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Produktdetails
  • Verlag: Engeler
  • Seitenzahl: 111
  • Deutsch, Russisch
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 305g
  • ISBN-13: 9783905591705
  • ISBN-10: 3905591707
  • Artikelnr.: 12063356
Autorenporträt
Velimir Chlebnikov, geb. 1885 in Astrachan, gestorben 1922 in der Nähe von Nowgorod, gehört im europäischen Maßstab zu den Vätern und Wegbereitern der modernen Literatur, wird als die größte poetische Potenz unter den russischen Futuristen angesehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.2004

Geschwisterpaar der Poesie
Freiheitsrausch: Oskar Pastiors Porträt von Velimir Chlebnikov

Als Velimir der Erste beschied er am 30. Januar 1922 in Funktion einer ihrer Vorsitzenden: "Langweilig ist es auf der Erde" - da die Sonnen "ohne Widerspruch und Geschrei unsere Befehle ausführen". Das vermag allein Poesie, nicht Physik. Mittels der als kosmische Weltsprache konzipierten Sternensprache nämlich, Velimir des Ersten spezifische Spielart der kubofuturistischen Zaum'-Sprache. Zaum', erstmalig belegt im April 1913 in Aleksej Krucenychs "Deklaracija slova kak takovogo" (Deklaration des Wortes als solches), nannte man in der russischen Avantgarde auch "willkürliche Wörter", "selbsthafte Rede", "Sprache eigener Erfindung", "irrationale Sprache" oder "freie Sprache". Krucenych war es wohl auch, der Ende 1912 das erste russische Gedicht in Zaum'-Sprache geschrieben hat: "Dyr bul scyl / ubesscur / skum/ vy so bu / r l ez".

"Zum Korrekturlesen" war Velimir der Erste, der einmal einen Brief an seinen eigenen Schatten geschrieben hat, allerdings "unmöglich zuzulassen - er strich immer alles durch, alles, und schrieb dann einen neuen Text", berichtet Vladimir Majakowskij 1922, kurz nach dem frühen Tod dieses "Kolumbus neuer poetischer Kontinente". Ein solcher ist auch Oskar Pastior, der mit dem Band "Mein Chlebnikov" diesen bedeutendsten Dichter der transrationalen Sprache neu erfunden hat.

Erschienen im Verbund mit einer CD, auf der Pastior seine Textversionen liest, versammelt das schön gestaltete Buch erstmals Pastiors gesamte "Übersetzungen" und poetologischen Kommentare zu Velimir Chlebnikov sowie dessen russische Originalgedichte in kyrillischer Schrift. Übersetzungen? "Chlebnikov spricht, während ich dolmetsche", heißt es im liebeforschenden und die Bezeichnungskraft der Sprache bebildernden Protokoll vom El: Mit seiner "Sternensprache" unternahm Chlebnikov den komplex-archaischen Versuch der Rekonstruktion des Universums aus dem Alphabet (des Geistes), in dem jeder Buchstabe als Laut oder Graphem die Funktion eines Ideogramms hat.

Den im "Protokoll" poetisierten Buchstaben "L" definiert er in seinem "dem gesamten von Menschen bevölkerten Stern gemeinsamen" Wörterbuch der Sternensprache so: "Übergang einer Quantität von Höhe, identisch mit der Achse der Bewegung, in eine Flächendimension quer zur Bewegungsrichtung". Bei Pastior liest sich das endprotokollierend folgendermaßen: "El macht den El-Regen zum Liebenden, / die Lache zum Liebling. / Wird ein Punkt im Wall einer Fläche aufgehalten, / gib zu Protokoll: Der Prallverlust / im Wall einer Fläche, das ist, / Protokoll: / die Ver-El-lichung, / der El-Gewinn, oder / die El-Kraft im Lautleib des El."

Da es sich nicht um eine schnöde Textverrechnung handelt, bedurfte Pastiors Verdolmetschung eines Chlebnikov in allen Aspekten wortkünstlerischen Denkens gleichgesinnten und gleichwertigen Sprach- und Formbewußtseins. Der Titel dieses auch für das ästhetische Sprachdenken Oskar Pastiors so zentralen Bandes ist hierbei Programm. Und gleichzeitig passiert hier mehr als Nachdichtung. So ist etwas Drittes aus Chlebnikov und Pastior entstanden: "Mein Chlebnikov".

Was auf dem Papier zuweilen wie eine Kettenreaktion selbstentfachter Laut- und Wortgebung aussehen mag, ist bei diesem Geschwisterpaar der Poesie die Pyramidenspitze kalkulierter Kombinatorik auf Laut-, Silben-, Wort- und Satzebene - wobei immer ein Rest bleibt, die sich selbst schreibende, die selbstlautende Sprache: Poesie, sinnstiftende Spürbarkeit.

