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Zum 100. Geburtstag Theodor W. Adornos erscheint endlich die langerwartete Biographie, die eine große Lücke schließt: Bisher lagen nur eine Reihe von biographischen Detailstudien und eine Fülle theoretischer Auseinandersetzungen vor, eine detaillierte Darstellung seines Lebens und Werks hingegen fehlte. Stefan Müller-Doohms Biographie, die auf mehrjährigen Forschungen und Archivrecherchen beruht und eine Vielzahl bisher unbekannter Quellen erschließt, weist Adorno den ihm gebührenden Rang zu: als einen der großen Philosophen der Gegenwart, der in der kritischen Auseinandersetzung mit der…mehr

Produktbeschreibung
Zum 100. Geburtstag Theodor W. Adornos erscheint endlich die langerwartete Biographie, die eine große Lücke schließt: Bisher lagen nur eine Reihe von biographischen Detailstudien und eine Fülle theoretischer Auseinandersetzungen vor, eine detaillierte Darstellung seines Lebens und Werks hingegen fehlte. Stefan Müller-Doohms Biographie, die auf mehrjährigen Forschungen und Archivrecherchen beruht und eine Vielzahl bisher unbekannter Quellen erschließt, weist Adorno den ihm gebührenden Rang zu: als einen der großen Philosophen der Gegenwart, der in der kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und der Tradition eine Neuorientierung des Denkens eröffnete, die bis heute prägend ist. Von der behüteten Kindheit in Frankfurt über die Erfahrung des Exils und der Shoah, von der Frankfurter Schule und dem Institut für Sozialforschung bis hin zu den Ereignissen von 1968, von der Neuen Musik und der Ästhetik über die Soziologie und Philosophie bis hin zur Literatur, Politik und Kulturindustrie reicht das Spektrum. Adornos Biographie zeigt sich als intellektuelle Bestandsaufnahme des zwanzigsten Jahrhunderts, die uns die Geschichte unserer Gegenwart mit anderen Augen sehen läßt.
Autorenporträt
Müller-Doohm, Stefan
Stefan Müller-Doohm ist emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2003

Wer das Leben hat, hat den Schaden
Kann man nach Adorno noch Biographien über Adorno schreiben? Neue Versuche im Adorno-Jahr

Adornos Vorbehalte gegen die (Genie-)Biographik sind bekannt, aber was die Darstellung seines eigenen Lebens angeht, mag die Aversion gegen das Genre noch gesteigert gewesen sein. Denn der Umstand, ungefragt auf der Welt zu sein, ist ja gerade das Urskandalon seiner kritischen Theorie. Einmal im falschen Leben angekommen, ist der Widerstand gegen seine Obszönitäten das, was übrigbleibt, wenn man ein lebenswertes Leben führen und das heißt: dem Leben entgehen möchte.

Denn obszön ist das Ganze. Wo Adorno geht und steht und fliegt, überall erhascht er die Fratze dieses Ganzen. "Im Fluge erhascht" heißt die kleine Betrachtung, die er nach seiner ersten Flugreise überhaupt, der von San Francisco nach New York, zu Papier bringt. Was hat Adorno dort droben erhascht? Das Wolkenschauspiel, den Geschmack des Bordfrühstücks, die Schweißperlen seiner Flugangst, das Wunder der überlisteten Schwerkraft? Nicht Lebensfacetten solcher Art bannen seinen Blick, sondern der Himmel und Erde verbindende Verblendungszusammenhang, hier: die Abhängigkeit des Passagiers von der Apparatur: "Man tut nichts dazu, ist ganz Gegenstand, sei es eines vom eigenen Willen schlechterdings unabhängigen Vollzugs, sei es der verwaltenden Betreuung." Was Adorno über wie unter den Wolken bemerkt, ist immer nur das eine: daß das Leben ganz Gegenstand ist, vollzogen, verwaltet und betreut. Wer das Leben hat, hat den Schaden. Wer könnte da post natum noch Biographien leben oder schreiben? Wer wollte es nicht bei Reflexionen belassen?

