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Produktdetails
  • Verlag: Edition Memoria / Schumann
  • 2000.
  • Seitenzahl: 200
  • Deutsch
  • Abmessung: 200mm x 125mm
  • Gewicht: 255g
  • ISBN-13: 9783930353125
  • ISBN-10: 3930353121
  • Artikelnr.: 09006796
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2001

Der Schrecken der Apfelblüte
Keine heile Welt: Miervaldis Birzes Geschichten aus Lettland

Nie wurde so viel übersetzt wie heute. Während jedoch aus manchen Regionen der Welt auch das Drittklassige frisch auf den deutschen Büchertisch kommt, bleiben andere Regionen literarische Niemandsländer. Man gesteht ihnen gern zu, eine beachtliche Nationalliteratur zu haben, aber das klingt schon halb nach höherer Folklore. Der kleine Verlag, der jetzt unter dem etwas kümmerlichen Titel "Grashalme aus Lettland" zwölf Erzählungen des im letzten Jahr verstorbenen Autors Miervaldis Birze präsentiert, hebt im Klappentext hervor, was von lettischen Geschichten sowieso niemand anders erwarten würde: daß sie "so gar nicht avantgardistisch" seien.

Wie sehen diese Geschichten aus? Erwartungsgemäß ist viel von der Natur die Rede, die Schauplätze sind überwiegend ländlich, Nebel hängt über Wiesen, es gibt Birkenhaine und blühende Obstbäume (eine Geschichte heißt "Ein Apfel"), am Himmel ziehen die Schwäne, die Kinder reiten auf Holzpferdchen, und die Großväter erzählen ihnen Geschichten, die Bauern geben ihrem Vieh noch Namen, als wären es Individuen. Die Menschen gebärden sich weniger individuell als in heutiger Prosa üblich, oft kommen sie mit Bezeichnungen wie "das Kind", "die Mutter" oder "der Großvater" aus. Birze erzählt in schlichten, poetischen Sätzen. Gute, alte, heile Welt.

Von wegen. In den leisen Erzählungen von Miervaldis Birze regiert der Schrecken. Plötzlich kommt jemand über die friedliche Wiese daher, um von einem alten Bekannten Rechenschaft für ein Schweigen zu fordern, das viele Jahre Gefängnis bedeutete. Gut möglich, daß die Männer, die auf dem Acker nach Kartoffeln graben, Zwangsarbeiter sind und daß das Holzpferdchen zu Asche verbrannt ist, damals, als das Haus in Grund und Boden geschossen wurde. Kann sein, daß der angefaulte Apfel, der an einem "herrlichen Frühlingstag" von einem Mädchen in den blauen Himmel geworfen wird, über den Stacheldrahtzaun eines Konzentrationslagers fliegt, wo ein ausgehungerter Häftling denkt: "Ein Apfel! Den muß ich haben." Kurz bevor er den Apfel in Händen hält, ist er tot, denn die Wache ist aufmerksam.

Viel von dem Schrecken, der sich in diesen Erzählungen durch die Apfelblütenzweige drängt, erklärt sich bei einem Blick auf die Biographie des Autors; nicht die eines Dorfschreibers, sondern eine europäische Leidensgeschichte. Der 1921 geborene Miervaldis Birze begann 1939 Medizin zu studieren und hatte, wie viele seiner Generation, kommunistische Ideen im Kopf, was ihn nach der deutschen Besetzung Lettlands für vier Jahre in Konzentrations- und Arbeitslager brachte, bis nach Buchenwald. Im Frühjahr 1945 gelang ihm die Flucht nach Lettland, wo er erfuhr, daß fast sämtliche seiner Angehörigen ermordet worden waren. Bis in die sechziger Jahre arbeitete er als Arzt in einem Tuberkulosesanatorium, um sich dann, als einer der namhaftesten Autoren seines Landes, ganz dem Schreiben zu widmen.

