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Die halbe Welt fährt durch Müllheim. Der Ort liegt an der schweizerischen Hauptstraße 1, einem alten Verkehrsweg, unweit vom Bodensee. Sie führt durch eine "absolute Menschenlandschaft" und also mitten in Zsuzsanna Gahses neues Prosawerk. In einer Fülle von sich verzahnenden Begegnungen, Geschichten und allerlei Feldforschungen entwickelt die Autorin eine literarische Topografie von Müllheim/Thur. Schon bald wird klar: "Solche Straßen sind eine Welt für sich."Hin und wieder hält jemand an und besucht die Ich-Erzählerin. Bodo aus Wien und der Wolkenzähler aus Basel schmieden gemeinsam mit ihr…mehr

Produktbeschreibung
Die halbe Welt fährt durch Müllheim. Der Ort liegt an der schweizerischen Hauptstraße 1, einem alten Verkehrsweg, unweit vom Bodensee. Sie führt durch eine "absolute Menschenlandschaft" und also mitten in Zsuzsanna Gahses neues Prosawerk. In einer Fülle von sich verzahnenden Begegnungen, Geschichten und allerlei Feldforschungen entwickelt die Autorin eine literarische Topografie von Müllheim/Thur. Schon bald wird klar: "Solche Straßen sind eine Welt für sich."Hin und wieder hält jemand an und besucht die Ich-Erzählerin. Bodo aus Wien und der Wolkenzähler aus Basel schmieden gemeinsam mit ihr am Plan für eine Freilufttheater-Aufführung auf dem Dorfplatz. Auf dem Dachboden des Hauses richten sie ein Archiv ein: einen Fundus aller möglichen Charaktere, eine Porträtsammlung aus Kleinst- und Beinahegeschichten, winzigen Stills. Und unter der Hand entsteht aus dieser heutigen Commedia dell'arte-Garderobe eine kleine, feine Phänomenologie der Körpersprachen.
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Autorenporträt
Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien, lebt in der Schweiz. Schriftstellerin, Essayistin und Übersetzerin. Preise und Auszeichnungen, u.a. Aspekte Literaturpreis 1983, Preis der Stadt Wiesbaden im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises 1986, Stuttgarter Literaturpreis 1990, Stadtbeobachterin der Stadt Zug 1993-1994, Bamberger Poetikprofessur 1996. 2006 erhielt Zsuszanna Gahse den Adelbert-von-Chamisso-Preis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.08.2004

