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Literaturgeschichten sind in Verruf geraten: Sie klassifizieren, normieren und kanonisieren, sie definieren Epochen und Gattungen, und sie ordnen diesen die Autoren und ihre Werke nur noch als Zeugen zu. Wo bleibt die einzigartige Eigenheit der Literatur, ihre gelebte Individualität und augenblickshafte Geschichtlichkeit?

Produktbeschreibung
Literaturgeschichten sind in Verruf geraten: Sie klassifizieren, normieren und kanonisieren, sie definieren Epochen und Gattungen, und sie ordnen diesen die Autoren und ihre Werke nur noch als Zeugen zu. Wo bleibt die einzigartige Eigenheit der Literatur, ihre gelebte Individualität und augenblickshafte Geschichtlichkeit?
Autorenporträt
David E. Wellbery ist Professor für deutsche Literatur an der University of Chicago. 2010 bekam er den Jacob- und-Wilhelm-Grimm-Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2007

Wenn der Tiger erzählt
Aus Amerika: Die „Neue Geschichte der deutschen Literatur”
Den „Tigersprung in die Vergangenheit”, den Zugriff auf zufällig hervortretende, aber bedeutsame Phänomene, wage „Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur” – das verspricht David Wellbery, der die Metapher Walter Benjamins in der Einleitung zu diesem Werk übernimmt, das im amerikanischen Original 2004 erschienen ist. An der Neuen Literaturgeschichte haben 152 – vorwiegend amerikanische – Literaturwissenschaftler mitgearbeitet. In etwa 200 Artikeln versuchen sie wieder einzufangen, was in der traditionellen, einen Kanon abschreitenden Literaturgeschichte verlorengegangen sei: „die Einzigartigkeit des literarischen Ereignisses”. Deshalb halten sie sich zwar an die Chronologie, greifen sich aber nur die „prägnanten Augenblicke” der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte heraus und kristallisieren um sie herum kleine Novellen, sechs bis acht Seiten, in denen die Vorgeschichte, die Folgen und das Ereignis selbst erzählt werden. Die jeweilige „Geschichte”, die so entsteht, enthält häufig nur die Interpretation eines einzigen Werkes.
Jedes Kapitel dieser Literaturgeschichte der großen Momente trägt eine Jahreszahl, die manchmal noch durch Monat und Tag präzisiert wird. Viele Jahre können auch übersprungen sein, bis endlich einmal wieder ein Moment kommt, der einer konzentrierten Darstellung wert ist. In einem Untertitel gibt jedes Kapitel seinen Inhalt bekannt: „Um 1210: Gottfrieds romantisches Gedicht über die unglücklich Liebenden Tristan und Isolde bleibt beim Tode des Verfassers unvollendet” – „1457: Johannes Gutenberg veröffentlicht den Mainzer Psalter, den ersten Druck mit beweglichen Lettern” – „1600: Jakob Böhme findet in einem Lichtstrahl, den ein Zinngefäß zurückwirft, göttliche Erleuchtung und beginnt eine Karriere als Mystiker und Theosoph”. Von den Merseburger Zaubersprüche bis zum Tod W. G. Sebalds greift so das Buch hinein ins literarische Leben, um es zu packen, wo immer es am interessantesten ist.
Das Pathos der „alten” Literaturgeschichte lebte von der Überzeugung – heute würde man sagen: von der Illusion –, dass sich die Literatur in Kontinuitäten darstellen lasse: im Kontinuum der Nationalliteratur, der deutschen Sprache, des deutschen Raumes und in der durch Epochen des deutschen Geistes gegliederten Zeit. Der raubtierhafte Zugriff auf die Vergangenheit hingegen dramatisiert die Geschichte. Die Hoffnung auf eine genussvolle Rezeption beschreibt denn auch Wellbery mit den Begriffen einer existentiellen Leseerfahrung: Begegnung, Faszination, Neugierde. Die Idee aber, die das Unternehmen trägt, leitet er von der deutschen Geschichtsschreibung selbst her.
