Produktdetails
  • Verlag: Primus
  • ISBN-13: 9783896781840
  • ISBN-10: 3896781847
  • Artikelnr.: 08885014
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2001

Kaiser, Bayer, Bettelmann
Malcolm Lambert auf den Spuren mittelalterlicher Häretiker

Mit Häresie mußten sich schon die Gemeinden des Urchristentums befassen. Im 1. Brief an die Korinther (11,19) meinte der heilige Paulus, es sei erforderlich, daß es Häresien - Parteiungen, Spaltungen - gebe, damit die Standhaften offenbar würden. So tolerant wie in den Zeiten, da das Christentum selbst als Häresie angesehen wurde, sind später nur sehr wenige gewesen, zum Beispiel der Bischof Wazo von Lüttich, der mit Blick auf blutige Ketzerverfolgungen im benachbarten Frankreich um 1040 dafür plädierte, man solle nach dem Wort der Schrift bis zur Ernte das Unkraut mit dem Weizen wachsen lassen. Malcolm Lambert hat diesen Rat eines Rufers in der Wüste an den Schluß seines Buches gestellt, in dem er sonst über ganz anders geartete Reaktionen auf die Abweichungen vom durch die Autorität der römischen Kirche etablierten Glauben zu handeln hat.

Lamberts Untersuchung gilt "Popular Movements from the Gregorian Reform to the Reformation", wie der Untertitel des 1992 erschienenen Originals zutreffender als der deutsche ausweist. Der Autor definiert Häresie als eine dogmatisch ausgeprägte Lehre mit missionarischen Aktivitäten und merklichen Abweichungen von der offiziellen Orthodoxie, die bei Laien wie Klerikern Resonanz und Rückhalt findet. Das Buch soll, wie es im Vorwort heißt, eine Zusammenfassung der Ergebnisse gegenwärtiger Forschung präsentieren. Dazu hat Lambert selbst seit Jahrzehnten nicht wenig beigetragen, zuletzt mit einem Werk über die Katharer. Bekannt geworden war der einst in Bristol lehrende Autor aber schon durch eine 1961 vorgelegte Studie zur franziskanischen Armutsbewegung. Damals stand er im engen Kontakt zu Herbert Grundmann, dessen 1935 erschienene und 1960 unverändert nachgedruckte Studie über "Religiöse Bewegungen im Mittelalter" als bahnbrechendes Meisterwerk gilt.

Nach Grundmann und neben seinen Schülern haben zahlreiche weitere Autoren Licht ins Dunkel der in Konflikt oder Feindschaft mit der Amtskirche geratenen Glaubensbewegungen gebracht. So publizierte Emmanuel Le Roy Ladurie 1975 seine bekannte, vor allem unter dem Aspekt der Mikrogeschichte stehende Untersuchung der Verhältnisse in dem Pyrenäenort Montaillou, die er auf die kurz zuvor von Jean Duvernoy edierten, enorm aufschlußreichen Akten des zwischen 1318 und 1325 vom späteren Papst Benedikt XII. geleiteten Verfahrens gegen die Katharer des Dorfes stützen konnte. Noch nicht genutzt hat Lambert das grundlegende Werk über die Hussiten und ihre Revolution von Frantisek Smahel, das - ebenso wie Lamberts Katharer-Studie - demnächst in deutscher Übersetzung erscheinen soll.

Nach dem Auftreten einiger isoliert bleibender Abweichler in fränkisch-karolingischer Zeit hatten zu Beginn des elften Jahrhunderts mehrere spektakuläre Vorgänge häretischer Prägung geistliche und weltliche Mächte beunruhigt. Heute werden diese als Präludien zu den viel weiter um sich greifenden Glaubensbewegungen der folgenden Zeit gewertet, von denen ein Teil gar keine Abweichung von der rechten, der orthodoxen Lehre der römischen Kirche ins Auge gefaßt hatte, sondern nur deren Rückwendung zu Reinheit, Spiritualität und Armut, kurzum: zur Einfalt der urchristlichen Gemeinde verlangte. Anführer anderer Abweichungen aber hielten die Kirche des Bischofs von Rom mitsamt ihrer Hierarchie und Lehre für verwerfliche Produkte des Satans.

