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Eine Heimat für aufmüpfige DDR-Literatur
Als "Nischenverlag für aufmüpfige DDR-Literatur" erwarb sich der Hinstorff Verlag Anfang der 1970er Jahre einen besonderen Ruf. Cheflektor Kurt Batt und Verlagsleiter Konrad Reich versammelten Autoren wie Franz Fühmann, Jurek Becker, Rolf Schneider, Klaus Schlesinger und Fritz Rudolf Fries um sich. Der Durchbruch gelang 1973 mit dem Buch "Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorf. Doch der Erfolg sollte sich als politisches Ärgernis herausstellen und zur De-facto-Absetzung des Cheflektors führen. Wie gelang der Aufstieg vom Provinz- zum…mehr

Produktbeschreibung
Eine Heimat für aufmüpfige DDR-Literatur

Als "Nischenverlag für aufmüpfige DDR-Literatur" erwarb sich der Hinstorff Verlag Anfang der 1970er Jahre einen besonderen Ruf. Cheflektor Kurt Batt und Verlagsleiter Konrad Reich versammelten Autoren wie Franz Fühmann, Jurek Becker, Rolf Schneider, Klaus Schlesinger und Fritz Rudolf Fries um sich. Der Durchbruch gelang 1973 mit dem Buch "Die neuen Leiden des jungen W." von Ulrich Plenzdorf. Doch der Erfolg sollte sich als politisches Ärgernis herausstellen und zur De-facto-Absetzung des Cheflektors führen. Wie gelang der Aufstieg vom Provinz- zum Kultverlag? Welche Strategien wurden im Zensurprozess angewendet und welchen Einfluss übten Partei und Staatssicherheit aus? Kerstin Hohner zeichnet anhand von umfangreichem Quellenmaterial und Gesprächen mit Autoren, ehemaligen Verlagslektoren und MitarbeiterInnen der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel die Geschichte und Editionspolitik des Verlages von 1959 bis 1977 nach und liefert einen detaillierten Einblick in die deutsche Literaturgeschichte nach 1945.

Erste vollständige Geschichte des DDR-Kultverlags
Autorenporträt
Kerstin Hohner, Jahrgang 1978, studierte Germanistik, Journalistik und Psychologie an der Universität Leipzig mit den Schwerpunkten Literaturgeschichte und Buchzensur in der SBZ/DDR. Sie war in verschiedenen Verlagen tätig und promovierte 2021 mit einer Arbeit über den VEB Hinstorff Verlag. Zu ihren Veröffentlichungen zählen zahlreiche Beiträge über die Literatur- und Verlagslandschaft der DDR. Seit 2017 arbeitet sie im Museum in der "Runden Ecke" mit dem Museum im Stasi-Bunker in Leipzig.  
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2022

Achtzehn Jahre, die die deutsche Literatur verändert haben

Zensur trifft Texte, meint aber Menschen: Kerstin Hohners materialreiche Geschichte des Rostocker Hinstorff-Verlags zu dessen Glanzzeiten in der DDR.

Zu Beginn der Siebzigerjahre tauchte in Berichten über die aufregendste neue deutsche Literatur immer wieder der Name eines Verlags auf, den bislang nur Spezialisten für Plattdeutsch und für maritime Fachbücher gehört hatten: Hinstorff in Rostock. Einst bekannt geworden mit den Werken von Fritz Reuter, erschienen in dem 1831 gegründeten Unternehmen plötzlich Werke von Autoren wie Franz Fühmann, Fritz Rudolf Fries, Jurek Becker, Rolf Schneider oder Klaus Schlesinger - Werke, die nicht nur in der DDR, sondern ebenso in der Bundesrepublik und vielen anderen Ländern auf große Resonanz stießen. Mit Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." gelang 1973 sogar ein internationaler Bestseller, an dem sich ganze Generationen von Schülern abgearbeitet haben. Heute existiert Hinstorff - als einer von wenigen DDR-Verlagen, die die Turbulenzen der Wendezeit überstanden haben - noch als angesehener Regionalverlag, doch auf der Landkarte der neuen, landesweit diskutierten Belletristik findet man ihn schon lange nicht mehr.

