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»So weit das Auge reicht, herrscht hier der Augenblick. / Einer dieser irdischen Augenblicke, / die man zu verweilen bittet.« Nach der Zuerkennung des Literaturnobelpreises 1996 publizierte WisZawa Szymborska (geboren 1923) erst vor drei Jahren wieder einen neuen Gedichtband, Chwila (Der Augenblick), der hier, vermehrt um weitere neue Gedichte, polnisch und in der deutschen Übertragung von Karl Dedecius erscheint.

Produktbeschreibung
»So weit das Auge reicht, herrscht hier der Augenblick. / Einer dieser irdischen Augenblicke, / die man zu verweilen bittet.« Nach der Zuerkennung des Literaturnobelpreises 1996 publizierte WisZawa Szymborska (geboren 1923) erst vor drei Jahren wieder einen neuen Gedichtband, Chwila (Der Augenblick), der hier, vermehrt um weitere neue Gedichte, polnisch und in der deutschen Übertragung von Karl Dedecius erscheint.
Autorenporträt
Wis¿awa Szymborska wurde am 2. Juli 1923 in Bnin (heute Kórnik, Polen) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten polnischen Autorinnen ihrer Generation und wurde 1996 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. In Deutschland sind ihre Werke zumeist in der Übersetzung von Karl Dedecius erschienen. Szymborska verstarb am 1. Februar 2012 in Krakau. Karl Dedecius, 1921 in Lodz geboren, galt als bedeutendster Mittler polnischer Literatur und Kultur in Deutschland. Als Übersetzer hunderter Bücher, Autor zahlloser Reden und Aufsätze, Herausgeber der Polnischen Bibliothek, Gründer des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt wurde er vielfach gewürdigt und ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1990), dem Orden des Weißen Adlers (1999) in Polen und dem Deutschen Nationalpreis (2010). Karl Dedecius starb am 26. Februar 2016 im Alter von 94 Jahren in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2005

Mit den Augen sehen, wozu das Herz schlägt
Das Geheimnis hinter allen Fragen: In neuen Gedichten zeigt Wislawa Szymborska, daß sie weise geworden und skeptisch geblieben ist

Wislawa Szymborska, die große Dame der polnischen Poesie, hat 1996 in ihrer Dankrede zum Nobelpreis an den Prediger Salomo und also an die Eitelkeit allen menschlichen Strebens erinnert. Sie nahm uneitel und ohne Koketterie die Last des Ruhmes auf sich und ließ sich in den Jahren, die auf den Preis folgten, weder zum Verstummen noch zum hektischen Produzieren verleiten. Sie arbeitete weiter und war vor allem darauf bedacht, ihren Gedichten die Sphäre des Schweigens zu erhalten. "Ich habe Angst", bekannte sie, "daß ich, sobald ich etwas zu erzählen beginne, es nachher als Gedicht nicht mehr werde niederschreiben können." So zahlt das Leben den Preis für die Kunst.

Sechs Jahre nach dem Nobelpreis ließ Wislawa Szymborska ein Buch mit neuen Gedichten erscheinen. "Chwila" (Der Augenblick) war der Titel des schmalen Bandes. In den Jahren 2002 bis 2004 entstanden weitere Stücke, die bislang nur in der polnischen Presse erschienen sind oder als Typoskript vorlagen. Sie bilden nun den Anhang der zweisprachigen Ausgabe in der Bibliothek Suhrkamp, die den schönen Titel "Der Augenblick" bewahrt hat. Insgesamt sind es dreißig nicht allzu umfangreiche Gedichte, die in der Übertragung von Karl Dedecius zu lesen sind: das Lebenskonzentrat einer Dichterin, die weise geworden und skeptisch geblieben ist.

Wislawa Szymborska gibt uns Bilanzen ihres Lebens und Nachdenkens, aber keine Ratschläge und Wahrsprüche. Sie entwirft in einem ihrer Gedichte "ein Verzeichnis von Fragen, / deren Beantwortung ich nicht erleben werde". Es sind natürlich die alten Fragen, die der Mensch sich stellt; aber die Lyrikerin stellt sie mit behutsamer Höflichkeit - um uns nicht zu langweilen, wie sie betont. Selbst die Pointe, auf die das Gedicht hinausläuft, ist mit Diskretion formuliert: Einige Fragen, kurz vor dem Einschlafen notiert, habe sie nach dem Aufwachen nicht mehr entziffern können. Dann aber folgt die schöne Wendung: "Manchmal habe ich den Verdacht, / es sei die eigentliche Chiffre." Diesen Hinweis auf das Geheimnis hinter allen Fragen hätte manch anderer Dichter als krönenden Abschluß des Gedichts empfunden. Nicht so Wislawa Szymborska. Sie läßt der metaphysischen Pointe ein Abwinken folgen: "Aber auch das ist eine Frage, / die mich irgendwann verläßt."

Weisheit des Alters? Vielleicht. Aber alles andere als Resignation. Es ist Einsicht, ist Demut. Wislawa Szymborska weiß, daß Staunen der Anfang aller Philosophie und Poesie ist. Sie weiß aber auch, daß diese Fähigkeit bedroht ist; eben auch durch das Alter. In "Frühe Stunde" schildert sie, wie die nächtens verlorene Welt sich faszinierend wieder zusammensetzt. Doch muß sie sich selbst ermuntern: "Darüber sollte ich staunen, tue es aber selten." Das ist weniger das Eingeständnis eigenen Versagens - denn sie hat ja gedichtet - als ein Wink für uns Leser.

