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Der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule hat die deutsche Öffentlichkeit in Atem gehalten. Dass ausgerechnet in einer pädagogischen Modellschule sexuelle Übergriffe stattgefunden haben, schockierte die Menschen und viele wollten die schreckliche Wahrheit zuerst nicht glauben, weil die Ereignisse ihre Vorstellungskraft überstiegen. Dazu sagt Jürgen Dehmers: Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu! Mittlerweile ist bekannt, dass über hundert Schüler Opfer des Missbrauchs waren und mehr als ein Dutzend Lehrer und Erzieher zu den Tätern gehörten. Mit Jürgen Dehmers berichtet zum…mehr

Produktbeschreibung
Der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule hat die deutsche Öffentlichkeit in Atem gehalten. Dass ausgerechnet in einer pädagogischen Modellschule sexuelle Übergriffe stattgefunden haben, schockierte die Menschen und viele wollten die schreckliche Wahrheit zuerst nicht glauben, weil die Ereignisse ihre Vorstellungskraft überstiegen. Dazu sagt Jürgen Dehmers: Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu! Mittlerweile ist bekannt, dass über hundert Schüler Opfer des Missbrauchs waren und mehr als ein Dutzend Lehrer und Erzieher zu den Tätern gehörten. Mit Jürgen Dehmers berichtet zum ersten Mal eines der Opfer persönlich von den Vorfällen. Dehmers gelang es bereits als jungem Mann, trotz massiver Traumatisierungen und ideologischer Gehirnwäsche, ein Leben nach der Odenwaldschule zu finden und Distanz zwischen sich und den schrecklichen Erlebnissen zu schaffen. Das Buch demaskiert die Täter und ihre Helfer, die schutzbefohlenen Kindern unheilbare körperliche und seelische Verletzungen zugefügt haben. Darüber hinaus gelingt es dem Autor, das System Odenwaldschule zu beleuchten und dem Leser die Hintergrundinformationen zu liefern, wie es dazu kommen konnte, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern zum Alltag einer hoch gelobten Reformschule gehörte, in der die Schule alles war und das einzelne Kind nichts. Ein Aufklärungskrimi, der spannend bleibt bis zum Schluss, obwohl die Täter ab der ersten Seite bekannt sind.
Autorenporträt
Jürgen Dehmers ist das Alter Ego eines Autors, der als Schüler in den 80er Jahren die Odenwaldschule besuchte, dort eines der Opfer des Schulleiters Gerold Becker wurde und seit über einem Jahrzehnt Täter, Mitwisser, Schweiger und Vertuscher mit ihren Verbrechen konfrontiert. Jürgen Dehmers nutzt die Medien zur Anklage der Verantwortlichen, da durch das deutsche Rechtssystem wegen unzureichender Verjährungsfristen keine juristische Gerechtigkeit mehr geschaffen werden kann. Im Jahr 2010 gelang ihm die weitreichende Vernetzung der Betroffenen, und er wurde endlich von einer breiten Öffentlichkeit gehört. 2012 wurde Jürgen Dehmers für seinen Mut mit dem "Geschwister-Scholl-Preis" ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2011

