Marktplatzangebote
12 Angebote ab € 3,89 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Am Beispiel des Schicksals seiner eigenen Familie schildert Geert Mak die Geschichte der Niederlande des zwanzigsten Jahrhunderts. Er beschreibt das Landleben um 1900, den Ersten Weltkrieg, die Not und Entbehrungen, die Zwischenkriegszeit, die Zerstörung Rotterdams, die deutsche Besetzung 1940, schließlich den Aufstieg der Niederlande zu einem Musterland Europas. Geert Mak erzählt von der Lust und Last, den Träumen und Hoffnungen einfacher Leute und vermittelt so einen äußerst lebendigen Eindruck von den großen historischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Produktbeschreibung
Am Beispiel des Schicksals seiner eigenen Familie schildert Geert Mak die Geschichte der Niederlande des zwanzigsten Jahrhunderts. Er beschreibt das Landleben um 1900, den Ersten Weltkrieg, die Not und Entbehrungen, die Zwischenkriegszeit, die Zerstörung Rotterdams, die deutsche Besetzung 1940, schließlich den Aufstieg der Niederlande zu einem Musterland Europas. Geert Mak erzählt von der Lust und Last, den Träumen und Hoffnungen einfacher Leute und vermittelt so einen äußerst lebendigen Eindruck von den großen historischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Autorenporträt
Geert Mak, geboren 1946, war viele Jahre Redakteur des "NRC Handelsblad". Er ist einer der bekanntesten Publizisten der Niederlande und gehört nach mehreren Bestsellern zu den wichtigsten Sachbuchautoren des Landes. 2008 wurde Geert Mak mit dem "Leipziger Buchpreis" zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Familie Mak auf Ferienfahrt
Doch überall lauerten schon die Katastrophen der Geschichte: Geert Mak macht die Biographie seines Vaters zur niederländischen Jahrhunderterzählung / Von Andreas Platthaus

Es ist ein schöner Zufall, daß in diesem Herbst zwei historische Bücher erscheinen, die formal unterschiedlicher nicht gedacht werden können und doch - wenn auch für zwei Staaten - das gleiche Ziel verfolgen. Hans-Ulrich Wehler setzt seine "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" für die Jahre von 1914 bis 1949 fort (deren Rezension auf Seite 45 dieser Literaturbeilage zu finden ist), und Geert Mak beschreibt "Das Jahrhundert meines Vaters" in einer Studie, die zum Untertitel haben könnte: "Niederländische Gesellschaftsgeschichte 1899 bis 1999". Die entscheidende Differenz von Mak, für dessen Buch gewiß auch Wehlers Selbsteinschätzung gelten darf, daß hier "unter neuartigen, jedenfalls manchem ungewohnten Gesichtspunkten eine Synthese" gewagt worden ist, bezeichnet ein Satz, der den Stil des "Jahrhunderts meines Vaters" bündig zusammenfaßt: "Oft fühle ich mich beim Schreiben wie ein Junge, der eine Theateraufführung erlebt und der Versuchung nicht widerstehen kann, seinen Helden zuzurufen: ,Paß auf, hinter dir!'"

Diese Helden sind vor allem die Eltern von Geert Mak (das Buch hätte besser "Das Jahrhundert meiner Eltern" geheißen, denn Geertje Mak, geborene van der Molen, spielt darin keine kleinere Rolle als ihr Mann Catrinus), aber auch dessen Geschwister, während der Autor selbst nur beiläufig Erwähnung findet. Denn Geert Mak wurde erst 1946 geboren, als das abenteuerliche Schicksal seiner Familie gerade endete. Der Vater war 1928 als Pfarrer an die orthodox-kalvinistische Gemeinde von Medan auf Sumatra berufen worden. Niederländisch-Indien, das heutige Indonesien, aber sollte 1942 von den Japanern erobert werden, und das Ehepaar Mak kam in Gefangenschaft. Catrinus wurde zum Bau der berüchtigten Birma-Eisenbahn verschleppt, Geertje mit den beiden kleinen Kindern Tineke und Hans in mehreren Lagern auf Sumatra interniert. In den mehr als drei Jahren ihrer Gefangenschaft entgingen die vier Maks - die älteste Tochter Anna und der Sohn Cas befanden sich zu Beginn des Pazifikkriegs zur Schulausbildung in den Niederlanden - nur knapp dem Tod durch Krankheit oder Hunger.

