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"Rummelplatz" ist das berühmteste ungedruckte Buch der DDR-Literatur. In keinem anderen Roman sind die Gründerjahre in Ost und West so ungeschönt, problembewußt und dabei literarisch gelungen dargestellt. Nun wird er erstmals vollständig publiziert.
Der Krieg ist erst seit vier Jahren zu Ende, und schlimmer als Ruinen sind die Entwurzelung und der desolate Zustand der Menschen. In der "Wismut", dem riesigen Abbaubetrieb für Uranerz [im Erzgebirge], treffen sie aufeinander, die Kriegsheimkehrer und Glücksritter, die Strafgefangenen und die Idealisten, deutsche Bergleute und sowjetische…mehr

Produktbeschreibung
"Rummelplatz" ist das berühmteste ungedruckte Buch der DDR-Literatur. In keinem anderen Roman sind die Gründerjahre in Ost und West so ungeschönt, problembewußt und dabei literarisch gelungen dargestellt. Nun wird er erstmals vollständig publiziert.

Der Krieg ist erst seit vier Jahren zu Ende, und schlimmer als Ruinen sind die Entwurzelung und der desolate Zustand der Menschen. In der "Wismut", dem riesigen Abbaubetrieb für Uranerz [im Erzgebirge], treffen sie aufeinander, die Kriegsheimkehrer und Glücksritter, die Strafgefangenen und die Idealisten, deutsche Bergleute und sowjetische Schachtleitung.
Dieser Staat im Staate spiegelt die Situation in der neugegründeten Republik, den verbissenen Aufbauwillen ebenso wie sich abzeichnende Fehlentwicklungen, die im 17. Juni 53 kulminieren. - Werner Bräunig hat in seinem Roman ein so ungeschminktes Bild der frühen Jahre gegeben, daß er auf dem berüchtigten 11. Plenum 65 angegriffen und eine Veröffentlichung unmöglich wurde.

Autorenporträt
Werner Bräunig, geb. 1934, arbeitete nach umtriebigen Jugendjahren in Bergwerken, Fabriken, als Journalist und Dozent. Verfasste 1959 für die Bitterfelder Konferenz den Aufruf "Greif zur Feder, Kumpel". Als schreibender Arbeiter galt er als große Hoffnung der jungen DDR-Literatur. Er starb 1976 in Halle.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2007