Karambolage beim Abendläuten
Das Universum im Müllheimer Winkel: Zsuszanna Gahse renoviert den Dorfroman
Müllheim heißt der Flecken im Schweizerischen Thurgau, wo Zsuzsanna Gahses Erzählerin lebt und erzählt, was ihr zu Gesicht kommt. Entscheidend für die Selbstbehauptung der Erzählung und den Reiz, den sie schnell gewinnt, ist der Blick neben die ländliche Bilderbuchwelt. Entscheidend ist der Widerstand der Autorin gegen das Partikulare, gegen Provinz, Bauernmalerei, Bukolik, das Dorfidyll. Alles fehlt, was die Waggerl, Löns, Ganghofer im Dorf zu entdecken meinten, behagliche Seelenstimmung, kerniges Menschentum, die treuherzige Schalkhaftigkeit des Landmanns und das Vollglück autarken Lebens. Nicht bei den Heimweh-Spezialisten des Industriezeitalters sucht die Erzählerin ihre Ahnen. Sie hält sich an die Rezeptur, die ihr Budapester Onkel an seinem Eckfenster von E. T. A. Hoffmanns Berliner Vetter am Eckfenster borgte. Jener erste graue trübe Kindertag ohne den Onkel, ohne seine Geschichten vom Treiben auf der Straße ist der Zeitpunkt, auf den sich die Erzählung zurückbezieht.
Das präzise Stichwort im Auftakt lautet „Verkehrszählung”. Wichtig, bemerkt die Erzählerin, ist die Straße, über die das Dorf nicht „hinwegkomme”, und wichtig sind Geschwindigkeiten, denn sie sind die Ursache dessen, was in Müllheim vorkommt, ankommt, vorbeifährt, durchreist, unterbricht, bleibt oder Halt macht, wie jene etwas verwirrte Reisende, die aussteigt und am Straßenrand in Tränen ausbricht, von der Flucht aus dem Osten erzählt, dem Treck, der Not, der verlorenen Jugend, und vom Erzählen gestärkt weiterreist. Oder jene schlanke straffe Mercedesfahrerin, die aussteigt, zum Portal der Schule geht, schnelle Beuge-, Stemm- und Wippbewegungen vollführt und weiterbraust. Aber das soziale Ereignisfeld ist nicht auf jene Staubwolke beschränkt, die sich tagein, tagaus in Form von Fahrzeugen aller Art über die Bundesstraße 1 in ostwestlicher Richtung durch das Dorf wälzt.
Auch die zahllosen Völkerschaften gehören dazu, die im Laufe der Jahrhunderte durch Müllheim zogen, und Krankheiten, Bakterien, Gauner, Dokumentarfilmer, Jäger, Ornithologen, der Föhn, Regen, Schafherden oder Unfälle, jene wunderliche Karambolage etwa, die mit einem furchtbaren Krach die Dorfbewohner aufschreckt, und dann finden sie, während die Kirchenglocken zu läuten beginnen, den Wagen zerstört, die Haube zerquetscht, die Straßenmauer geborsten und den Fahrer lächelnd am Steuer. Als gelte es, dem Leser letzte Ungewissheiten über das Rollenspiel der Erzählerin zu nehmen, kommt es wenig später zu einem ebenso indifferent erzählten Zusammenstoß dreier Wagen, jetzt beim täglichen Abendläuten. Der Versuchung, Geschichten zu erfinden, das Dorf zu beschreiben und Figuren zum Leben zu erwecken, erliegt sie auch auf der Erzählerebene nicht.
Die Person der Erzählerin wird nah bei der Autorin angesiedelt. Sie ist fremd in Müllheim, das Schweizerische erinnert die gebürtige Ungarin an Chinesisch. Sie hat den Aufstand von 1956 erlebt, die russischen Panzer gesehen. Aber sorgfältig wird die Identifizierung der Person und der Figuren um sie herum vermieden. Leo, Bodo aus Wien und der Wolkenzähler aus Basel tauchen auf, wenn Tonbandgeräte installiert oder Kulissen gemalt werden müssen.
Ihr Verfahren illustriert sie. Am Anfang steht ein Selbstbild als photographierende Dokumentaristin, die ihrerseits beim Photographieren und Photographiertwerden photographiert wird, und gegenüber auf dem „Theaterplatz”, dem stillen Dorfplatz mit der Linde vor dem Schulhaus und der Kirche, ist nichts weiter zu sehen als ein Mädchen, das sein Fahrrad ans Treppengeländer gelehnt hat und neben seinem Rucksack schläft. Eine methodisch vorgehende Dorfchronistin ist am Werk, die sich ihren Gegenstand nicht mehr erzählerisch zu eigen macht. Sie bleibt in Distanz und macht die fremde Welt erzählbar, indem sie das Offensichtliche als Phänomen behandelt und zu bewältigen sucht. Offenbar ist die Verkehrszählerin bei den Ethnologen in die Schule gegangen.
Sie schließt sich als teilnehmende Beobachterin einer Gruppe von Jägern, dann Ornithologen an, vor allem aber zeichnet sie mit dem Tonband den Verkehr auf der Hauptstraße auf, seine Dichte, den Lärmpegel, und nimmt Gespräche auf. Denn die Straße hat jene immer schon da gewesene Ordnung der örtlichen Dinge strukturiert. Die Straße organisiert die Verhaltensgrammatik der Dorfbewohner, die Regeln und Verfahren ihres alltagspraktischen Handelns. So kommt die Erzählerin dem Rätsel auf die Spur, warum die Müllheimer Winkelwelt ein universaler Ort ist. „Das ist die absolute Menschenlandschaft. Nie hatte es hier keine Menschen gegeben”, lautet ihr Resümee.
Den Schritt aus dem Erfahrungsprotokoll in die Darstellung vollzieht die Autorin im zweiten Teil der Montage. Die Datensammlung wird nun jenem Formungs- und Deutungsprozess unterzogen, auf den sie motivisch von Beginn an zusteuerte. Wie von Zauberhand verwandelt sich der Dorfplatz in eine Dorftheaterbühne, und noch einmal darf die Modellhaftigkeit, Gleichförmigkeit, Reproduzierbarkeit und die Laune, die Tollheit, der Witz der Commedia dell`arte triumphieren, wenn das Personal der alten Typenkomödie Einzug hält, der Müllheimer Dottore, der Müllheimer Pantalone, die Müllheimer Columbina und die Frau des Notars, der Förster, Rosalinde, auch die Mercedesfahrerin, auch der Bruchpilot und das Mädchen mit dem Rucksack, das den Schurken sucht, der sie verlassen hat, Poverina, Poverina, wird sie getröstet, oder jener Mensch, der einst, um nicht verrückt zu werden, seine Cousine erwürgte.
Sanftmut, Geiz, Eifersucht, Mordlust, Leidenschaft, Wahnsinn, all das spielen sie, das Müllheimer Leben eben, wie es ist in seiner Gleichförmigkeit, Reproduzierbarkeit, Konsistenz, Tollheit und schönen Verstehbarkeit, denn die Müllheimer leben, das wissen sie, in einer Welt, die für alle da ist.
Das Abendläuten setzt ein, wenn anderntags von den Zauberern Abschied genommen werden muss, die so leichthin, so beiläufig und unterhaltsam gezeigt haben, dass Dorfrealität eine Aktivität ist.
SIBYLLE CRAMER
ZSUZSANNA GAHSE: durch und durch. Müllheim/Thur in drei Kapiteln. Edition Korrespondenzen, Wien 2004. 176 Seiten, 21,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

An der "Straße Nr. 1", der wichtigsten Ost-West-Verbindung der Schweiz, liegt nicht nur das Örtchen Müllheim an der Thur, sondern es wohnt da auch Zsuzsanna Gahse, die vom Fenster aus den sich "durch und durch" wälzenden Verkehr beobachtet. Und diese Beobachtungen von Autos und Menschen, von "Traktoren, Lastwagen, Panzern, Reisebussen" hier notiert hat, und nicht nur das: Hineingewoben ins Vorüberfahrende wird Vergangenes, Dorfgeschichten etwa, Mythisches, Provinz und Weltverkehr. Unverkennbar hat der Rezensent Andreas Nentwich das gerne gelesen und fasst es so zusammen: "poetische Anthropologie mit Dorfplatz, Heimatspiel aus der globalen Steppe".

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