An Dramatik sind solche Schilderungen schwer zu überbieten, und Mak verfügt über das Talent, die Stimmen seiner Eltern oder Geschwister, wie er sie zeit seines Lebens vernommen haben muß, mit eigenen Ausführungen zu mischen. Daß sein Vater 1899 zur Welt kam, als die Niederlande eine im europäischen Maßstab eher traditionelle Gesellschaft waren, wo man einem alten Holländer noch Wind für seine Windmühlen verkaufen konnte, ermöglicht es, die Geschichte eines Umbruchs zu erzählen, die zwar nicht, wie der Titel verheißt, ein ganzes Jahrhundert umfaßt - Catrinus Mak starb 1983 -, aber uns immerhin bis an den Rand der Gegenwart führt - gesellschaftlich wie chronologisch.

Warum der Siedler Verlag sich vier Jahre Zeit für die deutsche Ausgabe gelassen hat, obwohl die Zäsur der Jahrhundertwende die Konstruktion des Buchs prägt, bleibt rätselhaft (übrigens auch, warum er dem Band keine Bilder aus dem Makschen Familienarchiv beigab). Die lange Dauer wird um so unverständlicher, wenn man bedenkt, daß gleich zwei Übersetzer mit dem Werk befaßt waren und der Vorgängerband "Wie Gott verschwand aus Jorwed" (F.A.Z. vom 23. März 1999) hierzulande begeistert aufgenommen worden ist. In diesem Buch hatte Mak am Beispiel eines Dorfs in seiner Heimat den Wandel im Übergang von bäuerlichen Kleinbetrieben zu industriell organisierter Landwirtschaft beschrieben - auch dies schon eine Jahrhundertgeschichte. Sein Buchdebüt war 1994 eine Stadtgeschichte Amsterdams, die sich der gesamten Neuzeit widmete. So hat Mak seine Perspektive immer weiter verengt: von der Metropole eines halben Jahrtausends über das Dorf in der Moderne hin zur individuellen Familie im zwanzigsten Jahrhundert.

Geschadet hat diese Verengung der Perspektive seinem Schreiben keineswegs. "Das Jahrhundert meines Vaters" wurde in den Niederlanden mehr als eine halbe Million Mal verkauft. Dieser beispiellose Erfolg hat einen einfachen Grund: Das Buch hat einen weit höheren Anspruch, als lediglich den familiären Erinnerungs- und Anekdotenschatz der Maks aufzubereiten. Allein schon der beiläufige Vergleich der Sterblichkeitsraten in japanischen Internierungslagern während des Zweiten Weltkriegs mit jenen der Kulis auf den niederländischen Plantagen in Indonesien zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist für eine Nation denkbar provokant, die sich nach 1945 als Opfer verstand und die eigene moralische Position zunächst für unangefochten hielt. Prozentual starben binnen dreieinhalb Jahren japanischer Besatzung in deren Lagern weniger Europäer als vierzig Jahre zuvor im gleichen Zeitraum asiatische Arbeitskräfte unter holländischer Regie.