Es gräbt der Bergmann nach Verrat
Werner Bräunigs „Rummelplatz”: Ein bedeutendes Nachkriegswerk, der Arbeiterroman eines Schriftstellers, den die SED zerstört hat Von Franziska Augstein
Es gibt eine Form wohlstandsbürgerlicher Literatur, die derzeit in der Bundesrepublik viel verfasst wird: Geschrieben von jungen oder halbwegs jungen Autoren, handeln diese Bücher von den bis zur Kenntlichkeit entstellten Eindrücken, die sich – die Rezensentin weiß, wovon sie redet – während der ersten drei, vier Dekaden eines sozial problemlosen und politisch unbeschwerten Lebens ansammeln. Der Amerikaner Jonathan Franzen, er ist selbst Ende vierzig, fasst diese Art der jungen Schriftstellerei so zusammen: Die Autoren erzählten von ihrer interessanten Kindheit, von ihrem interessanten Studium und von ihrem interessanten Jahr im Ausland.
Aus der neuen Literatur dieses Frühjahrs sticht ein Roman markant hervor, dessen Autor etwa dreißig Jahre alt war, als er ihn schrieb. Heuer im Mai wäre Werner Bräunig 73 Jahre alt geworden. „Rummelplatz” verfasste er in der ersten Hälfte der sechziger Jahre. 1976 starb er, verzweifelt und vom Alkohol zerrüttet. Er war wohl ein labiler Mensch, aber ohne die Initiative der DDR-Regierung und ihrer Funktionäre wäre er vermutlich noch am Leben. Wenig Schlimmeres gibt es für einen Arbeiter, als zu wissen, dass er gute, solide Arbeit geleistet hat, und diese dann von vielen Seiten, ohne dass er ganz begreifen könnte, warum, niedergemacht zu sehen. Das aber ist es, was Werner Bräunig geschah.
„Rummelplatz” handelt von frühem Leid und mäßiger Freud’ junger Erwachsener. Das ist freilich das einzige, was er mit der eingangs erwähnten Strömung der deutschen Gegenwartsliteratur gemein hat. Das Buch spielt in den ersten Jahren der DDR und reicht bis zum 17. Juni 1953. Der Kalte Krieg nötigte damals die Sowjetunion, ihr Atomprogramm zu forcieren. Dazu brauchte sie Uran, das in der DDR leichter zugänglich war als in der UdSSR. Im Erzgebirge wurde unter sowjetischer Aufsicht eine Firma gegründet, die das Bruderland mit der begehrten Materie versorgte. Die Bergarbeiter waren gut bezahlt, sie mussten allerdings ihren Ausweis abgeben und erhielten stattdessen ein von sowjetischen Stellen ausgestelltes Papier: „Die Wismut”, wie das Unternehmen salopp genannt wurde, war extraterritorial. Die dort beschäftigten Bergleute stehen im Mittelpunkt von Bräunigs Roman. Der Text musste den DDR-Oberen suspekt sein. Dies nicht bloß deshalb, weil die Wismut darin eine Rolle spielt, sondern weil es um echte Arbeiter geht, nicht um die lächelnden Abziehbilder, die in der Vorstellung der SED-Oberen das Volk ausmachen sollten.
Bei Bräunig wird viel gesoffen, die Steigerung des schalen Vergnügens in der Kneipe ist der Rummelplatz, die Leute prügeln sich. Aber alle haben eine Geschichte, Sehnsüchte, Ängste, kurz: ein Herz. Das unterscheidet sie von den Apparatschiks, die Bräunig auch schildert. Christian Kleinschmidt, der Professorensohn, wird zum Studium vorerst nicht zugelassen. Zuvor soll er sich in der Produktion bewähren. So gelangt er, ein schmales Hemd, in den Bergbau. Dort begegnet er Mehlhorn, dem Anpasser, und Seidel, der die Produktionsnormen übererfüllt, dabei jedoch im Interesse aller Kumpel darauf bedacht ist, dass die Normen nicht erhöht werden. Hermann Fischer, der alte Steiger, war wegen seiner linken Überzeugungen im KZ, nun versucht er, das neue Deutschland aufzubauen und die jungen Leute gut anzulernen. Ruth, seine Tochter, arbeitet in der Papierfabrik im nahe des Bergwerks gelegenen Bermsthal, das aussieht, „als hätte jemand ein sehr altes Dorf mit einer sehr schmutzigen Kleinstadt und einer sehr finsteren Fabrik ineinandergerührt und dann zwischen zwei Bergen auf die Erde geschüttet”.
Die Papierfabrik leidet darunter, dass die besten Arbeiter zur Wismut überlaufen, wo sie besser bezahlt werden. Eines Tages setzt sich fast die gesamte Betriebsleitung in den Westen ab. Als aber Ruth Fischer vorschlägt, man solle um des Unternehmens willen auch Frauen die großen Maschinen führen lassen, gibt es in der Betriebsversammlung einen Aufstand. Mögen die Arbeiter im Sozialismus geknechtet sein, so gibt es doch immer noch eine Kaste darunter: die Frauen.
Eine Zeit lang sieht es so aus, als könne aus Ruth und dem jungen Personalleiter Nickel ein Paar fürs Leben werden, bis letzterer einen SED-Lehrgang besucht, von dem er als Pappmaché-Funktionär zurückkehrt. Eine Zeit lang hat auch Peter Loose ein Auge auf Ruth geworfen. Sein Vater war Arbeiter und SS-Mann, und der Sohn hat eine unschöne Kindheit hinter sich, die in groben Zügen derjenigen Bräunigs ähnelt. Peter Loose ist etwas haltlos, was Bräunig schon in seinem Nachnamen hat anklingen lassen, wie er überhaupt seine Figuren mit anspielungsreicher Findigkeit benannt hat. Gleichwohl ist der Bergmann Loose ein anständiger Kerl, was entscheidend dazu beiträgt, dass er wegen angeblicher Hetze gegen den Staat ins Gefängnis gesteckt wird. Nein, das System der DDR kommt nicht gut weg in diesem Roman: „Ein bisschen Anpassungsfähigkeit fehlt dir und ein bisschen Arschkriecherei, ein bisschen Gebetsmühlendreherei und ein bisschen fortschrittsträchtige Skrupellosigkeit.”