Und samstags guck' ich "Daktari"

Natürlich kann man sagen: Da sind wir heute weiter. Das mit der Negativität geht taomäßig schon in Ordnung. Der negative Pol braucht nicht dialektisch aus den Angeln gehoben zu werden, er darf ruhig verschleiert bleiben, gehört er doch dazu wie Yang zu Yin. Jeder Schleier, den man wegzieht, läßt sowieso nur wieder einen anderen Schleier zum Vorschein kommen. Ja selbst der Entschleierer Freud hat Wert darauf gelegt, die Wunden, in welche Adorno später den Zeigefinger legte, auch einmal unter der positiv gemeinten Vokabel des "Krankheitsgewinns" zu erörtern: Es könne nicht darum gehen, sich dem Leben partout als Hygieniker zu nähern. Man möchte ergänzen: Wer den Schaden hat, weiß wenigstens, wo er dran ist. In diesem Sinne sind Biographien, selber gelebte genauso wie über andere geschriebene, für uns inzwischen das Salz in der Suppe des Lebens. Man hat sich nun einmal entschieden, zu leben (einkaufen zu gehen, zu telefonieren, Kinder zu kriegen, "Vom Winde verweht" zu lesen und so weiter). Deshalb hat man vor lauter Leben keine Zeit mehr für das Ganze.

Auch Adorno hat sich wegen des Ganzen nicht erschossen, sondern schritt wacker die Fluchtwege aus: Er guckte "Daktari" am Samstag, ließ kaum eine Gelegenheit zu einer Affäre aus - seine Frau Gretel wußte Bescheid - und entschied sich im übrigen, dem Ganzen mit Arbeiten über das Ganze zu entkommen. Dabei erfuhr er, wie sein Biograph Detlev Claussen eine Notiz Adornos von 1960 überliefert, in der Praxis durchaus die Erlösung, die er theoretisch für unmöglich hielt: Er fühlte, "wie sehr die Arbeit bei mir ein Rauschmittel ist, das mir über eine sonst fast unerträgliche Schwermut und Einsamkeit hinweghilft".

Viele Wege führen also aus dem Ganzen heraus. Claussen zitiert, das Problem des Biographie-Genres im Auge, einen Brief Adornos an Leo Löwenthal von 1942, eine entschiedene Kritik an der biographischen Massenproduktion. Das Leben selber werde in der Biographie zur Ideologie, insofern "an irgendwelchen Modellen den Menschen demonstriert wird, daß es noch so etwas wie ein Leben gebe". In Wirklichkeit (genauer: in der von Adorno als das Ganze beschriebenen Wirklichkeit) gibt es aber gar kein Leben mehr. Biographieproduktionen sind, so gesehen, Verrat an einem der ältesten Motive der kritischen Theorie: an der Erfahrung des Erfahrungsverlustes.

Wenn man sich fragt, "ob nach Auschwitz noch sich leben lasse" (Adorno), dann, so Claussen, "scheint die Frage nach der Geschichte eines individuellen Lebens, nach einer Biographie geradezu obsolet". Bei Claussen bleiben denn auch in der Tat die Lebensberichte, wie er sie etwa anhand neu erschlossener Korrespondenzen erzählt, stets auf Adornos Texte bezogen. Die Texte sind es, die Claussen "hinter der ins Unendliche angewachsenen Sekundärliteratur wieder im Original hervortreten lassen" will. Daß "im Original" dabei natürlich immer heißt: in Claussens Original, das empfindet man nicht als Schwäche, sondern als Stärke des Buches. Übrigens auch dort, wo man der Deutung nicht folgen mag, beispielsweise wenn die Wucht gewisser Anprangerungen in der "Dialektik der Aufklärung" dem Leser als eine bloß ironische Verve verkauft werden soll. Mit Ironie hatte Adorno nun gerade nicht viel am Hut, sonst hätte er im Fluge anderes erhascht.

Aber es gibt auch Anstößiges bei Claussen. Neben stilistischen Schludrigkeiten und ausufernden Exkursen wie dem über das lange bürgerliche Jahrhundert sind das vor allem die inhaltlichen Überschneidungen zwischen einzelnen Kapiteln seines Buches. Diese Überschneidungen scheinen gewollt, sie sind einer zweifachen Absicht zuzuschreiben. Zum einen soll jedes Kapitel auch für sich gelesen werden können (das ist so löblich wie das Lesebändchen, das aus dem Buch herausbaumelt). Zum anderen will Claussen Adornos Werk, wie er eingangs schreibt, als ein "Palimpsest" interpretieren, als "ein Werk voller Überschneidungen". Um aber Adornos Werk, wie es sich gewiß gehört, als Palimpsest zu interpretieren, dafür allein wäre es nun wirklich nicht nötig gewesen, auch die Biographie als Palimpsest anzulegen.

