Produktdetails
  • Verlag: Brinkmann u. Bose
  • Erscheinungstermin: 1. Januar 2018
  • Deutsch
  • ISBN-13: 9783940048325
  • ISBN-10: 3940048321
  • Artikelnr.: 49926990
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2018

Bloß kein Hotelzimmer ohne Fernseher
Entlang von Anekdoten, Assoziationen und philosophischen Revisionen: Zwei neue Bücher von und über Jacques Derrida

Repräsentationskritik führt nicht notwendig zum Bildersturm. Sie scheint das Interesse am Bild und der Faszination, die Bilder ausüben, vielmehr zu steigern. Das beweisen jene Autoren, denen man eher hilflos mit den Etiketten "French Theory" oder "Poststrukturalismus" beizukommen versucht: Roland Barthes schrieb über Cy Twombly und die Fotografie, Gilles Deleuze über Francis Bacon und das Kino, Michel Foucault über Magritte und Velázquez.

Nur einem aus dieser Generation haftet der Ruf an, sich vor allem mit der Schrift und den Zeichen beschäftigt zu haben: Jacques Derrida. Tatsächlich besteht die von ihm begründete Dekonstruktion in einer besonderen Art der Lektüre, die die in den großen Texten der Philosophie etablierten Begriffshierarchien erschüttern soll. Doch wenn Dekonstruktion stets Arbeit am Text bedeutete, so beschränkte sich ihr Textbegriff nie auf Geschriebenes. Der 2004 verstorbene Derrida hat sich den Künsten auf seine Weise angenähert, von den Rändern her, auf Umwegen und schrägen Bahnen, als ein Autor, der schreibend und improvisierend die ihm gebotenen Gelegenheiten ergriff, sich zu Fragen der Ästhetik zu äußern.

Das belegt ein nun erschienener Band mit kleineren Arbeiten zur Kunst aus den Jahren 1979 bis 2004. Entstanden ist diese auf Französisch erstmals 2013 veröffentlichte Sammlung verstreuter, zum Teil an entlegenen Orten publizierter Texte - Gesprächsmitschnitte, Interviews und Katalogbeiträge - unter Leitung der kanadischen Literaturwissenschaftlerin Ginette Michaud, die in Montreal ein Forschungsvorhaben zur Frage der Kunst im Werk Derridas leitet und zuletzt seine Schriften zur Architektur veröffentlicht hat (Les arts de l'espace, La Différence, 2015).

Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf den neunziger und frühen 2000er Jahren. Das mag auch biographische Gründe haben: 1990 kuratierte Derrida eine Ausstellung im Pariser Louvre, die er mit der ihm eigenen Neigung zur Paradoxie unter das Thema der Blindheit stellte. So verwundert es auch nicht, dass er immer wieder auf Motive zurückkommt, die er bereits in seinen "Aufzeichnungen eines Blinden", dem Begleitbuch zu dieser Ausstellung, entwickelt hatte.

Die Künste des Sichtbaren sind stets auch solche des Unsichtbaren, so ließe sich Derridas Hauptthese resümieren, die er immer wieder an seinem bevorzugten Beispiel, der Zeichnung, diskutiert. Der Zeichnende gleicht einem Blinden, insofern er den von ihm gezogenen Strich im Moment des Ziehens nicht sieht. Als Zug, durch den sich allererst etwas in Opposition zu etwas anderem bestimmt, ist der Strich zudem weder rein sinnlich noch rein intelligibel. Das verbindet ihn mit Derridas Begriff der Spur und erlaubt es, das Sichtbare als eine Figur der Schrift zu denken.

