Produktdetails
  • Verlag: Jung und Jung
  • Seitenzahl: 286
  • Deutsch
  • Abmessung: 190mm x 124mm x 26mm
  • Gewicht: 364g
  • ISBN-13: 9783902144294
  • ISBN-10: 3902144297
  • Artikelnr.: 10472866
Autorenporträt
Gert Jonke, geboren 1946 in Klagenfurt, gestorben 2009 in Wien. 1977 erhielt er den Ingeborg-Bachmann-Preis, 1997 den Erich-Fried-Preis und den Franz-Kafka-Literaturpreis, 2001 den Großen Österreichischen Staatspreis und 2005 den Kleist-Preis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2002

Tanz auf dem Seil
Noch immer unerhört: Gert Jonkes
Roman „Der ferne Klang”
Gert Jonke ist ein anerkannter Autor, er hat zahlreiche Preise erhalten, vom Ingeborg-Bachmann-Preis 1977 bis zum Großen Österreichischen Staatspreis in diesem Jahr. Doch der Österreicher ist zugleich ein unbekannter Autor. Das ist nicht zu erklären, das ist ganz einfach traurig: Einer der faszinierendsten und originellsten Schriftsteller der Gegenwart, Verfasser von Romanen, Erzählungen, Hörspielen, Theaterstücken, fand bislang kaum Widerhall.
Man würde ihm gern mehr Leser wünschen. Oder besser: Man würde mehr Lesern wünschen, ihn zu entdecken! Wiederentdeckt werden kann jetzt sein früher, 1979 erstmals erschienener Roman „Der ferne Klang”. Jonke erzählt darin von einem Komponisten, der eines Tages in der Psychiatrie erwacht. Ein Selbstmordversuch soll ihn dorthin gebracht haben, er kann sich jedoch an nichts erinnern. Die Suizid-Behauptung erscheint dem jungen Mann als Zumutung. Einen besseren Schlüssel zu seiner verlorenen Geschichte glaubt der Mann in einer jungen Krankenschwester zu finden, in die er sich verliebt. Von ihr erhofft er Aufschluss über seine Vergangenheit, getragen vom romantischen Gefühl des Wiedererkennens: „Das Gesicht dieser Frau hast du nie vergessen gehabt, obwohl du ihr ganz sicher erst jetzt zum ersten Mal begegnest.” Das mysteriöse Verschwinden der Angebeteten nimmt er zum Anlass für die eigene Flucht aus der Psychiatrie, die zum Beginn einer merkwürdigen Reise wird, einer Zugfahrt, die ihn zu ihr bringen soll, damit sie ihm seine Vergangenheit entschlüsselt. Doch statt sie zu treffen, fährt er in einer Schleife unbemerkt zum Ausgangsbahnhof zurück.
Blechern schellendes Laub
Erinnerung kann bei Jonke nicht zum Mittel der Identitätsfindung werden. Die „Suchflucht oder Fluchtsuche” wird zu einer endlosen Geschichte, „weil sie in dauernder Suche nach ihrem Anfang nie zu einem Ende kommt”. Sie darf nicht zu einem Ende kommen, weil das Rätsel mehr verspricht als seine Lösung. An die Stelle der Erinnerung tritt die Erfindung, an die Stelle des verlorenen, vielleicht nie gewesenen Ich das Dasein durch unendliches Erzählen. Bruchstücke unserer Wirklichkeitsauffassung werden wie in einem Mixer durcheinander gewirbelt und auf den Kopf gestellt, bis sich neue Muster ergeben. Der Blick gleicht dem eines schöpferischen Kindes, wenn Häuser zu Dampfern, Schornsteine zu Posaunen werden und Glockenläuten klingt „wie blechern schellendes Laub, das aus einem durchsichtig verzweigten Geäst des baufällig verfallenen Himmels sinkt”.