Die Kritik an den politischen Verhältnissen ist nicht Programm des Textes. Sie entsteht vielmehr, wie ein unausweichlicher Nebeneffekt, aus der psychologisch dichten Erzählung, die von rarer Artistik ist: Bräunig vermag mehr als zwanzig Charaktere so zu schildern, dass der Leser nicht bloß jeden einzelnen liebend gern begleitet, sondern zudem – was nicht jedem großen Schriftsteller gelingt – keinerlei Mühe hat, sie alle auseinanderzuhalten. Ihre Unverwechselbarkeit rührt aus ihrem Leben und Fühlen. Bräunig hat selbst in einer Papierfabrik gearbeitet, und im Bergbau war er auch. Sogar im Gefängnis hatte er in seiner Jugend eingesessen.
Er verfügt über das fachliche Vokabular, das der Produktion und das nach Feierabend in der Kneipe. Seine große Kunst zeigt sich auch darin, dass er die Arbeiter nicht schlauer darstellt, als sie sind, dabei aber psychologisch hochdifferenziert. Seine Methode ist eine raffinierte Abwandlung des inneren Monologs: Er schildert die innere Stimmungslage seiner Figuren; er beschreibt sprachlich reich und doch stets innerhalb ihrer Bildwelt, was sie empfinden, möchten sie realiter auch nicht in der Lage gewesen sein, es mit solcher Selbsteinfühlung zu formulieren. Seine Arbeiter sind Menschen, mit denen auch heutige Porschefahrer fühlen können, sofern sie nur literarisch empfindsam genug sind.
Bräunig hat „Rummelplatz” dem Genre des Entwicklungsromans zugeordnet. In der Tat weckt sein Buch Assoziationen mit James Dean und den Halbstarken, die er darstellte. Jene Passagen des Romans, die im Westen spielen, erinnern an die Enttäuschungen über die korrupten Seiten der jungen Konsum- Demokratie, denen man in Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns” begegnet. Je nachdem, wie der Leser gestimmt ist, wird er mit Wehmut oder mit Sarkasmus konstatieren, dass Werner Bräunig, der an und in der DDR zerbrochen ist, genau das geschrieben hat, was sein Staat eigentlich fördern wollte: einen Arbeiterroman, ein Lob auf die Arbeit.
Eine grandiose Episode handelt davon, wie Christian, der Professorensohn, im Stollen ein Einvernehmen zwischen dem Berg, den Maschinen und seinen eigenen Bewegungen findet und daraus Befriedigung zu ziehen vermag. Bräunig zeigt, dass es auch im proletarischen Milieu die klassisch literarische Form der Fallhöhe gibt. Freilich sind es bei ihm nicht die in ihr Leben eingeschirrten Individuen, es ist die Arbeit selbst, die Fallhöhe hat. Die Arbeit, die „Abenteuer und Erfüllung, Spiel und Schöpfung” hätte sein können, wurde in der DDR, die sich als „Arbeiter- und Bauernstaat” anpries, von der Staatsführung und ihren Funktionären ruiniert.
In dem vorzüglichen Nachwort von Angela Drescher liest man, dass Werner Bräunig Pech gehabt hat: Ein Vorabdruck eines Kapitels aus „Rummelplatz” erschien 1965 in der Literaturzeitschrift des Schriftstellerverbandes – just als die SED das jugendliche „Rowdytum” für die eigenen politischen Fehler verantwortlich machte. Bräunig galt als hochbegabtes Talent, er war SED-Mitglied. Aber sein Text eignete sich leider allzu gut als Exempel für die angeblich schädlichen Tendenzen. Walter Ulbricht wetterte dagegen. Dass Christa Wolf und Anna Seghers den Kollegen verteidigten, nützte nichts. Bergarbeiter unterzeichneten einen der „spontanen” Protestbriefe, wie sie von der Partei gern bestellt wurden. Bräunigs Verlag mochte das Manuskript nicht mehr drucken. Der Autor wurde erst an seinem Roman und dann an sich selbst irre.
Das aus verschiedenen Fassungen herausgeschälte Manuskript enthält kleine Unstimmigkeiten. Sicherlich hätte es etwas anders ausgesehen, wenn Bräunig selbst es beendet hätte. Das tut nichts zur Sache. „Rummelplatz” ist ein großer deutscher Nachkriegsroman. Hätte Bräunig weitergearbeitet, wäre er ohne weiteres neben Günter Grass, Martin Walser und Heinrich Böll angekommen. Mit der Sprache konnte er umgehen, nicht aber mit der spießigen Gemeinheit des SED-Systems. Am Ende war er so zerstört, wie es einigen der jungen Menschen blüht, die er geschildert hat.
Anpassungsfähigkeit fehlt dir und ein bisschen Arschkriecherei . . .
Abenteuer und Erfüllung, Spiel und Schöpfung hätte die Arbeit im Sozialismus sein sollen
Werner Bräunig
Rummelplatz
Hrsg. von Angela Drescher. Aufbau Verlag, Berlin 2007. 750 S., 24,95 Euro.
Es wird viel gesoffen, aber alle haben eine Geschichte, Sehnsüchte, Ängste, kurz: ein Herz. Die Kumpel des Uranbergbaus Wismut Foto: Ullstein
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007

