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»Doch das fließende Grenzgebiet, Wirklichkeit, wo ist's?«In der kompakten Form acht- und zwölfzeiliger Gedichte hatte Christian Lehnert seine »Pneumatologie« einer spirituellen Naturerfahrung zuletzt verdichtet (Aufkommender Atem, 2011), und mit derselben Form setzt er in seinem neuen, sechsten Gedichtband wieder an. Konsequent aber wächst die Form diesmal gegen die minimalistische Verdichtung auf, über Sonette hin zu dynamischen Zeilen und Strophen voll hexametrischer Rhythmen. Die Weitung der Form bedeutet zugleich eine Annäherung an größere Formationen der Wirklichkeit. Das Gedicht bewegt…mehr

Produktbeschreibung
»Doch das fließende Grenzgebiet, Wirklichkeit, wo ist's?«In der kompakten Form acht- und zwölfzeiliger Gedichte hatte Christian Lehnert seine »Pneumatologie« einer spirituellen Naturerfahrung zuletzt verdichtet (Aufkommender Atem, 2011), und mit derselben Form setzt er in seinem neuen, sechsten Gedichtband wieder an. Konsequent aber wächst die Form diesmal gegen die minimalistische Verdichtung auf, über Sonette hin zu dynamischen Zeilen und Strophen voll hexametrischer Rhythmen. Die Weitung der Form bedeutet zugleich eine Annäherung an größere Formationen der Wirklichkeit. Das Gedicht bewegt sich über die Erfahrung von Landschaft und Kulturnatur zielstrebig hinaus, arbeitet sich auf Schotter und Gleisen voran, passiert Transportmittel, Maschinenparks, Depots und Halden, durchquert Brachen und steuert durch Kanäle und Schleusen in Richtung eines vorerst imaginär bleibenden Stadtkerns. Wie die Mitte selbst aber erreichen? In einer Coda reißt Lehnert diese Frage mit drei Langgedichten zu drei Worten Martin Luthers als Sprachproblem auf: Dichtung als ein unablässiges Ringen um solche Worte und damit um den Zugang zur Mitte - ein unabschließbarer Versuch, doch ermutigt durch den festgegründeten Satz: »Solange ich Atem hole, ist Zeit.«
Autorenporträt
Lehnert, ChristianChristian Lehnert, geboren 1969 in Dresden, ist Dichter und Theologe. Er leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universität Leipzig. Sieben Gedichtbücher und zwei Prosabände liegen von ihm im Suhrkamp Verlag vor. 2012 erhielt Lehnert den Hölty-Preis für sein lyrisches Gesamtwerk, 2016 den Eichendorff-Literaturpreis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2015

Der poetische Glaube soll unbestimmt bleiben
Homer auf der Rolltreppe: In seinem neuen Gedichtband "Windzüge" verzichtet Christian Lehnert auf Bekenntnisse

Gottfried Benns Behauptung, Gott sei ein "schlechtes Stilprinzip", schreckt heute niemanden mehr. Die jüngeren Dichter schreiben wieder religiöse Gedichte; und Christian Lehnert, heute ein Mann Mitte vierzig, schreibt zum Glück auch solche, die nicht bloß gut gemeint, sondern auch ästhetisch relevant sind. "Windzüge", soeben erschienen, ist bereits sein siebter Band. Als junger Mensch hat Lehnert den totalitären Atheismus der DDR kennengelernt. Nach der Wende studierte er Orientalistik und Theologie und war einige Jahre Pfarrer in einem Dorf bei Dresden. Heute ist er Studienleiter an einer evangelischen Akademie.

Anders als der Theologe weiß der Dichter, dass Gott eine gute Frage, aber eine schlechte Antwort ist. Denn hätte er die Antwort, könnte er sich das Dichten sparen. In dieser Lage nimmt Lehnert seine Zuflucht zum Pneuma des Neuen Testaments. Dessen Anhauch suchen die "Windzüge" in Natur und Landschaft.

Wer Poesie als Geisteshauch, als Pneumatologie versteht, ist an lyrischen Experimenten nicht interessiert. Lehnert hält sich ans solide Handwerk als den Widerpart seines luftigen, vielleicht gar windigen Geschäfts. Er schreibt also Reimstrophen und Sonette und hat sogar Kontrafakturen zu alten Kirchenchorälen gedichtet. Er liebt es, Altes mit neuem Blick aufzugreifen.

In "Windzüge" überrascht er uns mit gelegentlichen Rückgriffen auf ein uraltes Versmaß. Man hört es im Langgedicht "Durch den Tunnel": "Schon der erste Schritt auf Rolltreppengrund, wenn die dichten / Stahlrippen paßgenau sich heben, gemächlich zur Schräge, / läßt die eigenen Glieder, im Einklang mit der Maschine, / laufen und schlafen ..." Was sich da passgenau hebt, ist das Maß des Hexameters.