Schon Herder habe die „Vorstellung zeitunabhängiger Maßstäbe zunichte” gemacht und das Kontinuum einander ablösender großer Werke hinter kulturgeschichtlichen Einordnungen zurücktreten lassen. Er habe die Vergangenheit in diskontinuierliche Momente aufgelöst und ihre Abhängigkeit von politischen Institutionen, Glaubensbekenntnissen, Ökonomie und Sitte entdeckt. Wellbery leitet damit die neuesten Theoriekonzepte der Literaturwissenschaft, den „New Historicism” – auf den der Titel des Bandes anspielt – und den Dekonstruktivismus von der deutschen Geschichtsschreibung her. Dennoch hält sich auch diese amerikanische Geschichte der deutschen Literatur an das Gerüst der Zeit, füllt es lückenhaft, aber doch mit ziemlicher Regelmäßigkeit auf. An wichtigen Autoren und großen Werke kommt sie ohnehin nicht vorbei. Im 18. Jahrhundert ist eben doch von Herder, Goethe, Schiller, Kant die Rede, nicht von Christian August Vulpius, Iffland oder dem Aufklärungsphilosophen Alexander Gottlieb Baumgarten.
Ästhetische Werturteile, so müssten Herausgeber und Mitarbeiter eingestehen, haben nichts mit dem Kontinuum der Zeit zu tun, sie gelten für die „Neue Geschichte der Literatur” wie für jede andere. Freilich zählt diese Neue Literaturgeschichte den Kanon der großen Werke nicht lückenlos auf und erweitert zudem, wie seit Jahrzehnten üblich, den Begriff der Literatur auf einen allgemeinen Textbegriff hin, nimmt Flugblätter, Feuilletons, Briefe und Notizen ernst, wendet sich der Kunst Schadows zu oder der Kaiserkrönung Napoleons.
Die Diskontinuität, die Sprunghaftigkeit der besprochenen Ereignisse wirkt bei alledem nicht deshalb zufällig, weil etwa das Zeitgerüst nicht respektiert wäre, sondern weil es keine Begründung für die jeweilige Auswahl gibt: halb folgt sie dem Kanon, halb einem Politikum, und auch dann noch äugen die Darstellungen oft genug nach dem großen Werk und dem großen Autor, auf die sie zugeschrieben sind.
Bei den vielen Beiträgern ist ein schwankendes Niveau unvermeidlich. Einer ausgewogenen Beschreibung der negativen Theologie des Meister Eckhart etwa steht die überladene Darstellung der politischen Einstellungen des Sozialisten Raphael Friedberg gegenüber. Exakt ist das Datum zum Fall des Meister Eckhart angegeben, der 27. März 1329, jener Tag, da „Papst Johannes XXII. Teile von Meister Eckharts Werk als ketzerisch” verurteilte. Rochelle Tobias von der Johns Hopkins University skizziert das Leben des bedeutendsten deutschen Mystikers und klärt seine wesentlichen theologischen Fragen: was ist Gott, wo wohnt er in seinen Geschöpfen? Der kalifornische Literaturwissenschaftler Peter Wollen hingegen nimmt den Ausschluss Raphael Friedbergs aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1906 zum Anlass, die Lebensreformbewegung, der sich Friedberg anschloss, zu beschreiben, indem er über sechs Seiten 57 verschiedenen Namen ausstreut. Der Sinn der lebensreformerischen Neuerungen geht in diesem schier lückenlosen Register der Reformer unter.
Das bleibt immerhin ein seltener Fall in diesem Band, der mit zwölfhundert Seiten schwer wiegt, aber im Vergleich zu gängigen mehrbändigen Literaturgeschichten mit der Vergangenheit kurz und bündig verfährt. Wichtiger als die kleinen Schwankungen im Niveau ist die Frage nach der methodischen Brauchbarkeit dieser „Neuen Literaturgeschichte”. Ihre Methode ist die Methodenvielfalt. Die meisten Beiträge allerdings halten sich an die Sozial- oder Mediengeschichte; fast vollkommen verdrängt sind Formalismus und Strukturalismus – bei einem Werk, das auf eine breite Leserschaft hofft, ein notwendiger Verzicht, obgleich gerade diese Theorien die Voraussetzung für das Gesamtkonzept des Bandes vorbereitet haben. Die „Neue Literaturgeschichte” spiegelt nicht zuletzt das Bewusstsein der amerikanischen Wissenschaft von der deutschen Literatur. Von den 152 Mitarbeitern kommen 23 von deutschen Universitäten, von diesen beschäftigen sich zwei Drittel mit der Literatur vor dem 16. Jahrhundert: offenbar sind diese Bereiche an den Universitäten der USA kaum vertreten.