Verschiebungen und

Neuordnungen

Ein Prinzip von Chlebnikovs vielgestaltigem Sprachsystem ist es, daß er nur Teile des Textes in Zaum' verfaßte. Nur als kontrastreiches Gewebe hat der Text Differenzqualität und kann das Bewußtsein erreichen. In Pastiors Versionen finden sich ganze Etymologien und Wortgeschichten in die oftmals kontaminierten, aus auch fremdsprachlich unterschiedlichen Quellen eingespeisten "Wörter" eingefaltet.

Chlebnikov und die Lautdichter nicht nur des russischen Futurismus erfanden Neologismen und "Logoide": formal korrekt gebildete "Wörter" jenseits konventioneller Semantik oder Wörter, bei denen die phonologische und die morphologische Wortbildung gestört ist. Diese laut- und sinnverschobenen "Logoiden" konstruierte Chlebnikov oft aus dem Wortschatz fremder Sprachen slawischen und nichtslawischen Ursprungs. Auch Pastior wendet in vielen Variationen diese Techniken an und läßt im Verschobenen, im genau danebengesetzten Sprichwörtlichen das Wohlbekannte erahnen, erhören: "gschwäzität maulaffnis tamisch / sturitum sodumstät damnis / nadelkissenkopferbünd. / wo hat wer sich weh verschwiegen? / wer hat wo sich schluchz verniegen / kapfensterdeklamisch?"

Gute Fragen! Ein Abzählvers? Von was ist hier überwiegend vierhebig die Rede? Fensterreklame? Einen poetologischen Kommentar zu diesen kontaminierten Verschiebungen und Neukombinationen scheint eine Sequenz aus "liebidonis" zu liefern: "auf die zunge komm kühlfreue / daß vereinte sprichliebworte / durch das hüftschwertrasseln dringen / daß geküssel silbensilbern sich der rippen / annimmt die den eingriff hassen". Ein Eingriff ins Lachen? Drohender Herzstillstand? Da sei Poesie vor, die bei Pastior immer auch Poetik ist.

Für "Allerleilach" und den "Lieb-Satz" sind, der russischen Vorlage entsprechend, Alliteration, Polyptoton und Neukombinationen aus der Wurzel "-lach-" bzw. "-lieb-" konstitutiv. Prinzipien, die auch einem anderen Bruder im Geiste geläufig waren, dem sprachmagischen Barockdichter Quirinus Kuhlmann.

Mit der autonomisierenden Abkoppelung von Prä- und Suffixen zur kombinatorischen Bildung neuer Wörter geht bei Chlebnikov die Bedeutungsaufladung der Laute einher, bei der die Anfangskonsonanten eine spezifische semantische Valenz erlangen. So zum Beispiel in "Perun", einer Hommage an den slawischen Donner- und Fruchtbarkeitsgott und an den Buchstaben "P": "der pfiffige Perun / pichelt mit Pfeidlern, Pülchern, / Prachern, Pennbrüdern, ist / frech und faul auf den Pritschen im Pesel, er / prudelt mit Poggen im Pferch, / pudelt in Pfützen, / puhlt die Pülpe der Pfebe, / prahlt, pranzt in puffiger Pekesche, / prüft Punzen, Pinten, Pfründen, Puffs, / die Pulle, die Plempe, das Pud". So Pastior. "Der erste Mitlaut eines einfachen Wortes regiert das ganze Wort - er befehligt die anderen": "Wörter, die mit ein und demselben Mitlaut beginnen, vereinigen sich in ein und demselben Begriff und fliegen gleichsam von verschiedenen Seiten auf ein und denselben Punkt des Verstandes zu", schrieb Chlebnikov 1920 in "Unsere Grundlage".

Machwörter, Machtwörter

Wortmachten

Als akustisch-physiognomisches Porträt Velimir Chlebnikovs kann die Pastiorsche Metamorphose "was ich bin/ (lächern gammelti mrötn)" gelesen und gehört werden, eine höchst private Aneignung der Vorlage: "abglitz nd marter künft / herkomm von ruhmertöt / auglsprang blühfärbel / nd zupfe rocken stirbs / nd schlupfe kreisen dralz / nd hupfe kommen wells / ein klingoling von harrnis / ein sperrozwinger starrnis / ein starre heiter künft". Scheint da nicht auf, wovon scheinbar die Rede ist? Zukünftiges, Aufblühendes, Klingendes, Bewegung, aber auch Erstarrung und Tod und dessen Überspringen. Denn Zupfen, Springen, Hüpfen und Kreisen, das tut diese Pastiorsche Anverwandlung - eben ganz akustisch, eine Tateinheit von Wie und Was, von Sinn, Klang und Rhythmus.

