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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2010

Fasching im Gehirn
Erst wollen ihm Fußballfans ans Leben, dann erzählen sie ihm ihres: Veit Pätzugs Epen aus einer deutschen Hölle

Der Fußball ist das, worum es hier nicht geht. Der Ball ist kein einziges Mal im Bild. Das Eigentliche ist das Drumherum: "Stehe ich auf Zehenspitzen, sehe ich die Kurve gegenüber. Vom Spielfeld selbst sehe ich nichts. Links Hans, rechts ein brauner Parka, oben dran ein Vollbart, unten dran Sandalen um staubige, lange Zehennägel. Wenn ich dort drauftrete, erlebe ich nicht mal den Anpfiff, denke ich und rücke zwei mögliche Zentimeter nach links."

Wie das so ist mit dem ersten Mal: Es verändert alles und für immer. Wer dreizehn ist und es ins Stadion geschafft hat, der darf auch rauchen und aus dem Flachmann trinken. "Aus dem benachbarten Parka steigt mir ein Konzentrat aus Fischbrötchen und Kneipe in die Nase. ,Dynamo! Dynamo!' Der Beton bebt. ,Schweine-BFC! Schweine-BFC! Schweine, Schweine, Schweine-BFC!' Noch eine Stunde bis halb drei. Der Schweiß rinnt hinunter bis in die Schuhe. Ich lehne mich an die bunt bestickte Jeansweste hinter mir, schließe die Augen und genieße das Rieseln einer nahenden Ohnmacht."

Es ist Herbst 1985. Und so fängt es an. So beschreibt Veit Pätzug in seinem Buch "Was wir niemals waren", wie man zum teilnehmenden Beobachter von etwas werden kann, das die einen hinreißt und die anderen abstößt - und für sensible Seelen bildet beides zusammen erst die Farben des Vereins.

Die von Dynamo Dresden sind schwarz und gelb. "Schwarzer Hals, gelbe Zähne" heißt ein spektakuläres Buch über die Fans des einst europaweit betörenden und heute nur noch drittklassigen Fußballklubs. Es ist ein Selbstporträt. Und die meisten von ihnen würden sehr zufrieden nicken, wenn man sagte, hier blickt man allem, was am Fußball, an Deutschland, am Osten beängstigend ist, tief in den übelriechenden Schlund. Es ist exakt das, was alle, die beim Fußball vor allem auf den Ball schauen, hassen, verleugnen oder verdammen, obwohl sie wissen, dass es dazugehört wie der Reifen ums Rad.

Wenn an diesem Wochenende die Bundesliga wieder anfängt, dann ist sie in ihren beheizten und überdachten Sitzplatzstadien weitgehend in einschläfernder Sicherheit. Zu diesem Zeitpunkt sind sie in den unteren Ligen schon seit ein paar Wochen wieder auf Tour und führen, vor allem in Ostdeutschland, zu Tode erschreckten Passanten vor, wie es gewesen sein muss, wenn im Dreißigjährigen Krieg die Söldnerhorden aufeinandertrafen. Was sind das für Rowdys, Tiere, Idioten, heißt es dann immer. Was treibt sie? Haben sie ein Hirn, und falls ja, was geht darin vor?

Eben das sagt "Schwarzer Hals, gelbe Zähne". Das Buch ist lange vergriffen. Im Herbst soll es neu aufgelegt werden, bis dahin kosten gebrauchte Exemplare bis zu 300 Euro. Und das ist kein Wunder. Bücher von Fußballfans und über Hooligans gibt es viele. Besonders aufregend sind sie oft nicht. Hier wird aber eine Mentalitätsgeschichte von später DDR, Wende und wiedervereinigtem Deutschland daraus - und es ist große, erschütternde Protokoll-Literatur, wie es sie seit den Siebzigern nicht mehr gegeben hat: Es ist das, was man hört, wenn man ein Stadion dröhnen hört - und wenn dann einer die einzelnen Stimmen herausfiltert und nach ihren Geschichten und Ansichten befragt.