Als eine echte Dröhnung zum Adorno-Jahr kommt die Biographie von Stefan Müller-Doohm daher, der mit einer task force von DFG-finanzierten Helfern jahrelang alte und neue Schriftquellen sichtete, Interviews führte, Datenbanken fütterte. Bei diesem Buch stechen drei Dinge ins Auge. Erstens: Es ist sehr dick. Zweitens: Es ist sehr artig, hat einen Zug ins Beflissene (man bekommt Adornos Nichtidentisches erklärt wie eine Feuerwehrleiter, ein bißchen nach dem Motto: Also das mit dem Nichtidentischen geht so . . .; die Frage nach den genuin philosophischen und soziologischen Gehalten seiner Essays und Aphorismen bleibt dagegen merkwürdig unscharf). Drittens: Das Buch ist die definitive Quelle für alle, die Dinge der Art wissen wollen, wer die französische Erstübersetzerin des 1961 gehaltenen Vortrags über "Das ontologische Bedürfnis" gewesen ist. Eine unentbehrliche Eckermann-Arbeit also, der man denn auch Pretiosen wie die zitierte Flugzeug-Anekdote entnimmt.

Um so störender fällt auf, wenn bei solcher Materialfülle etwas fehlt. Der Brief vom 27. September 1958, mit dem Horkheimer seitenlang Adorno auseinandersetzt, warum er auf die weitere Mitarbeit von Habermas im Institut für Sozialforschung keinen Wert legt - bei Claussen vollständig dokumentiert -, wird bei Müller-Doohm nur in einer Fußnote kurz erwähnt. So bleibt hier die politische Hypochondrie Horkheimers ebenso unterbelichtet wie eine Willfährigkeit Adornos, der den Brief am Rande zwar mit allerlei "?" versah, dann aber im wesentlichen doch nur sein bekanntes "Genau, Max!" wiederholte.

Der kommt mir nicht ins Haus

In eine Fußnote verpackt Müller-Doohm auch Frau Horkheimers Diktum, die über Adorno sagte, "er sei der ungeheuerlichste Narziß, den die Alte und Neue Welt aufzuweisen hat". Warum bei einer so ausgreifenden Biographie nicht auch ein eigenes Kapitel zum Thema "Aversionen gegen Adorno"? Schließlich ist doch bekannt, daß sich am Charakter Adornos die Geister schieden: Schönberg mochte ihn ebensowenig wie Hannah Arendt, die befand: "Der Mann kommt mir nicht ins Haus, einer der widerlichsten Menschen, die ich kenne". Kracauer schrieb 1958 an Löwenthal, "Teddie" Adornos Dinge seien oft "auf einer hohen Ebene falsch, ausgeleierter Tiefsinn und eine Radikalität, die es sich gutgehen läßt". Der Begriff der Utopie, fügte er zwei Jahre später hinzu, werde "als reiner Grenzbegriff benutzt, der nicht den geringsten Inhalt hat". Er, Kracauer, "kenne kein anderes Beispiel von scheinbar eingreifender Kritik, die so wenig Greifkraft hat". Im selben Sinne äußert sich 1965 auch Horkheimer: "Adorno sagt zu jeder seiner Analysen auch das Gegenteil. Aber trotz dieser auf die Spitze getriebenen Dialektik bleibt das, was er sagt, unwahr. Denn die Wahrheit läßt sich nicht sagen. Und persönlich bleibt er unbeteiligt. Es kommt aber darauf an, das, was man an Wahrheit hat, irgendwie zu realisieren." Was hinter solchen Einwänden oder Ressentiments im einzelnen steckt, in einer Materialgrube von 1032 Seiten möchte man es - biographietheoretisch und philosophisch - frontal erörtert und nicht ornamental neutralisiert finden.

Es gibt ein Interview mit Adorno im "Organ der Deutschen Postgewerkschaft". Da sagte er 1962, daß das, "was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen". Reinhard Pabst hat diese Flaschenpost empfangen und ein zartes biographisches Bildchen gemalt, das Adorno im Ferienparadies seiner Kindheit, im Odenwaldörtchen Amorbach, zeigt. Die ertragreiche Spurensuche reflektiert das Kind im Werk und macht etliche bislang unbekannte Fotos zugänglich. Wir nehmen an, es ist die Biographie, die Adorno autorisiert hätte.

CHRISTIAN GEYER

Detlev Claussen: "Theodor W. Adorno". Ein letztes Genie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 350 S., geb., 22,90 [Euro].