Die sprachliche Dimension der Kunst steht im Zentrum von Derridas Überlegungen. So führen ihn die Zeichnungen von Valerio Adami zur Frage, ob man in einer oder mehreren Sprachen zeichnet; die Aquarelle von Colette Deblé lassen ihn über den Status des Zitats nachdenken, und in den Gemälden von Jean-Michel Atlan erblickt er die rhetorische Figur des Anakoluths, des grammatischen Bruchs. Der traditionellen Bildbeschreibung setzt Derrida eine auf sprachlichen Assoziationen beruhende, zwischen Anekdote und Philosophie oszillierende Schreibweise entgegen, die der nichtdiskursiven Logik der Künste gerecht zu werden versucht.

Derridas besonderes Interesse galt stets einer gewissen Mehrstimmigkeit seiner Texte. Es führte ihn in späteren Jahren zu Kooperationen mit Hélène Cixous, Geoffrey Bennington oder der kürzlich verstorbenen Anne Dufourmantelle. Eine weitere solche Gemeinschaftsarbeit liegt nun mit dem Buch "Die Seitenallee" vor, das Texte von Derrida und der Philosophin Catherine Malabou vereint. Erschienen ist dieses Buch ursprünglich in der vom Literaturmagazin "La Quinzaine littéraire" und dem Modeunternehmen Louis Vuitton herausgegebenen Reihe "Voyager avec", die das Motiv der Reise in Leben und Werk berühmter Autoren erkundet.

Dieser Rahmen mag den einführenden Charakter von Malabous Darstellung erklären. Anhand der Begriffe Ankunft und Abdrift präsentiert sie zunächst zwei Grundthemen Derridas, die Kritik der Präsenzmetaphysik und die Entgrenzung des Metaphernbegriffs, liefert sodann einen biographischen Überblick und beschäftigt sich zuletzt mit seiner politischen Philosophie und der Idee eines neuen Messianismus.

Malabous Ausführungen zeugen von ihrer umfassenden Kenntnis des Werks, gehen jedoch nur selten über die Paraphrase hinaus. Sie reproduziert Derridas Gesten, anstatt ihnen von einer eigenen Position her zu begegnen. Zahlreiche, oftmals kommentarlos aneinandergereihte Zitate lassen den Text wie eine Anthologie wirken. Wer mit Derridas Denken bereits vertraut ist, aber nach einem verlässlichen Itinerar durch sein umfangreiches Werk sucht, dürfte diese Einführung mit dem größten Gewinn lesen. Entweder folgt man dabei der aleatorischen Reihenfolge, in der die einzelnen Kapitel abgedruckt sind, oder man liest sie in ihrer ursprünglichen Anordnung, im Zickzack von Etappe zu Etappe springend, ähnlich wie Julio Cortázars "Rayuela", indem man sich von den Nummern am Ende jedes Textes leiten lässt.

Derrida hat Malabous Arbeit mit einer Reihe von Briefen begleitet, die er ihr von Mai 1997 bis Mai 1998 während seiner zahllosen Reisen aus den Vereinigten Staaten, der Türkei, Italien, der Schweiz, Israel, Griechenland und Polen schickte. Berichte über persönliche Obsessionen und Angewohnheiten vermischen sich mit Reflexionen über das Leben als akademischer Ideenhändler. Das Reisen ist für Derrida untrennbar mit dem Gedanken an den Tod verbunden. Wir erfahren von seinen Träumen und von seiner Angst vor Hotelzimmern ohne Fernseher. Und Derrida wäre nicht Derrida, würde er dem Titel "Voyager avec" nicht sogleich mit einer ganz eigenen Formel für seine Erfahrung des Reisens antworten: "Ich ohne mich".

MAXIMILIAN GILLESSEN

Jacques Derrida: "Denken, nicht zu sehen". Schriften zu den Künsten des Sichtbaren. 1979-2004.

Aus dem Französischen

von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek.

Brinkmann und Bose, Berlin 2017. 384 S., br., 44,- [Euro].

Catherine Malabou und Jacques Derrida: "Die Seitenallee".

Aus dem Französischen von Rike Felka. Brinkmann und Bose, Berlin 2017. 304 S., br., 38,- [Euro].

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