Es geschah in der DDR
Arbeitertod: Werner Bräunigs großer Roman "Rummelplatz" / Von Tilman Spreckelsen

Natürlich kann man die Geschichte von Werner Bräunig und seinem verhinderten Buch auch so erzählen: Ein ostdeutscher Schriftsteller und Dozent am Leipziger Literaturinstitut schreibt einen Roman, der in den ersten Jahren der DDR spielt. Ein Kapitel wird 1965 in der Zeitschrift "neue deutsche literatur" vorabgedruckt, die Staatsführung erkennt darin eine Verunglimpfung und tritt eine Kampagne gegen das Buch los. Es kommt zu den üblichen Verurteilungen des Autors durch Funktionäre und zu unüblichen Solidarisierungen durch Kollegen wie Christa Wolf. Schließlich ist klar, dass der Roman nicht mehr erscheinen wird, obwohl ihn kaum jemand im Ganzen kennt. Der gebrochene Autor kommt nicht mehr auf die Beine, trinkt zu viel und stirbt schließlich 1976 mit gerade einmal zweiundvierzig Jahren. Erst in diesem Frühjahr, reichlich vierzig Jahre nach seiner Entstehung, kommt der Roman unter dem Titel "Rummelplatz" ans Licht - ein Akt später Gerechtigkeit oder, wie der Verlag auf der Banderole verkündet, "eine literarische Sensation".

So könnte man es also sehen; nichts davon ist falsch, doch das Bild, das da entsteht, ist schief: Es sieht im Schriftsteller nur den Dissidenten, im Roman nur dessen Haltung zum Staat, es reduziert das vielschichtige Buch auf einen Kommentar zur DDR und lässt die erhellenden Szenen aus der jungen Bundesrepublik außer Acht. Bräunigs Gesamtwerk, das Kurzgeschichten, Essays, Filmszenarien, Reportagen und Gedichte umfasst und mit "Rummelplatz" eng zusammenhängt, verblasst neben dem anstößigen Roman.