Stefan Müller-Doohm: "Adorno". Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 1032 S., geb., 29,90 [Euro].

Theodor W. Adorno: "Kindheit in Amorbach". Bilder und Erinnerungen. Herausgegeben von Reinhard Pabst. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2003. 250 S., br., 9,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.08.2003

Vergib mir, Schönster, dass ich dich erfand
100 Jahre Einsamkeit und 1000 Seiten Mammut: Stefan Müller-Doohms redliche Adorno-Biographie
Drei Jahre vor seinem Tod hatte Adorno einen merkwürdigen Traum: „Ich träumte, Peter Suhrkamp habe ein kulturkritisches Buch geschrieben – auf Plattdeutsch. Titel: Pa Sürkups sin Kultur.” Die Chiffren der Traumschrift – zu deuten war nicht viel – hielt das Protokoll gleich fest: „Pa = Peter und Papa; Sürkup = Suhrkamp und der französische Admiral Surcout; sin = sein und lateinisch sine.” Wer selbst im Traum so scharfzüngig und boshaft wie Adorno sein konnte, vor dessen himmlischen Kugelblitzen sollte sein Verlag auch weiterhin auf der Hut sein.
Die Nachtmahr des feinfühligen und stets angstbereiten Philosophen war grundlos: Als Markenzeichen einer zweiten, intellektuellen Gründung der westdeutschen Nachkriegsrepublik hatte die „suhrkamp culture” ihre Hochkonjunktur damals noch vor sich. Adorno war der Spiritus rector eines wagemutigen verlegerischen Programms, ohne das wir weder Benjamin noch Kracauer oder Bloch zu lesen bekommen hätten. So manchen seiner Lieblingsschüler hatte Adorno im Verlag als Lektor oder als Berater untergebracht, hohes Sprachempfinden und ein unerschütterlicher Sinn für Qualität war ihnen wie selbstverständlich mitgegeben.
Sechs lange Jahre
Als die einstigen Stammlektoren Karl Markus Michel, Günter Busch, Walter Boehlich und Friedhelm Herborth im Zwist mit ihrem Verleger nach und nach das Haus verließen, fand dort ein Generationswechsel statt. Die unmittelbar nachfolgende Zwischengeneration wurde übergangen, was einen Traditionsbruch zur Folge hatte. In der mangelnden intellektuellen Fortüne des Verlags und im wachsenden Ungeschick bei der Pflege des eigenen Erbes findet er heute seinen Niederschlag. Die jungen Lektoren kennen die geistigen Hausväter kaum noch aus eigener Lektüre, sondern gefiltert und gesiebt durchs papierene Universitätsdeutsch ihrer akademischen Lehrer. Fieberhaft publizieren diese zumeist selbst in den einschlägigen Programmreihen des Verlags und bestimmen dort den Jargon, den zu kritisieren kein Lektor mehr den Mut aufbringt. Hinzu kommt, dass die Lektorate längst zu willfährigen Abteilungen der Produktakquisition geworden sind: „Sie sollen hier Bücher machen und keine lesen”, bekommen Lektoren, die es noch wagen, sich in ein Manuskript zu vertiefen, von ihren Programmchefs zu hören. Leicht auszumalen, wie Adornos Alptraum von einer ihm gewidmeten Hausbiographie heute aussehen würde: ,Pa Sürkups sin Adorno‘.
Auch wenn man Adornos Vorbehalte gegen das biographische Genre ernst nimmt, desgleichen sein „tiefes Mißtrauen gegen den Begriff der Reife und die sogenannte Logik der Entwicklung”, auf die Biographen nur selten verzichten wollen, so musste in Teddies hundertstem Jubeljahr beinahe zwangsläufig eine groß aufgemachte Biographie auf die Nachwelt zukommen: Stefan Müller-Doohm, Jahrgang 1942 und Professor für Soziologie in Oldenburg, hat sie verfasst, der Ruf einer Staatsaktion eilte ihr voraus, von der DFG wurde sie durch die Einrichtung einer mehrköpfigen Arbeitsstelle gefördert, und Suhrkamp hat die Resultate jetzt auf über 1000 Seiten gedruckt. Eine besonders schöne Maxime Adornos wurde allerdings missachtet: „Nie darf man kleinlich sein beim Streichen.”