Die Erörterung der moralischen Rechtfertigung niederländischen Überlegenheitsgefühls stellt einen nicht unerheblichen Teil von Maks Buch dar. Ihre Basis ist die Analyse der holländischen Religiosität. Durch des Vaters theologische Ausbildung und dessen Berufsweg hat Mak reichlich Gelegenheit, die komplizierte religiöse Situation in unserem Nachbarstaat darzustellen, denn die Risse zwischen der auf staatliches Geheiß 1816 begründeten protestantischen Reformierten Kirche und den zahlreichen Abspaltungen im neunzehnten Jahrhundert, die sich schließlich 1892 zur orthodox-kalvinistischen Gegenreformierten Kirche zusammenschlossen, zogen sich bis in die Familie Mak hinein. Geerts Großmutter hatte sich gegen ihren Mann und den größten Teil der Verwandtschaft den Abspaltern angeschlossen und davon auch die meisten ihrer Kinder überzeugt. Deshalb studierte Catrinus in den zwanziger Jahren an der eigens von den Orthodoxen gegründeten Freien Universität von Amsterdam, wo er mit den fortschrittlichsten, aber auch unbequemsten Theologen jener Jahre zusammenkam. Wie damals neue Abspaltungen entstanden, darüber tiefe Freundschaften und theologische Allianzen zerbrachen, und das durch scholastisch anmutende Debatten über Fragen wie die Möglichkeit, daß die Schlange im Paradies gar nicht habe sprechen können - das stellt Mak am Beispiel der Erlebnisse seines Vaters und von dessen Freunden brillant dar.

Dabei schont er seinen Vater nicht. Diese Unabhängigkeit bei aller Liebe zur Familie zeichnet das gesamte Buch aus. Sie resultiert daraus, daß Geert Mak in einer Epoche aufwuchs, in der die Sicherheiten der Zwischen- und unmittelbaren Nachkriegszeit schwanden und die Jugend sich von den religiösen Werten der Vergangenheit löste. Geert Mak engagierte sich politisch auf der extremen Linken und schlug eine besonders radikale Kehrtwende gegenüber der Familientradition ein. Gleichzeitig schärften die innerfamiliären Differenzen seinen Blick für die Konflikte zwischen Tradition und Moderne, kollektiven Idealen und individualistischer Lebensführung, links und rechts, die die Niederlande mehr erschütterten als ihre Nachbarn, weil das holländische Staatsmodell vor dem Zweiten Weltkrieg nie in Frage gestellt worden war. Es ist deshalb nur konsequent, daß die Jahre von 1940, als in der Nacht vom 9. auf den 10. Mai die Wehrmacht ohne Ultimatum oder gar Kriegserklärung in die Niederlande einmarschierte, bis zum Sommer 1945, als auch die Kolonien in Ostindien wieder in holländischer Hand waren, fast ein Drittel von Maks Buch ausmachen.

Zuvor kannte man in seiner Heimat Krieg, so Mak, "nur vom Hörensagen, aus zehnter Hand". Die von den militärischen wie politischen Desillusionierungen der Jahre von 1914 bis 1918 geprägte junge Generation Europas gab es in den Niederlanden nicht, und deshalb dauerte es länger, bis auch dort die Institutionen in Frage gestellt wurden: "Das ohnehin schon kurze zwanzigste Jahrhundert", pointiert Mak mit Hobsbawm, "wurde hier noch kürzer."

Nach dem Krieg aber mußten die Niederländer mit Schrecken feststellen, daß in keinem anderen besetzten Land mit der Ausnahme Polens ein so großer Anteil der jüdischen Bürger deportiert und ermordet worden war. Hitler hatte über die Niederlande kein Militärregiment verhängt, weil er in deren germanischer Bevölkerung natürliche Verbündete sah. Und an Effizienz beim Zuarbeiten zur "Endlösung" standen die Holländer den Deutschen nicht nach. Für Mak ist diese Feststellung zentral, denn er erkennt keine zeitgenössische Tendenz zum Antisemitismus in den Niederlanden. Dadurch wird für ihn die Schoa zu einem ideologiefreien Verbrechen, das allein eine Frage von teilnahmsloser Disziplin und bürokratischer Durchführung war. Daß solche zentralen Fragen der Historiographie en passant gestellt und aus den Erlebnissen einer Familie auch plausibel beantwortet werden können, ist das Beeindruckende an diesem Buch. Durch den Aufenthalt seiner zwei Geschwister in der besetzten Heimat hat Mak die Mittel zur Darstellung jener Ereignisse parat. Wäre die gesamte Familie in Asien interniert gewesen, dürfte das Schicksal der Maks nicht mehr als exemplarisch für die Niederlande des zwanzigsten Jahrhunderts gelten. Zynisch hätte Mak dann auch für die Seinen anführen können, was er über seine Landsleute in der Zwischenkriegszeit sagt: "Im Allgemeinen kann man die meisten Niederländer mit Kindern vergleichen, die gerade in Ferien waren, als eine schreckliche Katastrophe - Erdbeben, Tod, Feuer - ihre Familie traf. Solche Kinder durften sich glücklich preisen, denn das Schicksal hatte sie ja verschont, doch zugleich hatten sie eine alles bestimmende Erfahrung im Leben dieser Familie verpaßt. Damit fehlten ihnen ein gewisser Enthusiasmus, eine gewisse Angst, aber auch eine gewisse Weisheit." Bei den Maks erlitten alle Familienmitglieder ihre Katastrophe - Ferien oder nicht.

