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Produktdetails
  • Verlag: Manholt Verlag
  • Seitenzahl: 118
  • Abmessung: 14mm x 130mm x 205mm
  • Gewicht: 220g
  • ISBN-13: 9783924903053
  • ISBN-10: 3924903050
  • Artikelnr.: 11231525
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2003

Ein sehr exklusiver Inzest
Marguerite Yourcenars Erzählung „Anna soror ...”
In ihrer Autobiographie „Das Labyrinth der Welt”, zwischen 1974 und 1988 erschienen, zeigt sie das eigene Leben auf der Grenze zwischen Fakten und Fiktion, als eine Resultante aller Erzählungen, die an die Orte, Zeiten, Gesichter und Stimmen der familiären Geschichte und des eigenen Lebens gebunden sind. Das Selbstbild, aus mobiler Perspektive geschrieben, verweigert die Einheit und Bestimmtheit des Porträts. Denn die Welt, das war die Überzeugung Marguerite Yourcenars, ist ein Labyrinth ohne Ausgang. Die für ihr Erzählen charakteristische Mixtur aus Fiktion, Historiographie und Biographie begegnet auch in der Erzählung „Anna soror...”, einem Jugendwerk, das 1981, sechs Jahre vor ihrem Tod, erschien, und uns nun in der Übersetzung Anna Ballarins vorliegt: ein kompositorisches Meisterwerk.
Die Autorin erzählt die Geschichte zweier Kinder, die sich lieben und, erwachsen geworden, nicht aufhören, sich zu lieben. Als Kulisse wählt sie einen jener Wendepunkte der Geistesgeschichte zwischen einander ablösenden Epochen, die im Moment des Dazwischen einen freien Rückblick und Ausblick in die gewordene und werdende Geschichte erlauben. Schauplatz ist das Neapel des 16. Jahrhunderts. Anna und Miguel sind die Kinder des spanischen Festungskommandanten und der letzten Montefeltro, deren Geburt noch der sterbende Pietro Bembo besang und deren Erziehung Vittoria Colonna anvertraut wurde.
Die Geschwister wachsen in der vornehmen Abgeschiedenheit auf, in der die Mutter gehalten wird, denn der Vater fürchtet, das Wunder ihrer Schönheit könne seine Ehre ins Gerede bringen. So verbringen Anna und Miguel ihre Kindheit und Jugend wechselweise hinter den dicken Mauern der Festung Sant’ Elmo und auf den einsamen Landgütern des Vaters. In Anna und Miguel vereinigen sich die hellenistische Geistigkeit der Mutter und das angstvoll verdüsterte Seelenleben des frömmelnden, ausschweifend lebenden Spaniers, der in den Verließen von Sant’ Elmo die Reformation mit der Inquisition bekämpft. Die inzestuöse Verwirrung der Affekte ist ein erotischer Grenzfall höfischer Exklusivität, kontemplativer Vereinsamung und abendländischer Verinnerlichung.
Zittern auf der Schwelle
Die Liebe der Kinder verwandelt sich in Leidenschaft, als sie die Mutter verlieren, in deren platonischer Welt ihre Liebe Schutz fand. In der väterlichen Umgebung hingegen rückt Anna mit der gleichnamigen Hafendirne, die Vater und Sohn besuchen, in ein Figurenparallelogramm ein, das in Nähe und Distanz zu der Sünderin den christlichen Moralkodex spiegelt.
Auf dem Höhepunkt des seelischen Konflikts, in dem die Leidenschaft und das Gesetz miteinander im Streit liegen, lehnen sie nachts mit angehaltenem Atem an der Tür, die sie trennt, und er spürt das Zittern ihres Körpers auf der anderen Seite der Schwelle, und sie lauscht im Dunkeln dem schweren Atem seines Begehrens. Sie wagt nicht, ihn zu bitten, und er wartet auf das Wort, das ihn auffordert, es zu wagen. Es ist ein Augenblick unmittelbarer Darstellung, in dem Bildsprache und Bedeutung eins sind. Die mythische Raumform der Schwelle vertieft die Szene in symbolische Räume des Gesetzes und der Identität. Die Szene der erotischen Offenbarung folgt dem klassischen Muster der legitimierenden Übertragung. Sie lesen im Alten Testament die Geschichte von Amnon und Thamar.
Die Autorin erzählt den Inzest ketzerisch, amoralisch. Die Vereinigung der Liebenden unter dem von Wunden übersäten Himmel der Karfreitagsnacht ist ein doppelter Frevel, den Miguel sich als frommer Sohn der Kirche auf die Seele lädt. Das Interesse der Erzählerin freilich gilt nicht dem Sühnedrama des jungen Mannes, der den christlichen Märtyrertod sucht und elend Schiffbruch erleidet. Ihre Heldin ist Anna. Anna hält an den fünf Tagen und fünf Nächten eines vollkommenen Glücks fest. Das Bild Miguels im Glanz seiner zwanzig Jahre erleuchtet ihr Dasein, während draußen, hinter den Vorhängen ihres Innern, das Leben sie fortreißt, der Vater nach Flandern versetzt wird und auf die Reise nach Brüssel das Leben am Hof der Infantin folgt, die Heirat, die gleichgültig ertragenen Liebesbezeigungen des Ehemanns, der Abschied vom Vater, der ins Kloster geht, die Witwenschaft, eine beiläufige Liebschaft, alsbald vergessen, und die Jahre im Kloster, bis sie eines Tages, alt, zur zerfurchten Greisin geworden, stirbt. Man hört sie „mi amado” murmeln und glaubt, sie bete.
Anna ist, mitten in der Verfallenheit an die Zeit, die überlebensgroße Gestalt einer festgehaltenen Weltsekunde – ein hinreißendes Bild gestaltgewordener Leidenschaft, das Hebels Bergmann von Falun ins vornehme Format überführt. Zufrieden gibt sich die große Geschichtserzählerin damit nicht. Namentlich die Lektürebilder und Andachtszenen tauchen Anna in den Schatten der Geistesgeschichte und verleihen ihr die modellhafte Statur einer vormodernen Existenz. Ein prachtvoll ausgepinseltes Epochengemälde kommt zustande, das als Darstellung einer Übergangszeit das Wesen der Geschichte, den unaufhaltsamen Wandel, in aller Deutlichkeit hervortreten lässt. SIBYLLE CRAMER
MARGUERITE YOURCENAR: Anna soror... Aus dem Französischen von Anna Ballarin. Manholt Verlag, Bremen 2003. 119 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein Meisterwerk von riesenhafter Ambition und ebenso großer Kunstfertigkeit, jubelt Sibylle Cramer. Die nachgelassene Erzählung, ein Jugendwerk von Marguerite Yourcenar, handelt von der verbotenen Liebe zweier neapolitanischer Geschwister des 16. Jahrhunderts, Anna und Miguel; sie handelt aber auch, schreibt Cramer, von einem "Moment des Dazwischen" - zwischen zwei historischen Epochen, zwischen zwei geistigen Kulturen - und damit vom Geist der Geschichte selbst, der im Wandel besteht. Besonders Anna, die Zeit ihres Lebens an den "fünf Tagen und fünf Nächten eines vollkommenen Glücks" festhält, während sich ihre äußere Existenz wandelt und sie selber zur Greisin wird, ist "die überlebensgroße Gestalt einer festgehaltenen Weltsekunde" - mitten in der Verfallenheit an die Zeit. In Yourcenars "Epochengemälde" erhält sie, so Cramer, die "modellhafte Statur einer vormodernen Existenz".

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