Die Hälfte der hier versammelten Erzählungen - sie reichen von lakonischer Kurzprosa bis zur 50-Seiten-Novelle - basiert auf diesen unerwünschten historischen Erfahrungen. Wo es um Leben und Tod geht, wird die Psychologie einfach. In "Sie wollte schön sein" - einer Erzählung, die an die Birkenau-Darstellung von Liana Millu erinnert - werden weibliche KZ-Häftlinge aus durchsichtigen Motiven von der Aufseherin zu Tode schikaniert: "Hildes Gesicht schaute auf diese in grauen Säcken gekleidete Frauenschar, deren Füße nur in schmutzige Lappen gewickelt waren, und sie ekelte sich vor ihnen wie vor überfahrenen Fröschen. Sie wußte, daß keine dieser ausgemergelten Gestalten über dreißig war, und sie haßte sie auch deswegen, weil sie einst vielleicht schöner waren." In anderen Geschichten geht es um die Schwierigkeit, einer Mutter mitzuteilen, daß ihr verschollener Sohn erschossen unter der Erde liegt, oder um Angst und Versagen.

Die Lager- und Kriegsleiden haben die Literatur nicht stumm gemacht. Das Grauenhafte hat man in verschiedenen Schreibweisen kennengelernt: zuletzt im Kälteton Alexandar Tismas und im unerhörten Naivitätston von Imre Kertész. Verglichen mit diesen großen Autoren und ihrer negativen Anthropologie, ist Miervaldis Birze ein schlichter, wenig zu Pessimismus und Verzweiflung veranlagter Erzähler, der lieber die Natur und das Dorfleben als die Schrecken der Geschichte beschreiben würde und der eine "lichte Grundstimmung" bewahren möchte, "soweit das auf einem Friedhof überhaupt möglich ist". Aus diesem Widerspruch ergeben sich die Kontrastwirkungen, die Birzes spezifischen Ton ausmachen. Ein wunderbarer Mai, und beim Todesmarsch rieseln einem die Apfelblüten auf die Schultern. So beschreibt es die autobiographische Erzählung "Schritt für Schritt", in der sich eindrucksvolle Bilder und Szenen vom Kriegsende finden. Die Flucht geht durch verlassene Dörfer: "Auf dem Gehsteig lag eine zerrissene Panzerkette und ähnelte einem breiten Uhrenarmband. Kein Laut, kein lebender, kein toter Mensch, nicht mal ein frisches Grab, nur frischer Narzissenduft aus den Gärten."

Auch in jenen Stücken, die weit entfernt sind vom Krieg, lauert der Tod. Eine Geschichte beschreibt, wie ein kleiner Junge eine Reuse auslegen will und deswegen in ein Boot steigt, das sich unversehens vom Ufer löst und in die Strömung des Flusses gerät. Ein sonniger Tag, die Libellen schwirren, doch bald kippt die Stimmung ins Bedrohliche: "Über den Fluß schob sich der Schatten des Berges, das Wasser war hier dunkelbraun. Die Strömung schien hier viel schneller, aber geheimnisvoll leise zu sein. Der Junge hielt sich mit beiden Händen am Bootsrand fest." Das kann nicht gutgehen. Das Boot kenterte: "Wasser strömte in den Mund des Jungen." Zwei kräftige Männer sind zur Stelle, um das Leben des Jungen zu retten. Dort, wo Birze als Chronist seiner Epoche schreibt, sind solche schönen Fügungen selten.

WOLFGANG SCHNEIDER

Miervaldis Birze: "Grashalme aus Lettland". Erzählungen. Aus dem Lettischen übersetzt von Benita Spielhaus. Mit einem Vorwort von Blanche Kommerell. Herausgegeben von Thomas B. Schumann. Edition Memoria, Hürth bei Köln und Wien 2000. 183 S., br., 32,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Dem Rezensenten mit dem Kürzel "U. Sm." erscheint das Buch als gutes Mittel gegen das verbreitete "Desinteresse an den sogenannten 'kleinen' Literaturen Osteuropas". Dem lettischen Autor, heißt es in der knappen Besprechung, gelinge es, das heikle Thema einer leidvollen Kriegserfahrung "in subtile künstlerische Gleichnisse zu fassen." Der dadurch geschaffene "unausgesprochene Kontrast von emotionsfreier Sprache und tiefer menschlicher Tragik" und die Unaufdringlichkeit dieser "an Tschechow geschulten Erzählungen" haben den Rezensenten überzeugt.

© Perlentaucher Medien GmbH