Denn natürlich kam "Rummelplatz", an dem Bräunig seit Anfang der sechziger Jahre gearbeitet hatte, keineswegs aus dem Nichts. Der großangelegte Gesellschaftsroman, der im Wesentlichen auf dem Gelände des Bergwerkunternehmens "Wismut" im Erzgebirge spielt, fügt sich in den dezidiert realistischen Anspruch, den der aus kleinen Verhältnissen stammende Autor in allen seinen Texten erhob. War sein Leben vor der Schriftstellerkarriere bewegt - er arbeitete als Bergmann, Schweißer, Papiermacher, Heizer und Journalist, wurde ins Erziehungsheim gesteckt und als innerdeutscher Schmuggler jahrelang inhaftiert -, so ist es der Roman in seiner Anlage nicht minder.

Bräunig greift weit aus in Zeit und Raum, er blendet Szenen aus dem "Dritten Reich" und den Jahren zwischen Kriegsende und Republikgründung ein und richtet den Blick weit über den Schauplatz der Wismut-AG hinaus. Lange, ausgesprochen geglückte Passagen zeigen erneut, dass der Luftkrieg sehr wohl eine Rolle für die deutsche Literatur spielte, welche Präsenz die Erinnerung an die Bombennächte in den Köpfen der Davongekommenen einnahm, aber auch, wie gut man sich noch der deutschen Kriegsverbrechen bewusst war, ob man sie nun als Täter, Zeuge oder lediglich vom Hörensagen kannte.

All das sprengt beinahe die vielen Seiten des Romans mit dem sprechenden Arbeitstitel "Der eiserne Vorhang" und dem Anspruch, lediglich der Auftakt zu einem noch größeren Werk zu sein, zumal Bräunigs Prosa, deren häufige Tempowechsel ein ausgezeichnetes Gespür des Autors für Rhythmus offenbaren, mitunter erfreulich maßlos wird: Da gibt es Aufzählungen mit geradezu rabelaishaften Wortkaskaden, da gibt es Szenen wie im seinerzeit vorabgedruckten Rummelplatz-Kapitel, in denen sich die anbrandende, ekstatische Menschenmenge oder die freischwingende große Schaukel in ihren ausgreifenden Bewegungen geradezu sinnlich im Duktus dieser Prosa abbildet. Oder der Wind, der auf seiner deutschen Reise alles in die dehnbaren Strukturen der Sätze Bräunigs presst, was eben noch geht: "Die Nacht des zwölften zum dreizehnten Oktober", so, mit der Gründung der DDR, hebt das Buch an, das mit dem 17. Juni 1953 enden wird, "schwieg in den deutschen Wäldern; ein müder Wind schlich über die Äcker, schlurfte durch die finsteren Städte des Jahres vier nach Hitler, kroch im Morgengrauen ostwärts über die Elbe, stieg über die Erzgebirgskämme, zupfte an den Transparenten, die schlaff in in den Ruinen Magdeburgs hingen, ging behutsam durch die Buchenwälder des Ettersberges hinab zum Standbild der beiden großen Denker und den Häusern der noch größeren Vergesser, kräuselte den Staub der Braunkohlegruben, legte sich einen Augenblick in das riesige Fahnentuch vor der Berliner Universität unter den Linden, rieselte über die märkischen Sandebenen und verlor sich schließlich in den Niederungen östlich der Oder."

