fest. Der vorliegende Essay ist einem Buch des Autors mit verschiedenen biografischen Texten über Künstler, Schriftsteller und Musiker entnommen, das bereits 1942 erschien und jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, freut sich der Rezensent. Als "Atheist des Fortschrittglaubens" ist Savinios Blick auf Jules Verne durchaus "spöttisch", ohne allerdings in Zweifel zu ziehen, dass es sich bei dem Schriftsteller um einen "wahren Helden der epischen Welt" dreht, so Müller eingenommen. Er lobt ausdrücklich den "mustergültig kommentierten" Band, in dem er als "heiteres Gegenstück" zu einem anderen Essay Savinios über Guy de Maupassant erblickt.

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