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Produktdetails
  • Verlag: Edition Tertium
  • Seitenzahl: 414
  • Deutsch
  • Abmessung: 40mm x 241mm x 276mm
  • Gewicht: 2304g
  • ISBN-13: 9783930717712
  • ISBN-10: 3930717719
  • Artikelnr.: 12269424
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2004

Tanz in die Utopie
Klaus Waschik und Nina Baburina fächern das breite Spektrum russischer Plakatkunst auf

Einen historisch illustrierten Überblick zur russisch-sowjetischen Plakatkunst des zwanzigsten Jahrhunderts gewährleistet jetzt eine zweiteilige Werkausgabe, der eine zwölfjährige Recherche vorausliegt. Die Herausgeber, Nina Baburina (Staatsbibliothek, Moskau) und Klaus Waschik (Lotman Institut, Universität Bochum), bauten mit weiteren dreißig Projektmitarbeitern eine umfassende Text-Bild-Datenbank auf. Basierend auf einer Materialfülle von etwa viertausend Abbildungen weitgehend unbekannter Plakate und Künstler, spüren sie dem historischen Wandel, den Motiven, Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen des Plakats enzyklopädisch nach. Ihre Bestandsaufnahme komplettiert ohne ideologische Verzerrungen die bislang nur über Teilaspekte verlaufene Aufarbeitung und bietet Lesern - ob fachkundig oder nicht - mit einer sprachlich klaren Darstellungsform kurzweilige und überzeugende Informationsarbeit.

Die Autoren stellen heraus, daß Plakate keine Wirklichkeit nachbilden, sondern sie als medialen Raum strategisch - zwischen Plausibilität und Vision - konstruieren. Die längste Phase im zwanzigsten Jahrhundert führendes Medium, gerät das Plakat im Westen vor allem in den Dienst kommerzieller Werbung, in Rußland und der Sowjetunion dient es zudem ideologischen Zwecken und der politisch-propagandistischen Inanspruchnahme. Analog zum politischen Wandel wechselten aktive "Aufklärungsphasen" mit affirmativen "Admirationsphasen", wobei die Leistungen des Plakats nicht unbedingt den Zielen der Politik oder deren Erwartungen entsprechen mußten, woraus aber ein brisantes Verhältnis entwuchs.

Die Lektüre sensibilisiert für eine virtuelle Realität, die im Kampf um die "richtigen" Bilder mit den tatsächlichen Wirklichkeitserfahrungen in Rußland oft wenig gemeinsam hatte. Das Plakat verortete "Wahrheit" gern bei sich, lieferte aber selten den Nachweis für "historische Wahrheit". Die facettenreiche Entwicklung des russisch-sowjetischen Plakats, die unter Vorgaben einer Verhaltens- und Bewußtseinsveränderung, eines Normen- und Wertewandels gestellt wurde, wird besonders reizvoll dort, wo nicht nur Geschichte, Mittel und Wirkungsweisen der Plakatkunst erfaßt, sondern auch soziokulturelle Bedingungen und wandelnde Rezeptionsformen einbezogen sind. Daneben leistet die Werkausgabe medialen Ersatz für die Aufgaben eines Plakatmuseums, das es bis heute in Rußland nicht gibt.

Frühe Prints des zwanzigsten Jahrhunderts machen Waren wie Bier, Gummigaloschen, Kekse oder Seife zum werbetechnischen Massenartikel und verwandeln mit hochwertigen Lithographien Plakatkunst zu einem eigenständigen Genre, das auch auf politischem Terrain boomt. Die Revolutionsereignisse eröffnen die Geburtsstunde politischer Agitation auf breiter Front. Rauchende Schlote und strahlende Sonnen werden symbolträchtige Garanten für sozialen Optimismus und appellierende Siegermentalität einer noch zu modellierenden Gesellschaft.

Anhand der berühmten Rosta-Plakate Majakovskijs, im "Telegrammstil" in Moskauer Schaufenstern präsentiert, setzt eine aktuelle Ereignisgeschichte über Nacht handkopiert oder im Schablonendruck ein, um die dahineilende städtische Masse, "ob sie will oder nicht, mit aller Raffinesse zu zwingen", vor Losungen zu verharren. Das sowjetische Plakat der zwanziger Jahre avanciert zu seiner kreativsten Phase, wird zum provozierenden Gegenstand künstlerischen Experimentierens. Mit Montageverfahren aus Kino und Fotografie visualisieren avantgardistische Künstler wie El Lisickij, Rodsenko, Klucis und die Brüder Stenberg neue konstruktivistische Standards in Produktreklame und Filmplakaten. Der utopieweisende "neue Mensch", dem es an wirklichem Leben noch fehlt, ist bereits medial vorbildhafte Realität.

Unter Stalin wird das Plakat kraft staatlicher Verordnungen und Zensur in vollständige Abhängigkeit zur auftraggebenden Partei zugerüstet. Der sozialistische Aufbau mobilisiert innenpolitische Feindbilder und "Siege" an der staatlichen Fortschrittsfront, kollektive "Wir-Imperative" egalisieren medial Sender- und Empfängerrollen. Megalomane Losungen werden zum erobernden Feldzug multimedial gegen den Himmel projiziert, damit aller ästhetischen Grenzen enthoben oder strategisch auf hyperdimensionale Panneaus übertragen, um den öffentlichen Raum hinter "Potemkinschen" Kulissen bühnentechnisch verschwinden lassen. Eine moderne Distribution vernetzt Stadt und Land prototypisch zu einer totalen Werbemaschinerie mit unifizierender Wahrnehmung.

