Produktdetails
  • Verlag: Landt
  • Seitenzahl: 496
  • Erscheinungstermin: 13. April 2011
  • Deutsch
  • Abmessung: 214mm x 142mm x 37mm
  • Gewicht: 700g
  • ISBN-13: 9783938844151
  • ISBN-10: 3938844159
  • Artikelnr.: 26263387
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2011

Ein Hohelied auf die Inkonsequenz

Vom Schuhmacher zum Literaturnobelpreisträger: Ingar Sletten Kolloens Biographie über Knut Hamsun lädt ein zur Wiederentdeckung einer hochkomplizierten Persönlichkeit.

Vor einigen Monaten hat Wolfgang Herrndorf in seinem Blog schöne Sätze über ein Bild des jungen Hamsun geschrieben: "Es hängt jetzt meinem Bett gegenüber, und der Gesichtsausdruck des Fünfzehnjährigen erinnert mich auf sehr sonderbare Weise an das, was ich ursprünglich einmal gewollt habe im Leben. Der trotzige, hellwache, angewiderte Blick, die Erkenntnis, dass diese Welt eine Zumutung ist, und der ablesbare Wille, ihr beizeiten noch mit der Axt den Schädel zu spalten. So gut wie Hamsun habe ich natürlich nie ausgesehen, aber ich weiß noch sehr genau, wie sich dieses Gesicht von innen anfühlte."

Daniel Kehlmann hat kürzlich ein enthusiastisches Nachwort zur Neuübersetzung von "Hunger" verfasst - zwei neue Stimmen im großen Chor hamsunbegeisterter Autoren. Ob Hemingway, Henry Miller, Thomas Mann, Musil, Brecht oder Gorki - sie alle hielten "Old King Knut" (James Joyce) für einen der bedeutendsten Schriftsteller ihrer Zeit, weil er auf einzigartige Weise Modernität und urwüchsige epische Kraft vereinte. Nach dem Aufstieg zum Weltruhm erlebte der Literaturnobelpreisträger von 1920 allerdings einen unvergleichlichen Absturz als Kollaborateur der Nationalsozialisten. In Norwegen war er lange eine ebenso tabuisierte wie unausweichliche Figur. Seit einiger Zeit wird er wiederentdeckt. Ein Standardwerk dieser Renaissance ist Ingar Sletten Kolloens Biographie in zwei Bänden: "Hamsun, der Schwärmer" und "Hamsun, der Eroberer". Für die internationalen Ausgaben vom Autor um die Hälfte gekürzt, liegt sie nun endlich in deutscher Übersetzung vor.

Hamsun wurde 1859 als Knud Pedersen in der norwegischen Provinz geboren. Der spätere Gutsherr kam aus einfachsten Verhältnissen. Nach traumatischen Jugendjahren - er schuftete als eine Art Schreib- und Arbeitssklave bei seinem Onkel, einem autoritären Sektierer - begann er eine Schuhmacherlehre, war Amtmann und Hilfslehrer, zog als Hausierer die Küste entlang und begann zu schreiben. Der Durchbruch ließ auf sich warten. Hamsun hungerte in Kristiania und ging zweimal für längere Zeit nach Amerika. In Chicago war er Straßenbahnschaffner. Auf den Großfarmen des Mittleren Westens lernte er ungeahnte Formen der Menschenschinderei kennen - den amerikanischen Albtraum.

Nach Europa kehrte er 1888 zurück. Inzwischen war das Publikum der naturalistischen Elendsinszenierungen überdrüssig und suchte psychische Raffinessen. Hamsuns Durchbruchsromane "Hunger" und "Mysterien" boten sie im Übermaß; es sind Pionierwerke der Moderne, delirierend, fieberhaft, wie man es von den Bildern Edvard Munchs kennt, mit dem Unterschied, dass Hamsun viel Komik hinzugibt. Die Hauptfigur von "Mysterien", Johan Nilsen Nagel, ist ein raffinierter Hysteriker, der eine ganze Kleinstadt in Verwirrung stürzt. Das Faszinierende besteht darin, dass nicht nur über Nagel erzählt wird, sondern die Sprache selbst in den Nagel-Zustand gerät: eine geschmeidige, geistreich flirrende Verunsicherungsprosa, voller Gesten, Gebärden und Gelächter. Nichts verachtete Hamsun mehr als die Typenpsychologie à la Ibsen: "Ich träume von einer Literatur, bei deren Menschen die Inkonsequenz ein Grundzug ist."