Für die Jahre nach 1945 wird das Buch schwächer, muß es auch werden, weil uns diese Zeit schon zu nahe ist. Dagegen ist die Kindheit von Catrinus Gegenstand beeindruckender Schilderungen um den Alltag der Segelmacherfamilie Mak in dem kleinen Ort Schiedam. Das waren Jahre, wo es noch den Beruf des Wasserwärmers gab, der sein kärgliches Auskommen nur dadurch sicherte, daß er große Mengen Wasser konstant heiß hielt und verkaufte, erstaunlicherweise neben einer ständig dampfenden Wäscherei. Einige Seiten später beschreibt Mak die Einführung der Elektrizität in den schlichteren Wohnquartieren: "Im Haushalt begann der befreiende Vormarsch von Boiler (heißes Wasser ohne Schleppen) und Waschmaschine." Wasserwärmer und Wäscherei hat er da vergessen. Sie wurden nicht befreit, sondern beseitigt.

Diese Dialektik von Befreiung und Besatzung, Vertreibung oder Untergang prägt unausgesprochen das gesamte Buch. Es ist der zentrale Gegensatz des zwanzigsten Jahrhunderts, und Geert Mak hat recht, es das seines Vaters zu nennen, denn der hat es exemplarisch erlebt. Vielleicht darf man es als Hommage an eine solch erfahrungsgesättigte Historiographie verstehen, wenn Hans-Ulrich Wehler am Ende seines Vorworts zum neuen Band seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" einen Blick vorauswirft: "Und jetzt geht es an die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik, deren Entwicklung ich von Anfang an als Zeitgenosse miterlebt habe." Zeitgenossenschaft hat Zauberkraft. Wenn dann noch analytischer Verstand hinzutritt wie im Falle Maks, ist ein Glücksfall eingetreten.

Geert Mak: "Das Jahrhundert meines Vaters". Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens und Andreas Ecke. Siedler Verlag, Berlin 2003. 576 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2003