In der Getragenheit des Hexameters evoziert Lehnert das Metaphysische; mehr noch: das Religiöse. In dem Gedicht "Zwei" denken die beiden Wanderarbeiter, die durch eine wüste Industrielandschaft gehen, beim Anblick von Lämmern, die zur Schlachtbank abtransportiert werden, an das Agnus Dei. Es erscheint als "das Tier, an den Läufen gebunden". Aber diese Evokation scheint dem Autor noch nicht zu genügen. Er geht hinter das Gedicht zurück in die Heilsgeschichte und findet den theologischen Mehrwert im Markus-Evangelium, das er in einer Anmerkung zitiert. Nämlich jene Szene, wo Jesus sich "in anderer Gestalt zweien von ihnen unterwegs" offenbart, "als sie übers Land gingen".

Anders gesagt: Es gibt eine Diskrepanz von ästhetischer und religiöser Erfüllung. Der Dichter strebt über die agnostisch-metaphysische Perspektive hinaus. Er nimmt die Verkündung in den Blick. In einem titellosen Sonett heißt es: "weil die Luft in jäher Flamme / züngelt und die Gottheit kündet, (...) will ich mich verlassen auf den Toten, / den am Kreuz." Hier greift der emphatische Wille ein, das Glauben-wollen. Der Gedichtschluss wirkt forciert. Die Vision löst sich in der Häufung der Bilder auf: "die schnelle Hand, // die den Span gereicht, die knisternd rote / Kuppe eines Zünders, meine Lichtung, / wo verbrannt wird, was mich brauchend band."

Für diese Dialektik von Wollen und Vollbringen hat Lehnert eine prägnante Formulierung, nämlich die Frage: "woher ich meinen festen Stand gewann / und was mich zwang, so unbestimmt zu sein". Der feste Stand als die Gnade des Glaubens steht gegen den Zwang zum Unbestimmten. In dieser Diskrepanz steckt die Crux religiöser Poesie. Der feste Stand ließe das Bekenntnis zu, doch dem Leser ist mit Bekenntnissen nicht gedient. Überzeugen - auch das weiß der Dichter - ist unfruchtbar. Dass er uns aber an seinen Zweifeln, seinem Suchen teilnehmen lässt, nimmt uns für ihn ein.

An Lehnerts neuen Gedichten faszinieren auch die Passagen, in denen er scheitert - scheitern muss. So berührt uns besonders der Schluss des kleinen Gedichts "Im Wind": "Was sei mir Verlust und was hab ich empfangen? / Wohin die Gedanken nicht mehr gelangen, / da bin ich verarmt bis auf den Schein, / was ich entbehre, hüllt mich ein ..." Wenn Christian Lehnert darauf vertraut, dass Leere in Fülle umschlagen kann, spricht er uns aus dem Herzen.

HARALD HARTUNG

Christian Lehnert: "Windzüge". Gedichte.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 114 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Dorothea von Törne staunt, wie Christian Lehnert Engel und Zeiterscheinungen profaner Art miteinander ins Gespräch bringt. Für Törne ganz und gar ungewöhnlich in deutscher Gegenwartslyrik. Richtig gut wird der Autor und Theologe Lehnert laut Rezensentin allerdings, wenn er seine Gedanken aus dem Dienst der Verkündigung befreit und suggestiven Sprachbildern und seiner laut Törne bemerkenswerten Musikalität vertraut. Aber auch die Natur als göttliche Schöpfung vom Autor ins lyrische Wort gefasst, betört die Rezensentin und lässt sie dessen Lehrjahre bei Peter Huchel und Bobrowski erkennen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2015