Eine Seiltänzerin, die mit der bloßen Vorstellungskraft ein Seil von Kirchturm zu Kirchturm spannt, auf dem sie dann zum atemlosen Staunen der unten Stehenden balanciert, wird zum Bild für die Befreiung von Wahrnehmungskonventionen. Gleich dieser Seiltänzerin arbeitet Jonke in seinem Roman, wenn er das, was als Wirklichkeit gilt, in einer endlosen Reihe von Spiegelungen als Erfindung erscheinen lässt.
Jonke knüpft in seinem Roman an Traditionen der Romantik an und bricht sie zugleich. Ein Reiz des Buches ist die grandiose Komik, in die das Jonglieren mit den Wirklichkeiten oft mündet. So in einem Gespräch mit dem Psychiater, indem der vermeintliche Selbstmordkandidat auf die Frage nach seinen Träumen die Grenzen zwischen Tod und Leben aufweicht. Er stellt dem Arzt eine Gegenfrage: Ob der Tod, wenn er im Schlaf eintritt, den Traum beende, oder man ewig weiterträume, weil man ja nicht mehr aufwache. „Was glauben Sie, Doktor? Oder wie ist das dann, wenn man träumt, man stirbt, und gleichzeitig aber auch wirklich stirbt, wird dann der Traum vom eigenen Sterben vom wirklich eintretenden Tod abgebrochen oder dauert dann der Traum vom Sterben weit über den wirklichen Tod hinaus bis zu einem nicht absehbaren Ende und stirbt man dann wie im Traum im Ablaufen des fortgesetzten Träumens ganz traumhaft? Über den Tod hinaus womöglich ein geträumtes ganz langes, vielleicht ewiges Sterben, und ist das ein Träumen davon, wie man alles dann immer ganz genau vergisst? Doktor, lassen Sie mir meine Träume!” Wo es keine Identität, keine Vergangenheit gibt, verwischen auch die Grenzen zwischen Tod und Leben.
Hörst du nicht die Glocken?
Viele Sätze Jonkes erstrecken sich über Seiten, bilden wahre Satzlabyrinthe, in denen man sich verirren kann, sind gespickt mit sperrigen Partizipialkonstruktionen und einer raschen Abfolge sich gegenseitig überlagernder Bilder. In paradoxen Formulierungen werden Zustände beschrieben, die sonst in Sprachkonventionen verloren gehen. Im Spiel mit einer umständlichen Sprache, etwa in dem „du”, mit dem der Erzähler sich selbst anredet, zeigt sich die Fremdheit gegenüber Welt und Ich. Zugleich entwickelt der Text eine unerhörte Musikalität und einen regelrechten Sog, der aus dem Gewohnten herauszieht. Wie eine Melodie klingen Jonkes kunstvolle Konstruktionen im Leser nach.
Ein Buch, das nachschwingt. Ein Buch, nach dessen Lektüre man plötzlich das Glockenläuten anders hört und manche Alltagswahrnehmung so neu und unbefangen bestaunen kann wie ein Kind. Das gehört zum Besten, was man über Literatur sagen kann.
FRIEDERIKE HERRMANN
GERT JONKE: Der ferne Klang. Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2002. 287 Seiten, 22 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

"Der Ferne Klang" beinhaltet die Geschichte eines Komponisten, aber dies ist nicht der einzige Bezug zur Herkunft des Autors aus einer Musikerfamilie. Das Buch lese sich wie ein sprachliches Gesamtkunstwerk, findet Rezensentin Cornelia Staudacher, die in "manischer Sprachergebenheit" entstehenden Textgebilde erinnerten an Fugen, findet sie, und hätten auf den Leser eine Sogwirkung. Das Buch sei vieles zugleich, lobt Staudacher, Satire auf kleinbürgerliches Leben ebenso wie ein Künstlerroman in romantischer Tradition. Für sie ist Jonkes bereits 1979 erschienener Roman heute so brisant wie damals.

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