Auch dieses Buch stammt von Veit Pätzug. Nun ist Pätzug allerdings überhaupt nicht der Typ, den man vor Augen hat, wenn von Fußball und Gewalt die Rede ist. Veit Pätzug, Jahrgang 1972, Familienvater, verheiratet mit einer Französin, eher Wein- als Biertrinker, ist ein leise lächelnder Mensch. Wir trafen uns vor ein paar Wochen, als im Fernsehen Deutschland gegen Serbien verlor; und wir saßen dabei in der Neustadt, jenem Viertel von Dresden, wo man im Zweifel für den ist, der nicht Deutschland heißt. Nach '89 musste man sich entscheiden: die Oase der Linksalternativen oder zu den Rechten im Rest der Stadt. Wer aber bei den Hausbesetzern war und zum Fußball wollte, musste sich heimlich hinschleichen.

Pätzug tut das bis zu jenem Samstag im November 1993, an dem Dresden gegen Leverkusen spielt und er hinterher aus der fahrenden Straßenbahn getreten wird. Nicht von Leverkusenern. Von Dynamofans. Pätzug überlebt knapp und geht nie wieder hin. Er zieht nach Halle, studiert Kommunikationsdesign. Dann muss er ein Thema für seine Abschlussarbeit finden. Und dann steht er doch wieder im Stadion. Dynamo spielt jetzt paar Ligen tiefer. Aber die Ränge sind fast so voll wie damals. Und eher noch lauter. Was dann passiert, ist halb Diplomarbeit, halb Traumaverarbeitung. Pätzug will an die Fotoalben dieser Leute und in ihre Köpfe. Und weil er sie reden lässt, reden sie auch. Sie wollen ihre Heldengeschichten ja auch mal irgendwo los werden.

Man muss es unbedingt als Literatur lesen, als heutige Form des Heldenliedes, mit all dem Epischen, Archaischen und Redundanten, das nun einmal dazugehört, wenn nichts als Kämpfe, Siege oder Niederlagen besungen werden.

"Union walzt die Treppe zu unserem Bahnsteig hoch. Ich war mit Leuten zelten bei Berlin, sowie die kommen, die Zeltplane rausgezerrt, die Zeltstangen gegriffen, und dann gehts zur Sache. Die Stangen krachen auf die Unioner Köpfe, volles Rohr. Einem Preußen fliegt die Brille aus'm Gesicht. Ich latsche ohne Absicht drauf, der guckt. Ich zu dem: ,Die brauchste nu ooch ni mehr.' Ging, gong, gibt's die Nächste. - Rock 'n' Roll auf großer Bühne. Meine Frau steht hilflos daneben . . ." Es ist, glaube ich, die einzige Frau, die überhaupt irgendwo auftaucht.

Soweit jedenfalls M., seit den Siebzigern dabei, zwei Meter groß, Arme so dick wie des Interviewers Beine. Für das Prügeln hat er mehr Vokabeln als die Inuit für Schnee: Dauernd wird jemand "auf die Wiese gelegt" oder "schlafen geschickt". Er hat "Leute gesehen, die keinen besonders gesunden Eindruck mehr machten". Jedes Abenteuer lebt durch die Nähe des Todes, den es umkreist, sagt Jünger. Solches Lagerfeuerpathos kann M. locker: "Die Sense mäht willkürlich. Es gibt Leute, die fielen besoffen aus dem fahrenden Zug und leben noch immer. Aber da waren auch Leute, die viel zu jung ein Messer in den Bauch bekamen und daran verreckten. So ist das Leben. Es kann 14.30 Uhr vorbei sein oder noch achtzig Jahre weitergehen - du kannst es dir nicht aussuchen."

Wer wissen will, wo der rechte Mob herkam, der in den Neunzigern das Land verheerte, der muss in den Stadien der DDR-Oberliga anfangen. 1987 geht es im Uefa-Cup nach Moskau: "Selbst das offizielle Ordnungspersonal von Dynamo und der FDJ in dem Zug war so was von breit, die klopften bei uns am Abteil an und grölten: ,Mein Führer, darf ich eintreten?'. Die absolute Entgleisung. Und das zu finstersten Zonenzeiten, und das Boot war ja voller Stasi . . ." Wollte oder konnte die nichts tun?