Zugleich aber wurde er zum entschiedenen Gegner der gesellschaftlichen Modernisierung. 1911 erwarb er einen Bauernhof; das Landleben sollte seine zweite Frau, die Schauspielerin Marie Anderson, dem Theaterbetrieb und den "verderblichen" Einflüssen der Stadt entziehen. Aber bald meldete sich der literarische Impuls zurück, und der späte Vater von fünf Kindern ging monatelang auf Reisen, um zu schreiben. Kolloen schildert das an Zumutungen reiche Familien- und Ehedrama der Hamsuns einfühlsam und mit feinem Sinn für existentielle Komik.

Zu Hamsuns Widersprüchlichkeit gehört es, dass er - ungeachtet seines Lobs der Inkonsequenz - als zeitkritischer Publizist seinen Aversionen unerbittlich folgte: gegen die Briten, den Tourismus, die Frauenemanzipation. Bereits während des Ersten Weltkriegs erfreute er das deutsche Publikum mit solidarischen Beiträgen. Er lobte das vor Kraft strotzende Deutschland und argumentierte wie ein Youthbulge-Theoretiker: Nichts könne "den deutschen Geburtenüberschuss aufhalten".

Er rührte die Kriegstrommel - und wurde 1918 zum literarischen Friedensbringer. Sein subtiles Bauernepos "Segen der Erde" wurde als überwältigend "positives" Werk aufgenommen: Der Gesang von der Landlust, vom naturverbundenen Leben wirkte nach dem Horror der Materialschlachten wie ein Therapeutikum. Auch das Nobelpreiskomitee horchte auf: Endlich ein rundum "gesundes" Buch von diesem unsteten Romantiker. Nachdem man sich in Stockholm mehrere Jahre gestritten hatte, ob Hamsun genug "Idealismus" für die Ehrung vorzuweisen habe, war man sich 1920 endlich einig.

Starrsinn und Verblendung kennzeichnen Hamsuns Glauben an den Nationalsozialismus. Es gibt Affinitäten, etwa die Germanophilie und den Kult der Jugend und Gesundheit, aber man darf nicht vergessen, dass er als Autor immer eine Schwäche für die Schwachen hatte, für Figuren mit Handicap. Allein die Hauptfigur seines letzten großen Romans "Der Ring schließt sich" (1936) wäre in Deutschland ein Fall fürs Arbeitslager gewesen: Abel Brodersen, der Nichtstuer und Träumer, eine der antriebsärmsten Gestalten der Weltliteratur, die Camus' "Fremden" vorwegnimmt. Auf politischem Feld dagegen zeigte sich Hamsun von der Entschlossenheit des Diktators fasziniert. Seine Schwärmernatur wurde immer mehr von seiner Eroberernatur beherrscht, schreibt Kolloen. Mit Empathie und erlebter Rede versucht der Biograph die Argumente und Ressentiments nachzuvollziehen, die Hamsun an die Seite Hitlers brachten: Verständnis statt Verurteilung, bei klarer politischer Bewertung.

Hamsun begrüßte die Besetzung Norwegens durch die Wehrmacht. Bald aber wuchs sein Ärger, und er entwickelte eine fixe Idee: Hitler zu beeinflussen. Ende Juni 1943 bekam er eine Audienz auf dem Berghof - eine der befremdlichsten Begegnungen von Geist und Macht nahm ihren Lauf. Hitler war auf eine Plauderei über Dichtung eingestellt, er hätte einiges zum Thema Genialität zu sagen gehabt. Hamsun aber wollte über Politik sprechen. Undiplomatisch und mit der lauten Stimme des Schwerhörigen steuerte der Vierundachtzigjährige auf sein Ziel zu. Mit seiner Kritik an der Besatzungspolitik provozierte er Hitlers Zorn, der schließlich mit einem wütenden "Schweigen Sie!" den Raum verließ. Hamsun fühlte sich gedemütigt, doch er ließ sich weiter von der Propaganda einspannen. Noch im Mai 1945 schrieb er einen Nachruf auf den Diktator, in dem er ihn als "Kämpfer für die Menschheit" und "reformatorische Gestalt höchsten Ranges" pries.

