Produktdetails
- Verlag: Friedenauer Presse
- Seitenzahl: 29
- Erscheinungstermin: 6. Oktober 2008
- Deutsch
- Abmessung: 247mm x 169mm x 6mm
- Gewicht: 106g
- ISBN-13: 9783932109577
- ISBN-10: 3932109570
- Artikelnr.: 23845587
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2008Große Gereiztheit
Leonid Dobycin erzählt aus der deutsch-baltisch-russischen Provinz
Der Erzähler Leonid Dobycin (1894 bis 1936) gehört zu jener russischen Avantgarde, die noch in der späten Zarenzeit entstehen konnte und die dann in der frühen Stalinzeit zerrieben wurde. Die nur 22 Seiten lange, in den zwanziger Jahren entstandene Erzählung „Evdokija” – benannt nach der byzantinisch-orthodoxen russischen Nationalheiligen Eudokia – ist nach zwei kurzen Romanen das dritte Werk dieses Autors, das nun auf deutsch erscheint. Seine Technik der äußersten Verknappung – Kurzszenen liegen wie Mosaiksplitter in lyrisch glühenden ländlichen Impressionen – hat Dobycin hier auf die Spitze getrieben. So eng der Raum dieses Textes ist – eine Kleinstadt an der Düna – so zahlreich sind seine Figuren und so weit sein Zeitraum: ein ganzes Jahr zwischen dem Romanov-Jubiläum 1913 und dem Kriegsausbruch 1914. Die provinzielle Vorkriegsgesellschaft im baltisch-deutsch-russischen Mischgebiet – Lehrer, Schutzmann, Priester, Gräfin, Dienstboten, Russen, Deutsche, Letten – beschäftigt sich aus Langeweile damit, ihre konfessionellen und nationalen Differenzen zu pflegen. Der tiefe Vorkriegsfriede erscheint wie in so vielen Büchern über diese Zeit als große Gereiztheit. So verschenkt eine noch ganz cechovhaft gezeichnete Provinz Schönheiten, die Dobycin wie absichtslos dazwischenstreut: „Auf dem Rückweg wurde der bläuliche Himmel fliederfarben-rosig. Sie drehten sich um und schauten auf das doppelte rote Oval der auf der Flussoberfläche liegenden Sonne.” Wenn vor diesem Hintergrund helle Kleider erscheinen, muss man freilich wissen, dass weiße Röcke ein nationalrussisches Zeichen sind, wie der ausführliche Kommentar des Übersetzers Peter Urban erläutert. Die fast jugendstilhaft-symbolistische Prosa muss gelesen werden wie ein Gedicht. GUSTAV SEIBT
LEONID DOBYCIN: Evdokija. Eine Erzählung. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2008. 30 Seiten, 9,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Leonid Dobycin erzählt aus der deutsch-baltisch-russischen Provinz
Der Erzähler Leonid Dobycin (1894 bis 1936) gehört zu jener russischen Avantgarde, die noch in der späten Zarenzeit entstehen konnte und die dann in der frühen Stalinzeit zerrieben wurde. Die nur 22 Seiten lange, in den zwanziger Jahren entstandene Erzählung „Evdokija” – benannt nach der byzantinisch-orthodoxen russischen Nationalheiligen Eudokia – ist nach zwei kurzen Romanen das dritte Werk dieses Autors, das nun auf deutsch erscheint. Seine Technik der äußersten Verknappung – Kurzszenen liegen wie Mosaiksplitter in lyrisch glühenden ländlichen Impressionen – hat Dobycin hier auf die Spitze getrieben. So eng der Raum dieses Textes ist – eine Kleinstadt an der Düna – so zahlreich sind seine Figuren und so weit sein Zeitraum: ein ganzes Jahr zwischen dem Romanov-Jubiläum 1913 und dem Kriegsausbruch 1914. Die provinzielle Vorkriegsgesellschaft im baltisch-deutsch-russischen Mischgebiet – Lehrer, Schutzmann, Priester, Gräfin, Dienstboten, Russen, Deutsche, Letten – beschäftigt sich aus Langeweile damit, ihre konfessionellen und nationalen Differenzen zu pflegen. Der tiefe Vorkriegsfriede erscheint wie in so vielen Büchern über diese Zeit als große Gereiztheit. So verschenkt eine noch ganz cechovhaft gezeichnete Provinz Schönheiten, die Dobycin wie absichtslos dazwischenstreut: „Auf dem Rückweg wurde der bläuliche Himmel fliederfarben-rosig. Sie drehten sich um und schauten auf das doppelte rote Oval der auf der Flussoberfläche liegenden Sonne.” Wenn vor diesem Hintergrund helle Kleider erscheinen, muss man freilich wissen, dass weiße Röcke ein nationalrussisches Zeichen sind, wie der ausführliche Kommentar des Übersetzers Peter Urban erläutert. Die fast jugendstilhaft-symbolistische Prosa muss gelesen werden wie ein Gedicht. GUSTAV SEIBT
LEONID DOBYCIN: Evdokija. Eine Erzählung. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2008. 30 Seiten, 9,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2008Aus der Provinz