Wenn Pätzugs zeitgeschichtliche Protokolle in "Schwarzer Hals, Gelbe Zähne" etwas Episches haben, dann ist "Was wir niemals waren", sein neues Buch, in seinem Versuch, die eigene Faszination literarisch darzustellen, zugleich ein zeitgeschichtliches Dokument. Denn es ist nicht nur eine schnörkellosere Variante von Tellkamps "Turm" (verwitterte Villen an der Elbe, Vater Arzt, der Sohn in kirchlichen Friedenskreisen . . . nur dann eben nicht mit NVA, sondern mit Stadion); es ist auch ein Forschungsbeitrag zum Umgang der Stasi mit dem Thema. Pätzug hat einen früheren Stasihauptmann getroffen und in Fassungslosigkeit zugehört. Der Mann hatte noch mehr Vokabeln fürs Wegsperren als seine Klientel fürs Zuschlagen: "Tanzte einer aus der Reihe, ging die Gardine zu"; "Schlüssel rum und Suppe statt Schnaps. Was denken Sie denn?"; "Falls Skinheads über Schwule hergefallen sind, war das nicht eben ein Unglücksfall für den Staat. Gewisse Freiheiten hat man den jungen Leuten gelassen. Aber organisierten sich diese Truppenteile und wurden politisch, haben wir sie gesprengt." Und so weiter.

Vor diesem Hintergrund vielleicht kein Wunder, was nach der Wiedervereinigung los war. Es war womöglich die Schlagkraft der nüchterneren West-Hooligans, die hier erste Ansätze zur Zivilisierung lieferte: Irgendwann wurde Krafttraining wichtiger als Alkohol und Reichskriegsfahnen "Später gab's ja Szenen, wo Hools die Nazis aus dem Stadion geklatscht haben, weil die einfach keinen Bock mehr hatten auf diese Scheiße", erzählt ein Jüngerer. Und die ganz Jungen wollen weder Nazis noch Hooligans sein, sondern "Ultras" und sich nicht dauernd für das rechte Image schämen müssen. Heute hat eine latent linksorientierte "Elb-Kaida" manchmal Ärger mit der rechten "Saalefront" aus Halle, setzt aber im Stadion eher auf Optik als auf Handgreiflichkeit: Choreographierter Lärm und Pyrotechnik für das "Gehirnfasching".

Auch dies läuft also am Ende auf Affektkontrolle und Sublimierung hinaus. Und Pätzug hat sogar überlebt, dass er vor dem zweiten Band von "Schwarzer Hals, gelbe Zähne" ein entsprechendes Buch über die Fans von Lok Leipzig gemacht hat, den totalen Todfeind. Neben Magdeburg, versteht sich. Und dem BFC. Pätzug hat sogar ein Buch über die Fans von Hertha BSC in Arbeit, was schon deswegen einleuchtet, weil es natürlich "Frontstadt" heißen muss. Und weil Hertha jetzt endlich wieder da ist, wo Dynamo-Fans nie wieder wegwollen: Hauptsache unterhalb der Ersten Liga! "Das ist für mich Fußball: Du bist richtig dabei und feuerst die Truppe an, bis du deine Stimmbänder schmeckst. Du trinkst ein paar Bierchen, quatschst nach dem Spiel noch 'n bissel mit den Spielern, gehst auch mal rüber zum Gegner und sagst denen, wie sinnlos die mal wieder waren, und manchmal gibt's eben noch einen auf'n Zahn. Das reicht doch völlig, das ist doch super."

PETER RICHTER.

Veit Pätzug: "Was wir niemals waren", Thelem, 16,80 Euro. "Schwarzer Hals, gelbe Zähne 2: Fußballfans von Dynamo Dresden", SDV, 23,90 Euro. "Von Athen nach Althen: Die Fanszene von Lok Leipzig zwischen Europacup und Kreisklasse" (mit Thomas Franke), SDV, vergriffen

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

"Ein seltsames, ein seltenes Fußballbuch" hat Christoph Dieckmann anzuzeigen. Veit Pätzug, selbst Anhänger von Dynamo Dresden, spricht hier mit alten und neuen Fans des Fußballvereins. Als Vorzug des Buches verbucht Dieckmann, dass der Autor die zum Teil recht krassen Gewaltbekenntnisse in den Anekdoten der Interviewten kommentarlos stehen lässt. "Uriges Deutsch, unlackierte Fotos, Ekel und Faszination." Das ungefilterte Protokoll hilft dem Rezensenten offenbar, die Strukturen der Fangemeinde von Dynamo Dresden zu analysieren und deren Moral zu verstehen.

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