Anneke Brassingas Gedichte umkreisen ein zentrales Paradox unserer menschlichen Existenz: nichts weiter zu sein als ein Stück Materie - und doch mit dem Vermögen begabt, uns einen Gott zu erfinden, eine Seele. Unsere Sehnsucht, der Welt Bedeutung einzuhauchen, ihr Sinn zu verleihen - im Wissen um die Unzulänglichkeit dieser Daseinsillusion. Alles in Annek Brassingas Dichtung rührt von hier her: dem Impetus, dem unvergeudeten Reichtum unserer Sehnsüchte Raum zu verleihen. Die überbordende Fülle des Glücks, des Glanzes zu preisen - im Wissen um ihr Nichtvorhandensein. Und das unauflösbare Spannungsfeld zwischen den nackten Tatsachen und der Unendlichkeit im Kopf auszuhebeln, allein durch die lebendige Wirklichkeit und Kraft der Sprache. Dabei gelingt ihr eine Feier der Sprache in irisierender Fülle - vermittels Beschreibungen der Natur, der Liebe, der Erotik, der Musik. Anneke Brassingas Werk ist in Sprache verwandelte Ek-Stase. Und "das klopfende Herz des Textes" sein Tier.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2016Strauchdiebs
Paradieschen
Die niederländische Dichterin
Anneke Brassinga
In einem dieser Verse sehen wir die Dichterin als Zeichensammlerin. Ein Kind, das an der Autobahn steht und sich die Nummernschilder merkt – „um seltene heranpreschende Buchstaben und Zahlen / zu erbeuten, sich einzuprägen mit einer Dringlichkeit, // wie sonst nur bei Streichholzmarken“. Doch was die Nachrichten spürbar machen, ist viel mehr als nur ein Ensemble von Zeichen: „eine nirgendwo / nachweisbare, doch erlauchte Welt.“
Die niederländische Autorin Anneke Brassinga, 1948 geboren, zeigt in ihren Gedichten, wie unterschiedlich sich die Dinge sehen lassen, wenn man sie in die Sprache holt. Es muss nur jemand kommen, der das Fantastische der Kindheitswelt mit einer großen reflexiven Kraft zu verbinden weiß. „Wirklichkeit ist nicht, was sie ist“, meinte der amerikanische Dichter Wallace Stevens einmal, „sie besteht aus den vielen Wirklichkeiten, in die sie verwandelt werden kann.“ So wird ein Pinguin bei Anneke Brassinga zum „plaudertaschigen Trauerträger“, und die Sprecherin selbst gleicht einer „wachsenden Armee, wie innenaus leuchtende / Früchte in Häute gezwängt“.
Mit ihrem feinen Gespür für die Klang- und Bedeutungsfächer der Sprache gelingt es Brassinga auch, so großen Themen wie Schönheit oder Tod nachzutasten. Wie sehr die Schönheit den Blick auf die Welt verändert, erzählen uns die Gedichte. Dass die Schönheit eine Idee ist, brüchig, bedroht, mal „unmenschliches Maß“, mal „schlicht“ – und dass wir dieses „kleine Glück“ gleichwohl brauchen, um den knochentrockenen Alltag zu ertragen. In einer Mischung aus Ironie und Glanz schafft Brassinga einen eigentümlichen Ton, der all die widersprüchlichen Momente zusammenfügt, ohne ihnen etwas von ihrem dissonanten Charakter zu nehmen.
Nicht von ungefähr wenden sich die Gedichte immer wieder der Musik zu. Es sind gleichsam Übersetzungen musikalischer Bewegungen in Sprache. „So zengelt dieses / Summen“, heißt es da zu einer Cellosuite von Bach. Und über eine Klaviersonate von Mozart: „Woher dieser hüpfende Lauf, / dieser sich durchkämpfende Schrägwuchs, als ob du dich / umkrempelst, dich hinterstzuvörderst spiegel –/ bildlich linksverkehrt vorwärtsbewegst / und dabei auf der Stelle trittst“. Besser ließe sich die dialektische Energie von Brassingas Gedichten kaum beschreiben.
Ira Wilhelm hat eine schöne Auswahl aus dem hüpfenden Brassinga-Kosmos getroffen. In ihren Übersetzungen hat sie nicht nur Brassingas Spiel mit festen Formen gut nachgebildet, sondern auch die Reime und Halbreime, in die Brassinga ihre Dissonanzen bisweilen einlagert, etwa wenn sie „nie mehr“ auf „Wiederkehr“ reimt. Einige wenige Übersetzungen hat der Dichter Oswald Egger angefertigt – eine glückliche Fügung, denn obwohl er Brassingas Sprachfindungen fast wörtlich übersetzt, klingen sie nach Oswald Egger: das „Waldpfad-Streulicht-Strahlende“ ebenso wie die „Krondomänen-Natur-Strauchdiebs-Paradieschen“.