Seine nur wenige Jahre umfassende Glanzzeit verdankte der Verlag dem kongenialen Zusammenwirken zweier Männer, die die Gunst eines historischen Augenblicks ergriffen, um dann aber doch an den Verhältnissen zu scheitern. Den Anfang machte der Buchhändler Konrad Reich, der im Zuge der Verstaatlichung des Hinstorff-Verlags 1959 zu dessen Leiter bestallt wurde. Er holte wenig später den promovierten Germanisten Kurt Batt, einen Leipziger Schüler von Hans Mayer und Ernst Bloch, als Cheflektor in das Unternehmen. Beide gehörten zu einer jungen Generation - Reich war 31 Jahre alt, Batt drei Jahre jünger -, die in den Jahren kurz vor und nach dem Mauerbau Gelegenheit bekam, im Osten Deutschlands Neues aufzubauen, und die diese Gelegenheit nach Kräften nutzte, bis die Rückschläge immer heftiger wurden. Wo Reich den durchsetzungsstarken, weit über die Grenzen Rostocks und der DDR vernetzten Unternehmer gab, entwickelte sich Batt schnell zum allseits respektierten Partner der Autoren, die sein Wort auf die Goldwaage legten. Als "Verlegerpaar" (Klaus Schlesinger) genossen sie einen außergewöhnlichen Ruf und erzeugten bisweilen gar den Eindruck, Hinstorff sei "so ein halber Privatverlag" (Manfred Jendryschik).

Tatsächlich waren sie nur staatliche Angestellte und einer Fülle von Zwängen unterworfen, die ihre Handlungsspielräume massiv einschränkten. Es war das Äußerste, was Franz Fühmann zu ihrem Lob sagen konnte, als er in seiner Festrede zum Verlagsjubiläum 1981 erklärte, Reich und Batt hätten "in ihrem Denken und Handeln nicht nur die Interessen der Staatsmacht gegenüber dem Autor, sondern in gebührendem Maße auch die Interessen des Autors gegenüber der Staatsmacht vertreten", sie seien "also nicht nur Willensvollzieher eines Oben, sondern auch Sachwalter eines Unten" gewesen. Als Fühmann diese Worte sprach, war das Experiment, als das man Reichs und Batts Unterfangen durchaus verstehen kann, bereits gescheitert.

Es ist das große Verdienst der akribisch aus den Akten wie aus Zeitzeugengesprächen rekonstruierten Verlagsgeschichte von Kerstin Hohner, die knapp zwei Jahrzehnte zwischen 1959 und 1977 in all deren Widersprüchlichkeit nüchtern zu protokollieren. Ihr Buch erzählt von den kleinen Triumphen, den zahllosen Kompromissen und den großen Niederlagen, die Verlagsarbeit in der DDR bestimmten. Besonders der "Macher" Reich erscheint im Zwielicht, denn Hohner bringt eine hinreichende Anzahl von Indizien für die Annahme, dass der Verlagsleiter bereits seit 1959 als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi tätig gewesen ist und sich als guter SED-Genosse, wo erforderlich, eher um den Erhalt seiner eigenen Stellung als um die Durchsetzung der Belange seiner Autoren gekümmert hat. Genutzt hat es ihm nichts, denn mehrere seiner Lektoren intrigierten als Stasi-Informanten so lange gegen ihn, bis er 1977 als Verlagsleiter entlassen wurde.

Kurt Batt dagegen weigerte sich, Mitglied der SED zu werden, und widerstand auch Anwerbungsversuchen der Stasi, war stattdessen selbst Ziel einer Operativen Personenkontrolle. Allerdings wurde die Stasi nicht fündig und schloss die Akte - absurderweise wie im Falle seines Lehrers Hans Mayer - just in dem Moment, als gleich mehrere Ebenen von SED-Funktionären vom ZK in Berlin bis zu den besonders bösartigen Genossen Hanns Anselm Perten und Harry Tisch in Rostock den Krieg gegen ihn eröffneten und seine Entlassung aus dem Verlag betrieben. Noch bevor sie Erfolg hatten, starb Batt 1975 im Alter von 43 Jahren an einem Herzinfarkt. Zensur, daran erinnert dieser Extremfall, trifft Texte, meint aber Menschen.

Aber auch Batt hatte im Umgang mit Autoren und ihren Manuskripten immer wieder die Interessen der Staates und der Partei durchsetzen müssen, und es gehört zu den erschütternden, wenngleich nicht neuen Erkenntnissen des Buches, dass auch bei Hinstorff de facto kein Text auch nur annähernd in der Gestalt erschienen ist, die ihm der Autor gegeben hatte. Dabei waren die Schriftsteller der Sechziger- und frühen Siebzigerjahre erstaunlich kompromissbereit und ließen sich auf jahrelange Diskussionen und immer wieder neue Umarbeitungen ein. Es war eine Ausnahme, wenn Hans Joachim Schädlich - den Reich und Batt von Anfang an für undruckbar gehalten hatten - nach mehreren Jahren des Hinhaltens den Kontakt zum Verlag abbrach und fortan nur noch im Westen publizierte. Hohner beschreibt diese endlosen Mühsalen eindringlich an Texten von Erich Köhler ("Als der Schwan rief"), Manfred Jedryschik ("Glas und Ahorn"), Klaus Schlesinger ("Michael"), Thomas Brasch (Erzählungen), Jurek Becker ("Irreführung der Behörden"), Rolf Schneider ("Reise nach Jaroslaw") und vor allem an der Geschichte von Plenzdorfs "Neuen Leiden des jungen W.".