Schon beim ersten Blick auf den monströsen Industriepark eines Inhaltsverzeichnisses, dem alle vernünftigen Gesichtspunkte fehlen, die eine transparente und dicht gestrickte Gliederung ausmachen, erst recht aber bei der Lektüre selbst tritt das unglückliche Geschick, das hier gewaltet hat, deutlich zu Tage – und mit ihm auch die fatale Nemesis der Wissenschaftsförderung: Sechs Jahre lang wurden alle nur greifbaren veröffentlichten wie unveröffentlichten Quellen gesichtet und exzerpiert, Handschriften transkribiert und ausgewertet; mit Zeitzeugen allerorten wurden Interviews geführt; riesige Datenbanken mussten angelegt und gefüttert, jedes Zettelchen wollte verwaltet werden; kraft Masse und Volumen sollte den Geldgebern von der DFG schließlich gezeigt werden, was alles getan wurde. Am Ende trat dem von der schieren Überfülle seines Materials geplagten Autor, der seiner vertraglich vereinbarten Lieferfrist nachkommen musste, kein selbstbewusstes Lektorat gegenüber, das durch inhaltliche und sprachliche Überarbeitungen und notfalls auch durch Umarbeitungen in die Entstehung des Buchs eingegriffen hätte. Lektoren der alten Schule hätten aus dem, was Müller-Doohm seinen Lesern redlich und redselig, aber mit enormer Redundanz mitzuteilen hat, ein konzeptionell durchgearbeitetes, gut lesbares Buch von vielleicht fünfhundert Seiten gemacht, und der Autor wäre ihnen dankbar gewesen. Hier aber hat niemand den Autor geleitet und noch weniger gebremst, und das ist traurig und schade, jammerschade vor allem um das beim staubtrockenen Referieren und in nimmer endenden Wiederholungen verspielte Material; schade auch um manch aufrechte Intention und einige gute Gedanken, die aber weder die Zeit noch Gelegenheit zur Vertiefung gefunden haben. Noch weniger aber haben sie zu einem gelungenen sprachlichen Ausdruck gefunden, um auch einmal funkelnd aufzuleuchten und eine neue Facette ins Bild von Adorno zu sprengen.
Schwere Geburt
Das Grundübel dieser Biographie liegt in ihrer Anlage. Es ehrt Müller-Doohm, dass er dem Werk des Schriftstellers, Philosophen und Künstlers den Vorrang gegenüber dem leibhaftigen Subjekt einräumt: „Aber es ist nun offenbar einmal mein Schicksal”, hatte Adorno in einem seiner Briefe bekannt, „meine ganze Produktion gewissermaßen meinem Leben abzulisten.” In der Chronologie des äußeren Lebens aber, wie Müller-Doohm es tut, auch eine Entwicklungslogik des Werks anzusiedeln, die das Leben selbst darüber lesbarer machte, ist damit aber nicht gegeben. Nicht umsonst blickten viele, auch kleinere Arbeiten Adornos auf eine jahrzehntelange Inkubationszeit zurück. Und wenn Walter Benjamin als Prophet wirklich einmal recht hatte, dann mit dem einen Satz, den er über Adornos erste Buchveröffentlichung „Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen” schrieb: „In diesem Buch liegt viel auf engem Raum, leicht möglich, daß die späteren des Verfassers einmal aus diesem hier entspringen werden.”
Statt, wie es nahe gelegen hätte, aus Adornos engen und nach den eigenen Worten „wie Spinnweben” gearbeiteten Texten alle größeren, auch gesellschaftlichen Räume und Zwischenräume des Lebens herauszuschälen und dabei mit sinnvollen Überblendungen, scharfen Überschneidungen und blitzhaften Konstellationen zu arbeiten, folgt Müller-Doohm dem Gang seines Helden durch die Welt buchstäblich „ab ovo”: Ganze 33 Seiten dauert es, bis Klein-Teddie überhaupt das Licht der Welt erblickt, und noch mehr Raum gibt der auf „Einflüsse” aller Art bedachte Biograph den sprachlich ziemlich verkrampft aufgefassten „Kontrapunkten einer familialen Erbschaft” – dem „Geist des jüdischen Kaufmanns” einerseits (worin sollte der bestehen?) und dem „Glanz der Sängerin” andererseits. Als kleine Stilprobe ist über die Mutter zu lesen: „So ist es wahrscheinlich, daß bei ihrer Biographie Lebensstilelemente der Bohème im Spiel waren, bei der höchst heterogene kulturelle Einflußkräfte zum Tragen kamen.” Falsche Gleichzeitigkeit steigert sich bisweilen zur unfreiwilligen