Hinterm Deich
Geert Mak gewährt tiefe Einblicke in die Niederlande
Mal ehrlich: Wer weiß was über die Niederlande? Der kleine Nachbar im Nordwesten dürfte für die meisten Deutschen ein Rätsel sein, ein „weißer Fleck”, der allerhand Vorurteilen Nahrung gibt. Eine Weile war Amsterdam aus mancherlei Gründen sehr in Mode, sind niederländische Showmaster heftig bejubelt worden, und die zeitgenössische Literatur des Landes erfreut sich bei hiesigen Lesern wachsender Beliebtheit.
Für die meisten jedoch dürfte sich die Wahrnehmung der Niederlande auf die Autos mit dem Kennzeichen NL beschränken, die im Sommer über unsere Autobahnen rollen. Viele ziehen einen einachsigen Anhänger, über dessen Fracht niemand Zweifel hegt. Die Niederländer gelten als geizig und führen deshalb alles mit sich, was sie unterwegs verzehren: Geschmacksfreie Treibhaustomaten, fetten Schweinespeck und vor allem gewaltige Käseräder.
Umgekehrt dürfte es insofern anders sein, als die Niederländer aus leidvoller Erfahrung ziemlich sicher zu wissen glauben, was und wer die Deutschen sind, die sie verächtlich „Moffen” nennen. Man wird ihnen da kaum widersprechen. Zum anderen hegt der Kleinere stets ein besonderes Misstrauen gegenüber dem großen Nachbarn, das sich gern mit Verachtung Mut macht. Im Regelfall geht man deshalb miteinander freundlich um, ohne sich aber sonderlich füreinander zu interessieren. Derlei nennt man wohl ein gutnachbarschaftliches Verhältnis.
Pastor in Ostindien
Solche Entfremdung unter fernen Verwandten, die umständehalber in enger Nachbarschaft und politisch-wirtschaftlicher Gemeinschaft leben, lässt sich nur in mühe- und verständnisvoller Aufklärungsarbeit vom Zustand des völligen Missverstehens in den des teilweisen überführen. Für diesen Prozess kann das wunderbare Buch des niederländischen Sachbuchautors Geert Mak „Das Jahrhundert meines Vaters” einen gar nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag leisten. Da von diesem Buch in den Niederlanden mehr als eine halbe Million Exemplare verkauft wurden, hat der Autor offensichtlich auch seinen Landsleuten eine Fülle neuer Einsichten über sich selber und ihre Geschichte verschafft.
Tatsächlich ist Geert Mak mit „Das Jahrhundert meines Vaters” das beneidenswerte Kunststück gelungen, ein Buch über die niederländische Geschichte im 20. Jahrhundert zu schreiben, das nicht durch hären-akademischen Anspruch abschreckt, sondern die Vergangenheit in einer Fülle von sehr privaten Geschichten anschaulich macht. Diese Darstellungsweise garantiert eine oft spannende, gelegentlich betroffen machende, aber die Neugier des Lesers stets wachhaltende und dessen Kenntnisse spielerisch erweiternde Lektüre.
Die Lebensspanne von Geert Maks Vater, er wurde im September 1899 geboren und starb 1980, umfasst jene Jahrzehnte vor und nach den zwei Weltkriegen, von deren Auswirkungen auch die beschaulichen Niederlande in die Unübersichtlichkeit der Moderne katapultiert wurden. Als Pastor der kalvinistischen Kirche, der nicht nur im Mutterland, sondern auch in niederländisch Ostindien, im heutigen Indonesien wirkte, befand sich Maks Vater in einer Position, die ihn zu einem Seismographen werden ließ, der diese grundstürzenden Veränderungen in Gesellschaft und Politik, in Wirtschaft und Moral genau registrierte. Außerdem gehörte er noch einer Generation an, die ihre Beobachtungen, Sorgen und Hoffnungen in langen Briefen schilderte, Tagebüchern anvertraute oder in Predigten und Aufsätzen öffentlich machte. Da die allermeisten dieser Zeugnisse sich erhalten haben, hatte Geert Mak einen reichen Quellenfundus zur Hand, aus dem er schöpfen konnte. Dem verdankt er vor allem jene zahlreichen Beispiele, die mit ihren zeit- und standortgebundenen Einschätzungen und Urteilen den langwierigen, oft widersprüchlichen und bisweilen sehr schmerzhaften Prozess beleuchten, mit dem sich ein ganzes Land von alters her eingelebten Traditionen und Gewissheiten lösen musste. Kritisch ist in diesem Zusammenhang lediglich anzumerken, dass Mak sich allzu ausführlich mit den innerkirchlichen Auseinandersetzungen befasst, die jene Entwicklungen innerhalb der niederländisch-reformierten Kirche auslösten.