In einem anderen Gedicht heißt es nicht einfach, was so immerhin möglich wäre: "Ich sterbe / erstarrt / Erstarrung" oder, zum Schluß, "Ich bin dein. Ich bin dein", was das Gedicht ganz in einen Minnekontext stellen würde, der das Geschwisterpaar Eros und Tod koppelt. In "erfahrendse" gestaltet Pastior das Benannte phonematisch und liebesliedlich ichverlöschend: "ischuschterbs / ein schtirren / schtorb / ischuschtamblns schäm / ischugrollans schwieg / ischublindins schtümm / ischutauppns schtein / ischuscheuhasts schwieg / ischumühelens schrie - / ischudein / ischudeins".

Das siebenteilige "getoengedroehn um den verstand. ein poem nach velimir chlebnikovs blagovest umu" bildet als längstes Unternehmen den Abschluß des Bandes. Hält sich die nur vierteilige Vorlage sprichwörtlich wortkarg - zumeist findet man nur ein einziges Wortgebilde in der Zeile, morphologisch-phonetische Variationen eines Wurzelwortes -, so holt Pastior hier aus zum die poetischen Verfahrensweisen bündelnden Finale. Die erste Sequenz von "3 - laminate im werchsten phoph" ist eine poetologische Arabeske der Zündfigur "Sa-um" (Zaum') samt "kleb-nie-stoff" Chlebnikov: "sah ums mental-instrumentarium herum / sah um sein pfauch-gepümpel das mich pumpte / den ,kleb-nie-stoff`' sich fädelnd pumpen / der vorgang nannte sich ,uhu' und lullte mir / das lexikon ein das war der schlaf nach / braunschweig und vor ,bleg' (war nur den / neaoschn poneatno) und ,chälberchälp' rann / mir sein ,jest wjest owjest' um ,sa' um / ,scha' um ,na' um ,pa' - ums initial am/ sattelpaß am stereo ,a-um' zu umbras kan- / ten: ,laubs-ägeumus-teer-ums-kinn' . . . - / ja so gings zum blockhaus ürrr . . ."

Eine Art sich selbst erklärendes Märchen in vielen Kapiteln präsentieren die akustischen Realisationen. Die Stimme Pastiors ist ein Boot, das den Hörer sicher über die Textwellen setzt. Eine solche Schulung des Laut-Gehörs fördert das Denken mit den Ohren: "Das Wort bedeutet seinen Laut" (I. Terent'ev, 1919) und "tropus ist ein pott für apokryphe multiplikatoren". Eben. Das alles ist "schwarmant / tausand / in tausend" (ei wie). "Machwörter, ach, Machwörter Machtwörter Wortmachten" heißt es im konkreten "M-Satz", der "mögliche Machtfragen" verhandelt.

Wie kaum ein anderes Projekt dürfte "Mein Chlebnikov" Oskar Pastior die Aktivierung aller multilingualen Vorratskammern und Inventare abverlangt haben. So also ist dieser Chlebnikov eine Erfindung Oskar Pastiors - den Velimir Chlebnikov erfunden hat: Fessel und "Freiheitsrausch", wie Pastior im Nachwort schreibt, zugleich, Animation und Amalgam. Korrekturlesen? "Rätsel, Nebel, Manie - nein, am Leben läßt er!" seinen Chlebnikov, mit diesem sich buchstäblich spiegelblickend ganz einig. Jedem hörenden Leser seinen Pastiorchlebnikov! Diesem Chlebnikovpastior alle lesenden Hörer!

Oskar Pastior: "Mein Chlebnikov". Zweisprachige Ausgabe. Urs Engeler Editor, Weil am Rhein 2003. 112 S. mit einer CD, geb., 24,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Die vorliegende Übersetzung von Oskar Pastior hat, wie uns Rezensent Oliver Ruf erklärt, einen Vorgänger: die 1969 von Peter Urban ins Leben gerufene Chlebnikov-Anthologie, an der eine ganze Reihe zeitgenössischer Dichter, darunter auch Pastior, beteiligt waren. In der vorliegenden, "bibliophil" gestalteten Ausgabe, dichte jedoch Oskar Pastior allein. Dichtet, denn wie der Rezensent mit der Einleitung von Felix Philipp Ingold erklärt, heißt den Wortformer Chlebnikov übersetzen immer, in Chlebnikovs findiger Weise selbst zu dichten; Chlebnikov in der eigenen Sprache "fortzudichten", indem man das mit der eigenen Sprache veranstalte, was Chlebnikov dem Russischen zu- und anmutet habe. Für eine solche "Übersetzung", lobt der Rezensent, ist Pastior der richtige Mann. Wie auch Chlebnikov stütze sich Pastior auf den "historisch gewachsenen Wortbestand", bediene er sich des "Periodensystem des Wortes", um daraus eine "Sternensprache" zu formen, lobt unser Rezensent. Sehr gelungen findet Ruf nicht nur Pastiors Übertragungen (denen jeweils das russische Original gegenübersteht), sondern auch seinen "behutsam ins Ohr passenden" Vortrag auf der beigefügten CD. Einfach "märchenhaft".

© Perlentaucher Medien GmbH