Der sozialistische Realismus, unerträgliche Alltagswelten substituierend, findet im Plakat eine adäquate Medialisierung des sowjetischen Lifestyles in millionenfachem Aushang. Idyllen, Pathos, Dankrituale an den glorreichen Vater und Herrscher Stalin mobilisieren heldenhaft die "Erfolgsstory" des Endzeitkommunismus, um pompös "aus einem Märchen Wirklichkeit zu machen". Den Sozialismus zur allgegenwärtigen Ware vertauschend, den realen Mangel an Konsumobjekten zu Fiktionen von Wohlstand verordnend, medialisiert das Plakat ein fast perfektes Konsumparadies. Aus der kulminierenden "Personalisierung" der Utopie beginnen in ihrer Apotheose schließlich Stalin und die Partei im Plakat distanzlos in "vollendeter Vergesellschaftung" mit sich selbst zu kommunizieren; Werbung setzt darauf, für sich allein zu werben. Der stalinistische Utopismus operiert zwar mit einem stereotypen Körperkult, bleibt aber anders als der NS-Körperfetischismus frei von rassistischen Untertönen. Das innere Feindbild wandert während des Zweiten Weltkriegs plakativ nach außen, aus der "Mutter Heimat" wird gegen den Eroberungsfeldzug der Deutschen mit Durchhalteparolen mobilisiert. Hitler erscheint satirisch verhöhnt als Anstifter, wobei deutsche Soldaten nicht selten als Opfer seiner Eroberungspolitik fungieren.

Mit dem Finale des Stalin-Kults flüchten Werbekampagnen innovationsscheu in wertkonservative Privatwelten. Ein Generationswechsel in den sechziger Jahren fördert ein Umdenken der Plakatgestalter, das, im Perestrojka-Plakat kulminierend, eine kritische Distanz zur Sowjetideologie entfacht und Mißstände diskreditiert. Neben der Kommerzialisierung von Werbung entwirft in den neunziger Jahren eine kleine Schar enthusiastischer Plakatkünstler oft am Rand des Existenzminimums mit individuellen Sichtweisen Gegenentwürfe zur öffentlichen Diskussion und postsowjetische Zivilisationskritik. Dabei bleibt es häufig fern der Öffentlichkeit beim Entwurf und unikalem Sammlerstück, das die Kommunikation zwischen Plakat und Massenpublikum nicht mehr herstellen kann, womit eine lange Ära politischen Zündstoffs für das Plakat in Rußland abzubrechen scheint.

Das im Handbuch bisweilen klein formatierte Bildmaterial der mehr als vierhundert farbigen Abbildungen erfährt über eine intermedial ergänzende DVD begrüßenswerten Zuwachs. Anhand von mehr als tausend Reproduktionen liefert sie chronologische und thematische Multimedia-Präsentationen aus Plakatkunstdepots sowie historischen Film-, Foto- und Tonarchiven. Für individuelle Sondierungen stehen weitere hundertachtzig illustrierte Texte, etwa tausend Künstlerviten, Glossar, umfangreiche Recherche-Optionen zum Abruf bereit. Die DVD gestattet einen virtuellen Museumsbesuch mit und ohne Führung, eine Albumsfunktion ermöglicht, eigene Alben anzulegen und Plakate auszudrucken. Ein erschöpfendes Werk, das seinesgleichen sucht.

GUDRUN LEHMANN

Klaus Waschik, Nina Baburina: "Werben für die Utopie". Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts. Verlag edition tertium, Bietigheim-Bissingen 2003. 416 S., 500 Farb-Abb., geb., DVD mit 1100 farb. Wiedergaben, 5 Stunden Spieldauer, 118,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gudrun Lehmann würdigt diesen Band ebenso wie die mitgelieferte DVD von Klaus Waschik und Nina Baburina zur russischen Plakatkunst des 20. Jahrhunderts als "ein erschöpfendes Werk, das seinesgleichen sucht". Die mehr als vierhundert farbigen Abbildungen, lobt sie, würden durch die ergänzende DVD "begrüßenswerten Zuwachs" erhalten, die anhand von mehr als tausend Reproduktionen chronologische und thematische Multimedia-Präsentationen aus Plakatkunstdepots sowie historischen Film-, Foto- und Tonarchiven biete. Für "individuelle Sondierungen" stehen dort außerdem, erfährt man, hundertachtzig illustrierte Texte, etwa tausend Künstlerviten, ein Glossar und weitere umfangreiche Recherche-Optionen zum Abruf bereit; und eine "Albumsfunktion" ermöglicht, eigene Alben anzulegen und Plakate auszudrucken. An den Texten des Bandes lobt die Rezensentin, dass sie "besonders reizvoll" dort seien, wo neben der Geschichte, der Mittel und der Wirkungsweisen der Plakatkunst auch noch "soziokulturelle Bedingungen" und sich "wandelnde Rezeptionsformen" einbezogen worden sind; wodurch etwa deutlich werde, dass die "Leistungen des Plakats" nicht unbedingt und immer den Zielen der Politik oder deren Erwartungen entsprechen musste.

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