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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2001

Marlene auf Stroh
Die französischen Tagebücher
des Andrzej Bobkowski, 1940/41
Eine Radltour durch Frankreich. Nächte im Zelt, Schlafen in Ställen und Scheunen. Nachts Tagebuch schreiben, morgens in den Fluss. Milch holen, Schokolade knabbern. In einer der ersten Nächte, noch kurz vor Paris, wird in einem Kino genächtigt. „Ich verstehe nur nicht, warum sie keinen Film zeigen können. Es wäre herrlich, auf einem Strohballen zu liegen und Marlene zu sehen. ” Vom Kino wird weiter geträumt. „Die Weltgeschichte erinnert an einen Kurzfilm, in dem der amerikanische Komiker plötzlich zu rennen beginnt, die Menge hinter ihm her . . . Polizei mit Charlie Chaplin. ” Es ist der Sommer 1940, die Tage vor dem Einmarsch der Deutschen, dann das Leben unter der Besatzung.
Andrzej Bobkowski ist 1913 in Wiener Neustadt geboren, sein Vater lehrte Fechten und Kroatisch an der Militärakademie. 1939 ist Bobkowski mit seiner Frau Barbara nach Paris gezogen, nach dem Einmarsch in Frankreich versucht er nach England zu kommen, wo die polnische Armee ein Büro hat. Zurück in Paris schlägt er sich mit Schwarzmarkthandel durch. Nach dem Krieg arbeitet er an der polnischen Zeitschrift Kultura mit, 1948 geht er nach Guatemala, dort hat er auch als Modellflugzeugbauer gearbeitet. 1961 ist er gestorben.
Federskizzen hat der Autor das Tagebuch genannt, das er in den Jahren 1940 bis 1944 schrieb, 1947 in die endgültige Form brachte, 1957 im polnischen Exilverlag Institut Littéraire veröffentlichte. Die Zeiten überlagern sich, die der Ereignisse und die der Reflexion: Lektüre von Balzac und Begegnungen mit Polen, die Situation des Exils. Man wundert sich über die Widersprüche um Pearl Harbour und besucht den Père-Lachaise, die Gräber von Chopin und Oscar Wilde. Die deutschen Soldaten bieten den Damen ihren Platz in der Metro an, werben für Europa! Aber: „Hysterisch! Geheiligt werde Dein Name, oh Proletariat, und verflucht sei die Bourgeoisie usw. Wer hat diese Hysterie ausgelöst? Die Deutschen, das deutsche Denken mit seinen Ausdünstungen, unbefriedigt, gotisch, so wie der Kölner Dom, den ich nicht ausstehen kann. Die Deutschen haben diese verworrene, schreckliche Sprache geschaffen, in der wir nie wissen, was das Wort ,Kultur‘ wirklich zu bedeuten hat. Ob von einer Wohnung mit Badezimmer die Rede ist, von Goethe, oder ob man vielleicht ,Marsch, marsch‘ brüllt. Die Deutschen haben uns die hysterische Verwendung der Substantive gelehrt, mit denen man so vorsichtig umgehen sollte wie mit einer entsicherten Waffe. Sie haben ihre Substantive, wir haben unsere. Sie haben Volk, Blut, Boden, und wir ,Sozialismus‘, ,Kommunismus‘ – alle verschlucken sich bei der deutschen Art. Eine Welt von Hysterikern. ” Ein moderner Tom Sawyer, mit treuem Huck Finn, dem Taxifahrer Tadzio, dem Spießgesellen der Pariser Huren.
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ANDRZEJ BOBKOWSKI: Wehmut? Wonach zum Teufel? Tagebücher aus Frankreich Band 1, 1940–41. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Rospo Verlag, Hamburg 2000. 359 Seiten, 42 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Gerade die Bedrohtheit der Existenz steigere die Intensität der Wahrnehmung und Erkenntniskraft, meint Schmid, den die Lektüre von Bobkowskis Tagebüchern aus den Jahren 1940/41 beeindruckt hat. Der aus Polen emigrierte Essayist unternahm noch im Sommer 1940 eine Fahrradtour durch Südfrankreich, ein romantisches Idyll im Vergleich zum besetzten Paris, wohin der Autor schließlich zurückkehrt. Schmid vergleicht Bobkowskis Notizen mit den Tagebüchern Ernst Jüngers. Jünger war zur gleichen Zeit und ebenso als Ausländer in Paris stationiert. Der deutsche Intellektuelle registriere zwar das Elend der Bevölkerung oder andere Ungerechtigkeiten, aber seine Realitätsbeschreibungen schweiften immer wieder ins Phantasmagorische ab, schreibt Schmid. Dagegen hat ihn Bobkowskis Bericht durch analytische Tiefe und Schärfe gegenüber der Wirklichkeit bestochen; wo Jünger seine Anwesenheit in Paris als selbstverständliches Recht betrachtete, habe Bobkowski vor dem französischen Hintergrund seine polnische Herkunft reflektiert.

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