Plenzdorf hatte zwar die Absicht: "Du schreibst ohne Kompromisse und lässt dir nicht mehr reinreden." Und auch Batt und Reich waren sofort von dem Text überzeugt, sodass der Verlagsleiter "notfalls auf die Barrikade gehen bzw. seinen Stuhl zur Verfügung stellen" wollte. Tatsächlich aber folgte der Erstpublikation als Erzählung in der Zeitschrift "Sinn und Form" und der ungeheuer wirksamen Bühnenfassung (beide 1972) ein schier endloser Kampf mit mindestens drei Textfassungen, bis das Buch 1973 als Roman erscheinen konnte, und auch das war nur möglich, weil der neu installierte "Literaturminister" Klaus Höpcke seine Laufbahn nicht gleich mit einem Verbot beginnen wollte oder sollte.

Eine eigenartige, von Hohner nur beiläufig angedeutete Rolle spielte das westdeutsche Feuilleton. Nichts hatte eine verheerendere Wirkung als ein Artikel im "Spiegel", in der "Frankfurter Rundschau", der F.A.Z oder der "Welt" über ein "riskantes" Manuskript - unverzüglich setzte sich die Maschinerie des Zensurapparats in Gang, und da dies in der Regel von ganz oben, vom ZK der SED, kam, war Ausweichen und Beschwichtigen kaum mehr möglich. Es ist unklar, von wem die Indiskretionen stammten und welche Wirkungen die westlichen Kritiker eigentlich zu erzielen hofften. Genutzt haben sie den Autoren und ihren Texten, den Lektoren und den Verlagsleitern im Osten nicht.

Dank der Umtriebigkeit von Konrad Reich erschienen viele Hinstorff-Bücher in westdeutschen Lizenzausgaben (oft als Mitdrucke der DDR-Editionen) sowie in Übersetzungen. Dieser Aspekt der grenzüberschreitenden Wirkung bedarf freilich noch einer gesonderten Behandlung, auch und gerade angesichts der Bedeutung, die die Beschaffung von Devisen für die ewig klamme Volkswirtschaft der DDR gehabt hat. Auch wenn die Ideologie nie ihr Primat abgab, dürfte manches "schwierige" Buch erschienen sein, weil selbst in der DDR Marktregeln nicht völlig außer Kraft gesetzt werden konnten. MARK LEHMSTEDT

Kerstin Hohner: "Abseits vom Kurs". Die Geschichte des VEB Hinstorff Verlag 1959-1977.

Ch. Links Verlag, Berlin 2022. 436 S., geb., 45,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Rostocker Hinstorff-Verlag hat eine bewegte und bewegende Geschichte hinter sich, die von Kerstin Hohner akribisch und detailreich geschildert wird, lobt Rezensent Mark Lehmstadt. Sie fokussiert sich dabei auf die Jahre 1959-77, in denen laut Lehmstedt die wohl spannendsten Bücher der DDR veröffentlicht wurden. Franz Fühmann und Ulrich Plenzdorf wären da nur zwei der interessanten Namen, die mit Hinstorff in Verbindung stehen. Noch viel wichtiger sind Lehmstedt allerdings die Bedingungen, unter denen der Verlag in einem diktatorischen Staat operieren musste. Die SED funkt ständig dazwischen, auch die Stasi ist, manchmal bis zum Äußersten, involviert. "Zensur trifft Texte, meint aber Menschen", resümiert der Rezensent. Die Schwierigkeiten im DDR-Verlagswesen, die hier so minutiös von Hohner aufgedeckt werden, würde Lehmstedt gerne noch durch eine Untersuchung der Bedeutung westdeutscher Beziehungen, Kooperationen und Lizenzausgaben ergänzt sehen.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Akribisch aus den Akten wie aus Zeitzeugengesprächen rekonstruierte Verlagsgeschichte.« Mark Lehmstedt Frankfurter Allgemeine Zeitung 20221027