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Produktdetails
  • Wolffs Broschur
  • Verlag: Friedenauer Presse
  • Seitenzahl: 157
  • Deutsch
  • Abmessung: 13mm x 122mm x 182mm
  • Gewicht: 180g
  • ISBN-13: 9783932109362
  • ISBN-10: 3932109368
  • Artikelnr.: 12415335
Autorenporträt
Peter Urban, geboren 1941 in Berlin, studierte Slavistik, Germanistik und Geschichte in Würzburg und Belgrad, war Verlagslektor bei Suhrkamp, Hörspieldramaturg beim WDR und ist Lektor im Verlag der Autoren in Frankfurt; er übersetzte u.a. Werke von Gorkij, Ostrovskij, Daniil Charms, Kazakov, Chlebnikov und das gesamte dramatische Werk von Anton Cechov. Für seine Neuedition und -übersetzung der Cechov-Briefe wurde ihm der Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis zuerkannt. Peter Urban verstarb 2013.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2004

Verstand schafft Leid und Lust
Aleksandr Griboedovs geniale Komödie in neuer Übersetzung

Welcher Russe kennt nicht Famusov, den bombastischen Würdenträger alter Schule, oder Molcalin, den schleimigen Karrieristen, Repetilov, den lausigen Schwätzer, ganz zu schweigen vom grobschlächtigen, beschränkten Obersten Skalozub? Schon ihre Namen sprechen Bände: Molcalin bedeutet in etwa "der Schweiger", Skalozub "der Zähnefletscher". Ihre dümmlichen Aussprüche aber, pariert durch die ätzenden Bonmots ihres scharfzüngigen Widerparts Aleksandr Cackij, gehören zu den am häufigsten verwendeten geflügelten Worten der russischen Sprache. Sie entstammen der genialen Komödie Aleksandr Griboedovs, deren Titel bereits eine gnomische Wendung darstellt, die dem Übersetzer beträchtliche Schwierigkeiten bereitet. Man hat dieses "Gore ot uma" (wörtlich: Leid vom Verstand) etwa mit "Verstand schafft Leiden" (Arthur Luther) oder mit "Geist bringt Kummer" (Johannes von Guenther) wiedergegeben. Peter Urban versucht es in seiner neuen Übersetzung mit "Wehe dem Verstand", wobei immerhin, um den Preis einer im Russischen nicht gegebenen Drohgeste, der einprägsame Rhythmus des Originals erhalten bleibt.

Griboedovs Komödie, 1824 abgeschlossen, konnte erst in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, also nach dem Tode des Dichters, der 1829 als russischer Gesandter in Teheran einer antirussischen Verschwörung zum Opfer fiel, die Bühne erobern. Hier wurde die Moskauer Gesellschaft des Jahres 1822, zehn Jahre nach dem Sieg über Napoleon, drei Jahre vor der Dekabristenrevolte, lebensecht dargeboten und satirisch zugerichtet.

Cackij, der hellsichtige und scharfzüngige Räsoneur und Aufklärer, ist nach dreijährigem Auslandsaufenthalt nach Moskau zurückgekehrt. Im Hause Famusovs hat sich Sofja, die ihm einst vertraut war, dem Heuchler Molcalin zugewandt, dem Sekretär ihres Vaters, mit dem sie die Nächte, gefühlvoll händchenhaltend und musizierend, verbringt. Cackij trifft auf eine Gesellschaft von verweichlichten, taten- und talentlosen Adeligen, auf stumpfsinnige Gestalten, die sich in Sprache und Geist westlichen Moden verschrieben haben. Verbittert stellt er sich diesen unsäglichen Gestalten entgegen, einer gegen alle, mit dem Rücken zur Wand. In satirischen Monologen geißelt er ihr albernes Treiben, ihre Verbohrtheit, Rückständigkeit und banale Gallomanie. Auf dem Ball am Abend verbreitet sich in einer raschen Szenensequenz das Gerücht, Cackij habe den Verstand verloren. Am Ende werden Cackij und Sofja, beide lauschend - in einer doppelten Anagnorisis, dem schrecklichen Erkennen der Wahrheit - den Irrtum gewahren, dem sie erlegen sind: Cackij erkennt, daß Sofja sich mit Molcalin eingelassen hat; Sofja sieht, daß Molcalin die Zofe Liza anmacht. Cackij verläßt mit dem sprichwörtlichen Ruf "Meinen Wagen, meinen Wagen!" das ihm feind gewordene Moskau.