Schon Gogol wusste, dass das wahre Russland in der Provinz zu finden ist. Der früh aus dem Leben geschiedene Erzähler Leonid Dobycin (1894 bis 1936), dessen schmales Werk einen Höhepunkt der Leningrader Zwischenkriegsavantgarde darstellt, verewigte darin die poetische Trostlosigkeit seines Herkunftsorts Dwinsk im seinerzeit russischen Baltikum. In seiner jetzt als schöne Broschüre auf Deutsch erschienenen Erzählung "Evdokija", die zu Lebzeiten des Autors nie erschien, schildert Dobycin in der ihm eigenen Lakonik das drückende Kleinstadtleben vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dobycins Personal - eine russisch radebrechende Deutsche, eine bigotte Russin, eine wichtigtuerische katholische Gräfin, Popen, Lehrer, Polizisten samt Gattinnen - beschwört die toten Seelen einer auslaufenden Epoche, die vor allem von ihren sozialen Eifersüchteleien absorbiert sind. Die Gräfin hat sich und das Gotteshaus herausgeputzt. Ausgerechnet die Russin, die sich zur vornehmen Dame berufen fühlt, tauft das Flüsschen Eldyschka um in Evdokija, nach der von den Orthodoxen verehrten Märtyrerin. Die Deutsche, die bei jeder Gelegenheit ein angenehmes Lächeln aufsetzt, gibt sich dadurch als Nachfahrin der "in jeder Hinsicht angenehmen Dame" aus Gogols Roman zu erkennen. In diesem menschlichen Panoptikum erinnern nur die langsam wandernden Lichtflecken der Himmelskörper daran, dass die Zeit nicht stillsteht. Beim lange erwarteten Kriegsausbruch endet der Text abrupt wie ein abgeschnittener Lebensfaden. (Leonid Dobycin: "Evdokija". Eine Erzählung. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2008. 30 S., br., 9,50 [Euro].) kho
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schon Gogol wusste, dass das wahre Russland in der Provinz zu finden ist. Der früh aus dem Leben geschiedene Erzähler Leonid Dobycin (1894 bis 1936), dessen schmales Werk einen Höhepunkt der Leningrader Zwischenkriegsavantgarde darstellt, verewigte darin die poetische Trostlosigkeit seines Herkunftsorts Dwinsk im seinerzeit russischen Baltikum. In seiner jetzt als schöne Broschüre auf Deutsch erschienenen Erzählung "Evdokija", die zu Lebzeiten des Autors nie erschien, schildert Dobycin in der ihm eigenen Lakonik das drückende Kleinstadtleben vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dobycins Personal - eine russisch radebrechende Deutsche, eine bigotte Russin, eine wichtigtuerische katholische Gräfin, Popen, Lehrer, Polizisten samt Gattinnen - beschwört die toten Seelen einer auslaufenden Epoche, die vor allem von ihren sozialen Eifersüchteleien absorbiert sind. Die Gräfin hat sich und das Gotteshaus herausgeputzt. Ausgerechnet die Russin, die sich zur vornehmen Dame berufen fühlt, tauft das Flüsschen Eldyschka um in Evdokija, nach der von den Orthodoxen verehrten Märtyrerin. Die Deutsche, die bei jeder Gelegenheit ein angenehmes Lächeln aufsetzt, gibt sich dadurch als Nachfahrin der "in jeder Hinsicht angenehmen Dame" aus Gogols Roman zu erkennen. In diesem menschlichen Panoptikum erinnern nur die langsam wandernden Lichtflecken der Himmelskörper daran, dass die Zeit nicht stillsteht. Beim lange erwarteten Kriegsausbruch endet der Text abrupt wie ein abgeschnittener Lebensfaden. (Leonid Dobycin: "Evdokija". Eine Erzählung. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2008. 30 S., br., 9,50 [Euro].) kho
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Freudig begrüßt Ilma Rakusa die deutsche Übersetzung von Leonid Dobytschins Erzählung "Evdokija", die ein Sittengemälde der russischen Gesellschaft entwirft. Der Autor, der sich als Künstler verkannt fühlte und sich 1936 das Leben nahm, gilt ihr als "berühmtester Geheimtipp" der russischen Literatur. Daher ist sie dem Übersetzer und Herausgeber Peter Urban überaus dankbar für seinen engagierten Einsatz für Dobytschin. Dessen in der baltischen Provinzstadt Dwinsk spielende Erzählung betrachtet sie als "kleines Meisterwerk". Sie lobt Dobytschins Lakonik, seine prägnanten Momentaufnahmen und vor allem seine raffinierten, an Tschechow erinnernden Dialoge. Als "kunstvoll, schlicht, auf vertrackte Weise modern" beschreibt sie den Erzählstil des Schriftstellers, der den Leser mit einer Welt konfrontiert, die "mosaikhaft, unübersichtlich und letztlich rätselhaft" sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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