Die Verdienste des Biographen Ingar Sletten Kolloen liegen vor allem im Detail: Er hatte Zugang zu Dokumenten, die verloren schienen, und verwertet die ärztlichen Notizen aus der Psychoanalyse, der sich Hamsun Mitte der zwanziger Jahre unterzog. Ausführlich rekapituliert er die Jahre zwischen Hausarrest, psychiatrischer Internierung und Landesverratsprozess. Kolloen hat Gerichtsprotokolle, Rechnungsbücher und Kontoauszüge zu Rate gezogen, um ein dichtes Faktennetz zu knüpfen. Dass dabei kleine Webfehler unterlaufen sind, schmälert den Gesamteindruck nicht: So hieß der Generalgouverneur im eroberten Polen nicht Karl-Hermann Frank, sondern Hans Frank.

Kolloen gelingt das facettenreiche, pointierte Porträt einer hochkomplizierten, mit Widersprüchen geladenen Persönlichkeit. Der Hass auf England, eine entscheidende Antriebskraft für Hamsuns politische Irrfahrt nach 1933, wird bis in die feinsten Verwurzelungen verfolgt. Prägnant verortet Kolloen die Romane in der persönlichen Ideengeschichte Hamsuns. Darüber kommt der Eigensinn der Werke manchmal zu kurz. Das ist gerade bei diesem Autor heikel, denn die konservativ-reaktionären Botschaften, die Kolloen aus der Publizistik destilliert und auf die Romane projiziert, sind zumindest in den besten Werken in dieser Undifferenziertheit nicht zu finden. Während Hamsun in Artikeln einseitig gegen Verstädterung, Industrialisierung und Demokratisierung polemisiert, stellt er etwa im Roman "Die Stadt Segelfoss" (1915) das Leben voller Erinnerungszauber in seinen Zwiespältigkeiten und Ambivalenzen dar. Dieses Buch ist - wie die meisten späteren Werke Hamsuns - hierzulande in Vergessenheit geraten. Kolloens faktensatte, spannend erzählte Biographie bietet Anlass, einen großen europäischen Schriftsteller wiederzuentdecken. Es ist, in Triumph und Verhängnis, auch ein Stück deutscher Literaturgeschichte.

WOLFGANG SCHNEIDER

Ingar Sletten Kolloen: "Knut Hamsun. Schwärmer und Eroberer". Biographie.

Aus dem Norwegischen v. Gabriele Haefs. Landt Verlag, Berlin 2011. 493 S., geb., 29,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Freudig begrüßt Wolfgang Schneider diese deutsche Übersetzung von Ingar Sletten Kolloens großer Biografie über Knut Hamsun. Das Werk zeichnet sich für ihn durch Detailreichtum und packende Darstellung aus. Er bescheinigt dem Autor, den Aufstieg Hamsuns aus kleinen Verhältnissen zum Literaturnobelpreisträger prägnant nachzuzeichnen. Auch die Zusammenarbeit des Schriftstellers mit den Nazis, sein Hass auf England und die Moderne werden nach Ansicht Schneiders eingehend thematisiert. Er hebt die Auswertung von zahllosen Quellen wie den ärztlichen Notizen aus der Psychoanalyse Hamsuns, Gerichtsprotokollen, Kontoauszügen und so weiter hervor. Sletten Kolloen gelingt in seinen Augen überzeugend, die komplizierte, widersprüchliche Persönlichkeit Hamsuns nuanciert und mit viel Empathie zu erhellen. Auch die Einordnung der literarischen Werke des Schriftstellers scheint ihm gelungen. Allerdings komme der "Eigensinn" dieser Werke bisweilen ein wenig zu kurz. So weist Schneider darauf hin, dass Hamsuns Romane wesentlich differenzierter als dessen sonstige Publizistik und weit von deren reaktionären Sichtweisen entfernt sind. Nichtsdestoweniger bietet Kolloens Biografie für ihn einen willkommenen Anlass, einen "großen europäischen" Schriftsteller wiederzuentdecken.

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