Das ändert aber nichts an der Faszination seiner Darstellung, die geradezu spielerisch Privates und Öffentliches, Individuelles und Gesellschaftliches miteinander in Beziehung setzt. Das ist überzeugend und erhellend. Deshalb hält auch dieses wunderbare Buch, was sein Titel „Das Jahrhundert meines Vaters” dem Leser verspricht: Es ist ein Geschichtsbuch, das seinen Gegenstand als ein aus dem Grabe auferstandenes Schicksal begreift und erzählt, nacherlitten in einem Charakter.
Mak ist damit ein exemplarisches Buch von im besten Sinne populärer, sprich vielen eingängiger Geschichtsaufklärung gelungen. Die Brief- oder Tagebuchzitate verbindet er mit solchen aus längst vergilbten Zeitungen, die repräsentativ sind für den Kenntnisstand, der den Hintergrund bildet für die jeweiligen Einschätzungen und Urteile seines Vaters. So entsteht aus privaten und oft belanglosen Details ein Mosaik, das jene protestantisch, katholisch oder sozialdemokratisch „versäulte” Gesellschaft abbildet, die unbeschadet aller Anfechtungen lange in unerschütterlicher Selbstgerechtigkeit verharrte.
Wohltuenderweise versagt sich Mak aber der Versuchung, die Gnade seiner späten Geburt in besserwisserischen Anklagen auszumünzen. Seine Kritik ist leise, dafür aber umso nachdrücklicher. So beispielsweise, wenn er den niederländischen Antisemitismus anhand nüchterner Opferzahlen illustriert und daraus das Fazit zieht, dass die Todesrate der in den Niederlanden lebenden Juden mit 75 Prozent nur noch mit der Polens und einiger anderer mittel- und osteuropäischer Länder vergleichen lässt, in denen eine ausgeprägt antisemitische Tradition vorhanden war. Das gilt auch für seine Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die niederländische Politik sich partout nicht vom Traum des ostindischen Kolonialreichs verabschieden wollte, sondern gegen die indonesische Unabhängigkeitsbewegung einen opferreichen Kolonialkrieg führte.
Was dieses Buch zu einer so überaus anregenden Lektüre macht, ist nicht zuletzt auch dem angenehmen Parlando seines Erzählers geschuldet. Dass auch der deutsche Leser dieses Erlebnis hat, verdankt sich der vorzüglichen Übersetzung. Freundlicherweise ist dem Band auch ein kurzer Anmerkungsteil beigegeben, in dem wichtige, aber unvertraute Termini sowie einzelne Personen erläutert werden.
JOHANNES WILLMS
GEERT MAK: Das Jahrhundert meines Vaters. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens und Andreas Ecke. Siedler Verlag, Berlin 2003. 569 S., 28 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Obwohl er selbst Niederländer ist, erging es Cees Noteboom beim Lesen dieser Romans teilweise so, als betrete er einen unbekannten Kontinent und erkunde dort das Treiben eines geheimnisvollen Volksstamms. Gemeint sind die niederländischen Protestanten (Noteboom selbst ist Katholik), die sich in den 20er Jahren über eine Genesis-Interpretation in zwei Glaubensrichtungen spalteten. Der titelgebende Vater Geert Maks war orthodox-calvinistischer Pfarrer, den es in die holländische Kolonie Sumatra verschlug. Noch heute, meint Noteboom, könne er sämtliche Inseln des "Smaragdgürtels" herunterbeten. Aus Briefen seiner Eltern und seiner sechs älteren Geschwister habe der 1946 geborene Erzähler jene enge holländisch-prostestantische einerseits und die fremdartig-koloniale Welt andererseits rekonstruiert, fokussiert durch das Schicksal seiner von der japanischen Okkupation auseinandergerissenen Familie. In der unsentimentalen Schilderung dieser Katastrophe erweist sich für Noteboom das ganze Können Maks, der auch nicht davor zurückscheue, Fakten und Zahlen zu benennen, die von Hollands angeblicher Toleranz und Weltoffenheit wenig übrig ließen. Mak entführt in einen Winkel der Welt und in Ecken der Geschichte, lobt Noteboom dieses in Holland sehr erfolgreiche Buch, die selbst Niederländern bislang verschlossen blieben.

© Perlentaucher Medien GmbH