Auch dieser erfahrenen Dichterin ist die Anfechtung nicht fremd, das ganze Geschäft, das Handwerk der Poesie und das Subjekt, das es betreibt, sei echolos, vielleicht sogar vergeblich. Anders als Gottfried Benn ist sie durchaus nicht von Regressionslust getrieben, aber sie fragt doch, "was es heißt, mit den Augen zu sehen, / wozu mir das Herz schlägt / und weshalb mein Körper keine Wurzeln schlägt." So sieht sie das Ich ohne Hybris. Zwar beginnt sie ein Gedicht mit "Ich bin, der ich bin", was man in der ersten Verblüffung als theologisches Donnerwort empfinden könnte. Doch sogleich kommt die Korrektur. "Ein Zufall, unbegreiflich / wie jeder Zufall." Die prätendierte Einmaligkeit des Subjekts erscheint so als ein, wenn auch erstaunliches Zufallsprodukt. "Ich hätte weniger / einmalig sein können", räsoniert die Dichterin - vielleicht sogar "ein vom Wind getriebenes Teilchen der Landschaft." Hier - und nur hier - berührt sich Wislawa Szymborska mit Benns Regressionsgesang vom Algenblatt oder Dünenhügel.

Die polnische Dichterin hat zuviel Geschichte erlebt, um das menschliche Ich der Regression anheimzugeben. Eines ihrer schönsten Gedichte demonstriert geradezu paradigmatisch den uranfänglichen Élan vital des Menschen, seine unauslöschliche Entdeckerlust. "Kleines Mädchen zieht die Decke vom Tisch" heißt ein Gedicht der Achtzigjährigen. Es feiert die Neugier auf die Welt: "Jetzt werden die Dinge erprobt, / die sich nicht selbst bewegen können." Es schließt mit der ermutigenden Sentenz: "Dieser Versuch muß gewagt werden. / Und wird es."

Es scheint, daß solcher Optimismus der Grund von Wislawa Szymborskas Dichten ist. Sie selber bekannte: "Czeslaw Milosz sagte mir einmal, er beginne beim Schreiben mit dem ersten Satz. Und ich fange oft mit dem letzten an. Und dann ist es sehr schwer, sich zum Anfang des Gedichts hochzuarbeiten." Wie immer es mit der poetischen Arbeit bestellt war: Der Leser spürt von Anfang an, wie stark der positive Impuls ist, der das Gedicht trägt. Dieser Elan trägt auch jene Gedichte, die keine erfreulichen oder gar erbaulichen Schlüsse haben können. Ja, auch solche Motive, die sich der poetischen Gestaltung entziehen.

Natürlich hat der 11. September eine enorme Zahl von literarischen Gestaltungen hervorgerufen. Das meiste davon ist das Gegenteil von Kunst, nämlich gut gemeint. Manches, was man las, ist virtuos rhetorisch; also fast noch schlimmer. Anders Wislawa Szymborskas Gedicht "Fotografie vom 11. September". Es folgt einem Medium, das selbst schon Darstellung ist: "Es ist genügend Zeit, / daß die Haare wehen / und aus den Taschen Schlüssel, / kleine Münzen fallen." Das Gedicht endet in jener Sachlichkeit, die einzig Empathie erlaubt: "Nur zwei Dinge kann ich für sie tun - / diesen Flug beschreiben / und den letzten Satz nicht hinzufügen."

Wislawa Szymborskas Gedicht lebt von dem Paradox, daß der nichtgeschriebene letzte Satz als das letzte Wort erscheint, das überhaupt noch zu sagen ist. Ernste Sachlichkeit hat jene Würde, die den Opfern gerecht wird. Ja, das Jetzt der Katastrophe wird zum Augenblick einer profanen Erleuchtung. Solche Augenblicke gibt es öfters in dem schmalen Band der polnischen Dichterin, die immer noch erkundet, was man mit der Sprache ausrichtet, wenn man damit die Dinge der Welt bewegt, "wenn unter der schreibenden Hand / auch nur ein Ding auftaucht". Das letzte Gedicht des Bandes behauptet mit schöner Sicherheit: "Eigentlich könnte jedes Gedicht / ,Augenblick' heißen." Wer möchte der wunderbaren Wislawa Szymborska widersprechen?

Wislawa Szymborska: "Der Augenblick. / Chwila." Gedichte. Polnisch und deutsch. Übertragen und herausgegeben von Karl Dedecius. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 112 S., geb., 11,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Yaak Karsunke zeigt sich überrascht von der thematischen Vielfalt der 30 Gedichte des Bandes. Sprachliche und philosophische Reflexionen seien genauso vertreten wie eine Begegnung mit der "Ersten Liebe" oder das Gedicht "Ein kleines Mädchen zieht die Decke weg". Und alle Gedichte, betont der Rezensent, würden dem Anspruch der polnischen Nobelpreisträgerin gerecht, die Poesie müsse über ihre themen "redlich und zurückhaltend" reden. Insbesondere das titelgebende Gedicht "Der Augenblick" stellt für den Rezensenten ein Musterbeispiel an "täuschend unaufwendiger Einfachheit" dar. Der Autorin gelinge diese scheinbare Einfachheit dabei stets auf "hohem Reflexionsniveau", betont Karsunke, beispielsweise in der Zeile: "und oben die Vögel im Flug in der Rolle fliegender Vögel". Wohl von den Vögeln angeregt bezeichnet Karsunke die Kunst der Poesie der Wislawa Szymborska an einer Stelle als: "schwebende Anmut".

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