NICO BLEUTGE
Anneke Brassinga: Fata Morgana, dürste nach uns! Ausgewählte Gedichte. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm und Oswald Egger. Nachwort von Erik Lindner. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 202 Seiten, 22 Euro.
Nicht von ungefähr wenden sich
die Gedichte der Musik zu
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Paradieschen
Die niederländische Dichterin
Anneke Brassinga
In einem dieser Verse sehen wir die Dichterin als Zeichensammlerin. Ein Kind, das an der Autobahn steht und sich die Nummernschilder merkt – „um seltene heranpreschende Buchstaben und Zahlen / zu erbeuten, sich einzuprägen mit einer Dringlichkeit, // wie sonst nur bei Streichholzmarken“. Doch was die Nachrichten spürbar machen, ist viel mehr als nur ein Ensemble von Zeichen: „eine nirgendwo / nachweisbare, doch erlauchte Welt.“
Die niederländische Autorin Anneke Brassinga, 1948 geboren, zeigt in ihren Gedichten, wie unterschiedlich sich die Dinge sehen lassen, wenn man sie in die Sprache holt. Es muss nur jemand kommen, der das Fantastische der Kindheitswelt mit einer großen reflexiven Kraft zu verbinden weiß. „Wirklichkeit ist nicht, was sie ist“, meinte der amerikanische Dichter Wallace Stevens einmal, „sie besteht aus den vielen Wirklichkeiten, in die sie verwandelt werden kann.“ So wird ein Pinguin bei Anneke Brassinga zum „plaudertaschigen Trauerträger“, und die Sprecherin selbst gleicht einer „wachsenden Armee, wie innenaus leuchtende / Früchte in Häute gezwängt“.
Mit ihrem feinen Gespür für die Klang- und Bedeutungsfächer der Sprache gelingt es Brassinga auch, so großen Themen wie Schönheit oder Tod nachzutasten. Wie sehr die Schönheit den Blick auf die Welt verändert, erzählen uns die Gedichte. Dass die Schönheit eine Idee ist, brüchig, bedroht, mal „unmenschliches Maß“, mal „schlicht“ – und dass wir dieses „kleine Glück“ gleichwohl brauchen, um den knochentrockenen Alltag zu ertragen. In einer Mischung aus Ironie und Glanz schafft Brassinga einen eigentümlichen Ton, der all die widersprüchlichen Momente zusammenfügt, ohne ihnen etwas von ihrem dissonanten Charakter zu nehmen.
Nicht von ungefähr wenden sich die Gedichte immer wieder der Musik zu. Es sind gleichsam Übersetzungen musikalischer Bewegungen in Sprache. „So zengelt dieses / Summen“, heißt es da zu einer Cellosuite von Bach. Und über eine Klaviersonate von Mozart: „Woher dieser hüpfende Lauf, / dieser sich durchkämpfende Schrägwuchs, als ob du dich / umkrempelst, dich hinterstzuvörderst spiegel –/ bildlich linksverkehrt vorwärtsbewegst / und dabei auf der Stelle trittst“. Besser ließe sich die dialektische Energie von Brassingas Gedichten kaum beschreiben.
Ira Wilhelm hat eine schöne Auswahl aus dem hüpfenden Brassinga-Kosmos getroffen. In ihren Übersetzungen hat sie nicht nur Brassingas Spiel mit festen Formen gut nachgebildet, sondern auch die Reime und Halbreime, in die Brassinga ihre Dissonanzen bisweilen einlagert, etwa wenn sie „nie mehr“ auf „Wiederkehr“ reimt. Einige wenige Übersetzungen hat der Dichter Oswald Egger angefertigt – eine glückliche Fügung, denn obwohl er Brassingas Sprachfindungen fast wörtlich übersetzt, klingen sie nach Oswald Egger: das „Waldpfad-Streulicht-Strahlende“ ebenso wie die „Krondomänen-Natur-Strauchdiebs-Paradieschen“.
NICO BLEUTGE
Anneke Brassinga: Fata Morgana, dürste nach uns! Ausgewählte Gedichte. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm und Oswald Egger. Nachwort von Erik Lindner. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 202 Seiten, 22 Euro.
Nicht von ungefähr wenden sich
die Gedichte der Musik zu
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