Flugbahn ohne Gewissheit
Der Theologe Christian Lehnert will die Tradition der geistlichen Dichtung erneuern – sein neuer Band „Windzüge“ zeigt, wie schwierig es ist, Gott anzurufen
Die geistliche Dichtung befindet sich in keinem guten Zustand, wer bestritte es? Nimmt man ein Gesangbuch der beiden großen Kirchen zur Hand, stellt man fest, dass die Kirchenlieder aus dem 18. Jahrhundert schwächer sind als die aus dem 17., die aus dem 19. schwächer als die aus dem 18., die aus dem 20. schwächer als die aus dem 19. (Das 21. Jahrhundert scheint es völlig aufgegeben zu haben.). Jene Gattung, die es als ihre edelste Aufgabe betrachtet, Gott die Ehre zu geben, scheint je länger desto weniger noch ernsthafte Autoren anzuziehen. Die Theologie predigt vielleicht noch, aber sie dichtet nicht mehr.
  Außer in Gestalt von Christian Lehnert, der 1969 in Dresden geboren wurde und bis heute in Sachsen verwurzelt ist. Der Klappentext stellt ihn vor als Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Leipzig und, außer als Lyriker, Verfasser eines bei Suhrkamp verlegten Essays über den Apostel Paulus mit dem Titel „Korinthische Brocken“.
  Ob das klappt? Der Leser steigt in den Band „Windzüge“ durchaus nicht unvoreingenommen ein, sondern hin- und hergerissen von dem Vorurteil, das müsse doch unbedingt schief gehen, und dem Wunsch, es möge noch einmal gelingen. Denn insgeheim sehnen sich viele, selbst unter ihren Verächtern, nach einem neuen starken Auftritt der christlichen Religion, die sich im Mund ihrer Verkündiger heute oft ausnimmt wie eine deutlich unter Wert gehandelte Aktie.
  Lehnert weiß es, welch übermächtiger Tradition, die seit dreihundert Jahren nicht mehr wirklich fruchtbar geworden ist, er sich überantwortet, und er schreckt vor diesem Zeitenabgrund nicht zurück. „Der Gott, den es nicht gibt, ist mir ein dunkler Riß, / ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.“ Ist das wirklich Lehnert im Jahr 2015? Es klingt vollkommen wie der barocke evangelische Mystiker Angelus Silesius.
  Gott, der einst so große und präsente, entzieht sich heute seiner Anrufung. Sicher, der deus absconditus, der verborgene Gott ist in der modernen Theologie zum Gemeinplatz geworden, und man kann es
sich sogar bequem damit machen, wie wenn der Chef des Hauses auf Dienstreise ist. Aber ein solcher Gott hat jedenfalls nichts mehr zu verheißen. „Mit einem Satz hockt bei den Pfählen / ein Gott, der hungert. Lächelt er? / Verunsichert? Kann nicht erzählen, / was gestern war, die Kurzzeit: leer?“
  Ein Gott, der hungert, bietet höchstens noch den Trost des Schicksalsgenossen. Und selbst wer daran erinnert, dass Gott immerhin in einem Stall zur Welt kam, stolpert doch über dieses ganz und gar menschlich-zeitgenössische „verunsichert“. Gott darf arm und ohnmächtig sein – aber verunsichert wie ein frustrierter Normalbürger, der auf therapeutischem Weg wieder zum Funktionieren gebracht werden soll? Das wohl eher nicht.
  Der sich entziehende Gott wirft für den Dichter nicht zuletzt ein Formproblem auf. Wie von dem reden, was nicht da ist, ja nicht einmal recht vorstellbar – einem Phantomschmerz? Lehnert greift hier zur Reaktivierung altbewährter Muster, des Reims, des Sonetts und anderer Formen. Aber er fühlt, dass sie heute in ihrer klassischen Reinheit nicht mehr zu gebrauchen sind, und baut kleine Rauheiten oder Sprünge ein; er spielt sie „dirty“ wie einen Blues. Dann reimt sich „Körper“ auf „Gestöber“, oder vielmehr, es reimt sich eben nicht, sondern liegt um den ausdrucksvollen Viertelton daneben.
  Und doch, dieser Eindruck bleibt der vorherrschende, geht hier allzu vieles allzu glatt von der Hand. Bibelstellen haben ihren erwartbaren Auftritt, die Naturlyrik ist machtvoll mit Bibernellen und Schwarzpappeln zur Stelle, Rilke in seinen verschiedenen Werksphasen übt erheblichen Einfluss aus; und von ihm ebenso wie von den christlichen Mystikern schreibt sich die Konvention des eigentlich Unsagbaren her, die Lehnert zuweilen zu etwas verleitet, was ein Lyriker niemals tun sollte: seine Strophen und Gedichte mit drei Pünktchen zu beenden . . .
  Eines der längsten Stücke trägt den Titel „Die Mücken“. „Sinkende Sonne, die Schwärme tanzen wirr und beharrlich, / reine Gedanken, zufällig wie eine ‚beste der Welten’, / immer bedürftig nach fremdem Blut. Das Hiesige fasst sie / niemals, sie schwinden und steigen, / Flugbahnen ohne Gewissheit.“ Das scheint doch sehr übertrieben. Nicht nur wird hier überschätzt, was so ’ne Mücke maximal hinkriegt, speziell im Spirituellen; sondern auch der von den olympischen Göttern erborgte Hexameter donnergrollt gewaltig fehl am Platze. Ohne Zweifel, der Lyriker Lehnert kann was; aber er findet nicht die Objekte, die seinem Können den nötigen Widerstand des Neuen entgegensetzen. Und so bleibt ihm nichts übrig, als aus einer Mücke teils einen Elefanten, teils einen Engel zu machen.
BURKHARD MÜLLER
        
  
    
  
  
  
Christian Lehnert: Windzüge. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 113 Seiten,
18 Euro.
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»Dass er uns ... an seinen Zweifeln, seinem Suchen teilnehmen lässt, nimmt uns für ihn ein. An Lehnerts neuen Gedichten faszinieren auch die Passagen, in denen er scheitert.«
Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.02.2015