"Wehe dem Verstand" wirbelte die seit dem Klassizismus eingefahrenen Gattungsvorstellungen der Zeitgenossen arg durcheinander. War es wirklich eine Komödie, in der Cackij als Träger eines Lasters, gleich Molières Misanthropen, zu dem unübersehbare Verbindungen bestehen, für seine Menschenfeindschaft und sein galliges Wesen bestraft wird? Oder war es nicht eher eine Tragödie, in der ein edler, klarsichtiger Geist durch die Niedertracht und Dummheit seiner Umgebung um sein Glück und seine Hoffnungen gebracht wird? Dies war nicht die einzige Ungewißheit. Griboedov brach auch mit der aristotelischen Handlungskonstruktion, der bereits die Vieraktigkeit der Komödie widersprach. Die Intrige, die die klassizistische Komödie in aller Regel eröffnet, taucht bei Griboedov, wenn überhaupt, erst in der 13. Szene des dritten Aktes auf. "Er ist nicht bei Verstand", läßt sich Sofja verärgert, wenngleich eher zufällig über Cackij vernehmen - und schon macht das Gerücht seine Runde. Dafür erstreckt sich die Exposition gewissermaßen in ungewöhnlicher Breite über das ganze Stück. Der Tagesablauf im Hause eines hohen Staatsbeamten wächst sich zu einer Milieustudie über die Moskauer Adelsgesellschaft mit einer Fülle diffuser Konfliktlagen aus. Hier kündigt sich erstmals das "russische Drama" an, das weder Komödie noch Tragödie im traditionellen Verständnis ist, sondern seine Dramaturgie aus dem Lebensfluß zu gewinnen sucht. Von Griboedov über Gogol, Turgenjew, Ostrowski bis Tschechow und Gorki wird dieser Dramentypus zu einer der charakteristischsten Hervorbringungen der russischen Literatur werden.

Griboedov fand für seine Komödie ein besonderes metrisches Vehikel: freie Jamben, deren wechselnde Länge spritzige Reimeffekte und geistreiche Pointen geradezu herausfordern. Das kannte man bislang nur aus den Fabeln Krylows. Griboedovs meisterhafte Beherrschung dieses flexiblen Verses, das Ausspielen aller nur denkbarer Ausdrucksnuancen und Stilfinessen ins Deutsche hinüberzuretten ist für den Übersetzer keine einfache Aufgabe. Peter Urban, der mit seiner akribischen Sichtung russischer Texte dem deutschen Leser ganz neue Eindrücke von Puschkin, Tschechow oder Charms vermittelt hat, tut sich mit den leichtfüßigen Versen schwer. Die durchgehende Reimung hat er durch gelegentliche Reime und Assonanzen ersetzt. Der jambische Rhythmus desertiert häufig zur Prosa. Dennoch dürften Urbans lapidare Repliken und wortreiche Tiraden ihre Wirkung auf der Bühne nicht verfehlen.

Es bleibt abzuwarten, ob Griboedovs Meisterwerk, neben Gogols "Revisor" die meistgespielte Komödie in Rußland, mit Urbans neuem Einbürgerungsversuch endlich auch vom deutschen Publikum angenommen wird. Hundertachtzig Jahre nach seiner Entstehung ist das Stück nicht nur nach Sprache und Witz und in seiner aufrüttelnden Spießerkritik lebendig geblieben, sondern es läßt sich unschwer auch auf die Probleme unserer Gegenwart umpolen: Eine verkrustete, unbewegliche Gesellschaft, in der Karrierestreben und Opportunismus herrschen, Sprache und Lebensführung der Überfremdung erliegen, restaurativer Geist das Denken lähmt - ist das nicht ein Spiegel unserer Welt? Wie würde ein Cackij hier und heute, im Klima der political correctness, aufgenommen? Wehe dem Verstand!

REINHARD LAUER

Aleksandr Griboedov: "Wehe dem Verstand". Komödie in vier Akten in Versen. Aus dem Russischen übersetzt von Peter Urban, Friedenauer Presse, Berlin 2004. 157 S., br., 14,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

" Lebensecht dargeboten und satirisch zugerichtet findet der begeisterte Rezensent Reinhard Lauer die Moskauer Gesellschaft des Jahres1822 in diesem Stück von 1824, das er als geniale Komödie feiert. Auch weil es sich seinen Informationen zufolge um die neben Gogols "Revisor" meistgespielte Komödie in Russland handelt, hofft er, dass dieser neuerliche Einbürgerungsversuch des Dramas in Deutschland glücken wird. Ein wenig ist er von Peter Urbans Übersetzung enttäuscht, der sich aus seiner Sicht mit Alexander Gribojedow leichtfüßiger Reimung etwas schwer getan hat. Trotzdem prophezeit der Rezensent Urbans lapidaren Repliken und wortreichen Tiraden eine Bühnenwirkung. Das Stück selbst feiert er auch hundertachtzig Jahre nach seiner Entstehung wegen seiner aufrüttelnden Kritik am Spießer als äußert aktuell und lebendig.

© Perlentaucher Medien GmbH"