Bräunig verfolgt von Anfang an mehrere, ineinander verwobene Lebensläufe: Er lässt den Außenseiter Peter Loose und den Professorensohn Christian Kleinschmidt auf den alten Bergwerksarbeiter und Kommunisten Hermann Fischer treffen. Um diesen Kern herum führt Bräunig ein Ensemble von Funktionären, Kleinbürgern und Arbeitern im Osten, von Großindustriellen und Journalisten im Westen, und ein zurückgekehrter Emigrant sitzt zwischen allen Stühlen. Alle kommen ausgiebig in inneren Monologen zu Wort, nicht selten steht dabei Weltanschauung gegen Weltanschauung, und hinter diesen langen, jedoch prägnanten Bewusstseinsströmen der meistens gar nicht besonders redseligen Männer (und wenigen Frauen) wirken die eigentlichen Dialoge geradezu randständig. Dabei taugt der damals noch sowjetisch kontrollierte Uranbergbau der Wismut durchaus als Mikrokosmos, zumal sich diese Welt mit der benachbarten Papierfabrik überschneidet und den Glücksrittern unter Tage die Facharbeiter gegenüberstehen, die aus einem Werk, dessen Besitzer in den Westen geflohen sind, einen sozialistischen Betrieb formen sollen.

Das ist Bräunigs literarisches Thema seit seinen Anfängen: Er will beschreiben, wie der Staat, in dem er lebt, geworden ist, wie er eben ist, und das Grundmissverständnis seiner mächtigen Kritiker gegenüber seinem Werk ist, dass sie seine Schilderungen des Gewesenen als Kritik am Gegenwärtigen lesen. Bräunig wiederum sieht nicht, dass er überwunden geglaubte Strukturen schildert, die keineswegs überwunden sind. Er, der seinen Staat, so scheint es, fest ins Herz geschlossen hatte, verfiel dem Fehler aller Liebenden: Er sah mehr in ihm, als dieser war.

Und Bräunig war bereit, die offensichtlichen Irrwege, die er eben auch überraschend deutlich wahrnahm, mit den besonderen Bedingungen zu entschuldigen, unter denen hier ein Arbeiter-und-Bauern-Staat aufgebaut werden sollte. Exemplarisch heißt es einmal über die ständig neu eintreffenden Arbeiter der Wismut: "Das war das Steiger-Einmaleins: Den richtigen Platz finden für jeden, für jeden Platz finden den Richtigen. Ein guter Satz. Nur hatte er eine Prämisse, die hieß: Zuerst für alle Plätze finden irgendeinen."

Und so ist das Bergwerk dann auch ein Sammelbecken für allerlei schräge Vögel, Karrieristen, Idealisten und Menschen wie den Außenseiter Peter Loose, in vielem ein Alter Ego des Autors: "Gesetze, dachte er, es gab nur ein Gesetz: Man musste sehen, aus jeder Sache das Beste herauszuholen", und trotzdem, ganz langsam, beginnt er damit, sich für seine Kollegen zu interessieren (einen solchen Weg hatte Bräunig ungleich grobschlächtiger schon 1957 in der Erzählung "Bohrproben" gezeichnet). Dieses Gesetz aber gilt auch für die Funktionäre, die jetzt scharenweise benötigt werden: Es stellen sich nur solche zur Verfügung, die sich davon persönlich etwas versprechen, weil sich die anderen raushalten.

Dass derlei, so ausufernd geschildert (die paar Gegenbeispiele wiegen da nicht viel), schon von vornherein die Druckerlaubnis für das Buch nicht gerade erreichbarer machte, wusste vermutlich auch Bräunig. "Da ist etwas falsch", lässt er dennoch Christian Kleinschmidt sagen, "und sie wissen es alle. An der Schule wählten sie auch immer den, der sich anbot, denn von denen, die gut gewesen wären, bot sich keiner an."

Natürlich bekommt vor allem auch der Westen sein Fett weg, dessen Industrielle in Bräunigs Augen mit Sabotage-Akten und Abwerbungen die zarte Pflanze der ostdeutschen Wirtschaft zum Verwelken bringen wollen. Vollends gerät ihm der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 zum wüsten Putschversuch, an dem Altnationalsozialisten zumindest mitwirken. Und gleichzeitig beschreibt er Willkürjustiz und Abgehobenheit der Funktionäre in der DDR: Sein Peter Loose wird wegen nichts ins Gefängnis geworfen, auch die Stasi lässt sich kurz sehen, und wenn es unter den vielen Stimmen, die sich zu Wort melden, einige gibt, hinter denen man die Haltung des Autors vermuten möchte, dann sind es die, die vehement für demokratischere Entscheidungen, für mehr Diskussionen, für eine größere Volksnähe der Parteiinstanzen plädieren.