Das eigentliche Problem dieser Neuen Literaturgeschichte ist ihr Adressat. „Wir haben die Vision von Lesern mit ganz unterschiedlichen Interessen, die aus welchem Grund auch immer neugierig sind auf deutsche Literatur und Kultur. Wir glauben, dass die Geschichte der deutschen Literatur eine lebendige Quelle überall dort ist, wo Intelligenz und Phantasie eingesetzt werden, um die vom menschlichen Denken geschaffenen Komplexitäten unserer Welt zu erkunden.” Dieses Glaubensbekenntnis legt David Wellbery in seiner schwerfällig gedachten und schlecht übersetzten Einleitung ab, von der jedenfalls sich der Leser nicht abschrecken lassen sollte. Welchen Grund „auch immer” aber kann ein Leser haben, diese Literaturgeschichte zu Rate zu ziehen? Denis Hollier, der Herausgeber der bereits 1989 erschienenen „New History of French Literature”, an deren Vorbild sich die „Neue Geschichte deutsche Literatur” hält, beendete seine Einleitung mit dem Eingeständnis, die Kenntnis der traditionellen Literaturhistorie sei unerlässlich für das Verständnis des neuen Konzepts.
Wellbery hingegen richtet sich polemisch gegen die traditionelle deutsche Literaturgeschichtsschreibung. Zwar habe Herder diese modernisiert, seit Gervinus aber sei sie „zum Metatext des disziplinierenden und erzieherischen Apparats” geworden: „Sie diente solch wichtigen Aufgaben wie der Ausarbeitung von Rahmenrichtlinien für universitäre und gymnasiale Lehrpläne”. Dieser Missbrauch rechtfertigt die Verdammung. Dennoch: Nur dem gebildeten, durch „gymnasiale Lehrpläne” erzogenen Leser, der traditionelle Literaturgeschichten kennt, wird Wellberys Band ein Lesevergnügen sein: Der Spezialist hingegen, der diese literaturhistorischen Novelletten, geschrieben von anderen Spezialisten, liest, findet, wie sollte es anders sein, darin wenig Neues; der Neuling findet darin verwirrend viel; der Student, der ein Fachgebiet fürs Examen vorbereitet, hat alle Informationen schon in der Sekundärliteratur erhalten.
Anregung, nicht Information ist die Absicht dieser facettenreichen Artikel, und diese zu schätzen und zu genießen braucht es den Kenner und Liebhaber, der seinem Wissen eine aparte Note hinzufügen will. „Random access”, wie man ihn im Internet zum Wissen nimmt, empfiehlt Wellbery und verrät dabei einen nicht geringen modischen Ehrgeiz. Ein solch gelegentlicher Zugriff zum Bildungswissen dient dem Vergnügen einer – auch mit Wissen – saturierten leisure class. HANNELORE SCHLAFFER
DAVID WELLBERY, JUDITH RYAN, ANTON KAES u.a. (Hrsg): Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur. Aus dem Englischen von Christian Döring, Volker von Aue u.a. Berlin University Press, Berlin 2007. 1219 Seiten, 49,80 Euro (ab 1. Juli 2008: 64 Euro).
Der raubtierhafte Zugriff auf die Vergangenheit dramatisiert die Geschichte
Die Methode dieser neuen Literaturgeschichte ist die Methodenvielfalt
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensentin Christine Pries freut sich, dass dieses von David E. Wellbery herausgegebene Buch aus dem Amerikanischen übersetzt und vom neuen Verlag der Freien Universität Berlin herausgegeben wurde. Es leistet ihrer Meinung nach nicht weniger, als "über einen gleichsam detektivischen Spürsinn die Neugierde" an der kriselnden Germanistik wiederzuerwecken. Ihr gefällt, dass das Buch weniger als Nachschlagewerk konzipiert ist, denn als Schmöker - und dass es dabei doch akademischen Ansprüchen vollauf genügt. Die deutsche Literaturgeschichte wird am Beispiel von exemplarischen Ereignissen zwischen den Jahren 744 und 2001 erzählt. Die Beiträge erreichen nach Meinung der Rezensentin eine Verdichtung, die über die Literatur hinausgeht und eine "veritable Geistesgeschichte" erzählt.

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