Komik, wenn es am Anfang eines neuen Unterkapitels heißt: „Als die jüdische Familie Wiesengrund aus der Ortschaft Dettelbach im Frankenland gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frankfurt seßhaft wurde, pflegten die Bewohner der Stadt am Main ihren Apfelwein zu trinken.” Kaum aber hat der junge Wiesengrund seine ersten selbstständigen Texte verfasst, hängt der Biograph fortan, wie es die wechselnden Stichworte gerade erlauben oder wie es ihm sonst ins Zeug passt, allerlei Personen und Ereignisse, Ideen, Motive, Probleme und Zufälle daran an, verliert sie wieder, bis sie an irgendeiner Stelle von neuem auftauchen und zu unzähligen Wiederholungen Anlass geben. In einem langen Stafettenlauf stolpert er mit ihnen durch die Zeit.
Zu beneiden ist er nicht, Adornos Biograph. Über dem zeitlich Zersprengten und Disparaten in Adornos Leben und Werk, den vielen Gegenstrebigkeiten und Rückläufigkeiten, hätte er eigentlich verzweifeln müssen und aus solcher Verzweiflung heraus auch etwas Neues zu Wege bringen können. Doch dazu hätte es mehr bedürft, als hier geleistet wurde, keinem Mehr an Umfang, sondern einem Mehr an Arbeit des Nachdenkens und Arbeit der Sprache, und schließlich jener mit Distanz gepaarten Immanenz, die Adorno als „Konstruktion im Material” postulierte. Als Vorbild auch für das „wahre Komponieren” hielt Adorno es mit dem Kind, „das auf dem Klavier eine Melodie sucht. . . So unsicher und stockend, doch mit genauer Erinnerung sucht der Komponist, was vielleicht stets schon da war und was er nun wiederbringen soll, auf den unterschiedslos schwarzen und weißen Tasten der Klaviatur dessen, woraus zu wählen ist.” Als Biographie ist Müller-Doohms Buch missglückt, als Auskunftsquelle für gezielte Fragen an Adornos Leben und Werk kann es bestehen.
VOLKER BREIDECKER
STEFAN MÜLLER-DOOHM: Adorno. Eine Biographie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003. 1032 Seiten, 29,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Eine echte Dröhnung" ist diese Biografie zum hundertsten Geburtstag Adornos, findet Christian Geyer. Stefan Müller-Doohm hat dafür "mit einer task-force von DFG-finanzierten Helfern jahrelang alte und neue Schriftquellen" gesichtet, "Interviews geführt" und "Datenbanken gefüttert", wie man vom Rezensenten erfährt. Drei Dinge, schreibt Geyer weiter, fallen auf an diesem Buch: Es ist, erstens, "sehr dick" und zweitens "sehr artig", mit einem "Zug ins Beflissene" - Adornos "Nichtidentische" etwa bekomme man "wie eine Feuerwehrleiter" erklärt - und es ist, drittens, "die definitive Quelle" für alle, die Dinge von der Art wissen wollen wie: wer war die französische Erstübersetzerin eines bestimmten Vortrags von Adorno? Eine "unentbehrliche Eckermann-Arbeit" also, die Müller-Doohm hier geleistet habe. Bei einer solchen Materialfülle fällt Geyer jedoch um so mehr auf, was hier alles fehlt oder versteckt versteckt wird. Warum etwa gibt es nicht ein eigenes Kapitel zum Thema "Aversionen gegen Adorno", fragt Geyer. Was hinter den bekannten Ressentiments und Einwänden von Hannah Arendt, Schönberg oder Kracauer gegenüber Adorno stecke, hätte unser Rezensent in einer solch ausufernden "Materialgrube" doch gerne "frontal erörtert" und nicht "ornamental neutralisiert" gefunden.

© Perlentaucher Medien GmbH
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»In seiner Adorno-Biografie besticht Müller-Doohm vor allem mit einem Aspekt: der Ausführlichkeit und dem angemessenen Blick für Details. Äußerst kurzweilig und interessant gelingt es dem Autor dabei, nicht in Plattitüden oder reine Deskription zu verfallen, sondern den Werdegang des jungen Ausnahmeschülers zu einem der wichtigsten und öffentlichkeitswirksamsten Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts zu rekonstruieren.« Hannes Kaufmann suite101.de 20110529