Dass wir Bräunigs Text nun in einer vom Autor nach der Kampagne gegen ihn überarbeiteten Fassung lesen können, ist ein Glück, auch wenn die Entscheidung, einige politisch motivierte Streichungen zurückzunehmen, philologisch fragwürdig scheint. Dass Bräunig, der sich während der öffentlichen Diskussion gut geschlagen hat, dann später in einem Interview "Fehler" zugab, ist dagegen ein erschütterndes Beispiel dafür, was Zuckerbrot und Peitsche im Bereich der DDR-Kultureinrichtungen anzurichten vermochten. Es ist eine menschliche Tragödie und eine literarische: Die Fortsetzung des "Rummelplatz" bis zum Mauerbau und darüber hinaus - das wäre etwas gewesen!

Werner Bräunig: "Rummelplatz". Herausgegeben von Angela Drescher. Mit einem Vorwort von Christa Wolf. Aufbau-Verlag, Berlin 2007. 768 S., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die Geschichte dieses Romans und seines Autos hat es in sich und Yaak Karsunke erzählt sie in seiner Besprechung sehr differenziert. Die Geschichte Werner Bräunigs und seines Romans "Rummelplatz" ist sozusagen das traurige Beispiel für einen "genau beobachtenden und sprachbegabten" DDR-Autor, der an einer "ideologischen Selbstverpflichtung" scheitert. Werner Bräunig kehrte 1951 aus der Bundesrepublik in die DDR zurück, arbeitete zunächst als Schweißer und dann im Uranbergbau bei der Wismut AG, bis er 1961 ans Leipziger Literatur-Institut kam. Hier begann er seinen auf 600 Seiten angelegten Roman, dessen erste Kapitel recht drastisch die Arbeit bei der Wismut beschreiben und auszugsweise veröffentlicht wurden. Der "ideologischen Abweichung" bezichtigt, wird der Roman verboten, Bräunig verliert seinen Ruf und seine Arbeit, er stirbt 1976 im Alter von 42 Jahren an den Folgen des Alkohols. Doch die "literarische Sensation" und späte Rehabilitierung, als die der Verlag die erstmalige Komplettveröffentlichung annonciert, will Rezensent Karsunke den Roman nicht bewerten. Denn auch wenn die Schilderungen der Zustände bei der Wismut Ärger mit der Partei eingebracht haben, so sind doch seine Denunziationen des Aufstands vom 17. Juni 1953 als "faschistischen Umsturzversuch" wieder durchaus linientreu.

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"Dieses Buch hätte, wenn es nur erschienen wäre, Aufsehen erregt." Christa Wolf

"Hätte Bräunig weitergearbeitet, wäre er neben Grass, Walser und Böll angekommen." Süddeutsche Zeitung
»Einer der besten deutschen Nachkriegsromane. ... Sensationell ist, mit welcher erzählerischen Wucht und welcher emotionalen Eindringlichkeit ein verstorbener Autor uns Bewohner des wiedervereinigten Deutschlands an unsere gemeinsame Herkunft erinnert. ... Mit dem Pathos des Dabeigewesenen, aber der Lakonie des distanzierten Beobachters schreibt Bräunig einen Epochenroman von ganz unten, aus der Bergarbeiterperspektive. Düster, erratisch, existenzialistisch: Wie ein besonders sperriger Block Wahrheit ragt dieses Buch heraus aus der Kahlschlag-, Wandlungs-, Aufbau-, Produktions- und Ankunftsliteratur. ... Sein sarkastisch-unsentimentaler Stil, sein Sinn für die Sprache der Bergleute, seine lebendigen Dialoge, sein Anspielungsreichtum, seine dialektische Methode und vor allem seine Sensibilität suchen in der deutschen Gegenwartsliteratur ihresgleichen. « DIE ZEIT 20070503