Hier war
alles erlaubt
Jürgen Dehmers schildert Alltag und
Missbrauch an der Odenwaldschule
Dieses Buch ist wie ein schneller Basslauf in einem Rocksong, es wummert los und erfasst den Leser an Kopf und Körper. Jürgen Dehmers erzählt seine Lebens- und Leidensgeschichte, zugleich ist es die Geschichte eines kraftvollen Aufbegehrens. Dehmers – ein Pseudonym – hat in den achtziger Jahren die Odenwaldschule besucht, beinahe täglich war er den sexuellen Übergriffen seines Direktors Gerold Becker ausgesetzt. Jahrzehntelang ist die Geschichte der Gewalt im Odenwald vertuscht worden, erst im vergangenen Jahr wurde das ganze Ausmaß öffentlich bekannt. Ohne die Beharrlichkeit von Dehmers, der gemeinsam mit einem früheren Mitschüler schon Ende der neunziger Jahre Alarm geschlagen hatte, wären die Verbrechen vielleicht nie ans Licht gekommen.
Dehmers schreibt zornig, mitunter trocken humorvoll oder sarkastisch, er schont nichts und niemanden. Der Verlag hat darauf verzichtet, in den Stil einzugreifen, das Buch entspricht Dehmers’ lockerem Sprechduktus: Nachdem er es endlich geschafft hatte, sich gegen den Lehrer zu wehren, „war ich auf mich selbst gestellt. Das war nicht einfach, aber das war jetzt zu bewältigen. Es sollte nach diesem Vorfall viele Jahre dauern, bis ich mich wieder auf eine Bindung einlassen konnte. Okay, Jahrzehnte.“
Als Jugendlicher hatte sich Dehmers in den Suff geflüchtet, sich später befreit von der Sucht und beschlossen, nicht länger zu schweigen. Er trieb exzessiv Sport, aber Körper und Seele sind bis heute verletzt. Mit dem Buch versucht Dehmers, „die Definitionsmacht über meine Erlebnisse zu behalten“. Was ausgesprochen ist, könne in der Tiefe der Seele nicht mehr weiterwuchern. Und so lässt er alles raus: die Kinderpornos im Zimmer des Direktors, die Vaseline-Dose mit Kotspuren, die täglichen Weckattacken mit dem Griff an den Penis. Dehmers beschreibt die Ignoranz der Lehrer, Behörden und Medien.
Über die Übergriffe etlicher Lehrer ist in den vergangenen Monaten vieles zu lesen gewesen. Umso interessanter ist, was Dehmers noch über den Alltag in dem hessischen Internat berichtet, dieser vermeintlichen Vorzeigeschule der Reformpädagogik. Bei einer Begrüßungsrede soll der Schulleiter gesagt haben: „Hier ist alles erlaubt.“ Schüler konnten ihre Kameraden ungestraft drangsalieren. Mitschüler wurden in Spinde gesperrt, unter die Dusche gezerrt, zum Essen eines Fresspakets gezwungen – „mir wurde ziemlich schnell klar, dass ich in einer archaischen Urgesellschaft gelandet war, in der sich die Erwachsenen hauptsächlich mit sich selbst beschäftigten.“
Zugleich hielten die Lehrer die Fahne hoch für die Ideale einer „kindgerechten“ Pädagogik. Und der Zeitgeist der Linken blies kräftig im Tal von Oberhambach: Über die Startbahn-West sei so leidenschaftlich diskutiert worden, „als ginge es darum, die zweite Französische Revolution zu beginnen.“ Man war für den Weltfrieden und gegen die Nachrüstung. Wen kümmerte die alltägliche Gewalt auf dem Schulgelände?
An der Odenwaldschule, die das Vertrauen liberaler Persönlichkeiten wie Richard von Weizsäcker und Marion Gräfin Dönhoff genoss, ist auch über die RAF diskutiert worden. Dehmers erzählt von einer Schulveranstaltung mit einem Rechtsanwalt eines verurteilten Terroristen. Bei der Diskussion sei der Täter zum Opfer stilisiert worden. „Man bestätigte sich gegenseitig, im Recht zu sein mit seinen Ansichten vom ,Schweinesystem‘“.
Dehmers, der an anderer Stelle schreibt, „Ideologie kotzt mich an“, lässt sich nicht dazu hinreißen, das Versagen der Odenwaldschule als Sieg konservativer Pädagogik zu feiern. Doch allen Progressiven, für die die Odenwaldschule ein Vorbild war, führt das Buch nicht nur den sexuellen Missbrauch vor Augen, sondern ein ganzes Geflecht an politischen und pädagogischen Verirrungen.
Im Herbst 1987 gaben Schüler des Internats eine „anarchistische SchülerInnenzeitung“ heraus. Auf dem Titel: Fotos von drei RAF-Terroristen („10 Jahre Stammheimer Morde – Nichts wird vergessen!“). Dehmers schildert, wie das Blättchen freimütig für Pädophilie eintrat. Eine Kopie der Zeitung liegt der SZ vor – man glaubt es kaum, was da offen an der Schule kursieren konnte: Eine Lehrerin lobt in einem Leserbrief die pornographischen Bilder aus der vorhergehenden Ausgabe und schwärmt davon, wie auf einem der Fotos ein Mann „liebevoll sein Geschlecht betrachtet und an dem seines Partners lutscht“. Auf den Beitrag über Pädophilie geht sie nicht ein. Dafür darf eine anonyme Autorin, die angeblich an einer anderen Schule unterrichtet hatte, auf fünf dicht beschriebenen Seiten in drastischer Sprache zur Pädophilie aufrufen. Angeblich würden ja auch Achtjährige das so wollen.
Wer das Buch von Jürgen Dehmers liest, fragt sich, warum dieses Internat nicht schon vor Jahrzehnten geschlossen worden ist. Und man fragt sich, ob die Odenwaldschule die Geschichte je bewältigen und ihre Opfer endlich angemessen entschädigen kann. Dehmers scheibt: „Dieses Programm hatten meine Eltern nicht gebucht.“
TANJEV SCHULTZ
JÜRGEN DEHMERS: Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 319 S., 19,95 Euro.
Der Zeitgeist der Linken
blies kräftig im
Tal von Oberhambach
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Nach den zahlreichen Missbrauchsfällen des vorigen Jahres sichtet Heinz-Elmar Tenorth in einer Sammelbesprechung die ersten analytischen Auseinandersetzungen zu diesem Thema. "Beeindruckend und bedrückend" empfand Tenorth den autobiografischen Bericht Jürgen Dehmers aus dem "System Becker", das der Leiter der reformpädagogischen Odenwaldschule dort über Jahre etablierte. Dehmers' Bericht macht für Tenorth klar, dass der Missbrauch Methode hatte und durch ein Netz des Schweigens gedeckt wurde, dass innerhalb und außerhalb der Reformschule entstanden ist. Die "Schreckensgeschichten" kamen schon Ende der neunziger Jahre ans Licht, wie Tenorth hervorhebt, als Dehmers einen Bericht über den systematischen Missbrauch an der Odenwaldschule in der FR veröffentlichte. Für Tenorth liefert dieses Buch eine deutliche Antwort darauf, warum der pädagogische Skandal erst jetzt politische Aufmerksamkeit erlangt hat. So systematisch wie das Schweigen, fasst Tenorth zusammen, waren auch die "Vertuschungsstrategien" von Lehrern, Eltern und nicht zuletzt einer unkritischen Öffentlichkeit, die der Reformpädagogik lange Zeit positiv gegenüberstand.

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