Den Initiatoren und Anhängern der ersten Version begegneten Päpste und sonstige Autoritäten mit wechselnden Maßnahmen: Gregor VII. (1073 bis 1085) nutzte schon in seiner Zeit als Kardinaldiakon die später in Italien mit den ganz anders gearteten Katharern identifizierten Patarener in Mailand als Hilfstruppen gegen Nikolaiten und Simonisten - Priester, die in Ehe oder Konkubinat lebten, und Leute, die unbefugt geistliche Ämter erwarben oder verliehen. Hadrian IV. (1154 bis 1159) ließ im Bunde mit Kaiser Friedrich Barbarossa den Kleriker Arnold von Brescia einkerkern und exekutieren, der im Grunde nur die Forderungen der Patarener ein bißchen auf die Spitze getrieben und das Recht des Papstes auf die Herrschaft über die Stadt Rom in Frage gestellt hatte. Innozenz III. (1198 bis 1216) akzeptierte zwar das Armutsideal des kaum zwei Jahre nach seinem Tode heiliggesprochenen Franziskus von Assisi, ließ aber unnachsichtig die Anhänger des einstigen Kaufmanns Valdes aus Lyon verfolgen, die bei Kompromißbereitschaft beider Seiten vielleicht eine den Minoriten des heiligen Franz vergleichbare Gemeinschaft hätten werden können. Lamberts Ausführungen über die redlichen, aber nur teilweise erfolgreichen Versuche Innozenz' III., den Armutsbewegungen seiner Zeit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gehören zu den am besten gelungenen Abschnitten des Buches.

Während die Waldenser trotz intensivster Verfolgung bis heute zu überdauern vermochten, konnten die Katharer, deren Existenz zum ersten Mal um 1143 in Köln registriert wurde, dank der unter Innozenz III. und seinen Nachfolgern modernisierten Methoden der Häretikerverfolgung restlos ausgerottet werden. Kreuzzüge gegen Ketzer sowie das zu deren Unterdrückung eingesetzte, für sich genommen durchaus rationale und daher als fortschrittlich zu wertende Inquisitions- oder Untersuchungsverfahren waren die Mittel, Häresie zu bekämpfen; auch der Grundsatz, daß die Kirche vor dem Blute zurückschreckt, beeinträchtigte die Wirksamkeit solcher Maßnahmen nicht, da die weltlichen Mächte ihren Beistand durchweg nicht versagten. Der heute gerne als Ausbund religiöser Libertinage gefeierte Kaiser Friedrich II. hat dabei eine führende Rolle gespielt, und der heilige Ludwig von Frankreich wollte nicht zurückstehen, wenn die Christenheit in Gefahr zu geraten schien. Die unterschiedlichen, nicht selten rein politischen oder opportunistischen Motive mancher Herrscher, das ihnen zugewiesene Henkeramt auszuüben, werden von Lambert hier wie in späteren Fällen berücksichtigt.

Wer sich kurz und bündig über Albigenser oder Katharer, über Bogomilen, Beginen, Lollarden und andere Gruppen dieser Art informieren möchte, kann im Anhang von Lamberts Buch auf ein "Häretiker-Glossar" zurückgreifen, das allerdings einiges zu wünschen übrigläßt. So hätte in der deutschen Version das Wort "Ketzer" nicht fehlen dürfen, dessen Ableitung von "Katharer" zwar als ziemlich sicher unterstellt werden kann, wegen der Affrikata -tz- in sprachlicher Hinsicht aber Probleme aufwirft: Vielleicht ist der griechische Begriff ("die Reinen") auf dem Umweg übers Italienische ("gazari) ins Deutsche gelangt, wo es dann mit dem Wort Katze in Verbindung gebracht und damit dem Namen dieser Glaubensgruppe der abfällige Akzent zugemessen wurde, den er dann als Sammelbegriff für alle Arten von Häretikern trug.

Auch hätten die schon etwas älteren, in besonders aufsehenerregender Weise aber erst im Vorfeld der Großen Pest von 1348/49 und der damit im Zusammenhang stehenden Pogrome über Land und Städte ziehenden Geißler, die im Glossar unter "Flagellanten" verzeichnet werden, im Text des Buches schon deshalb eine intensivere Berücksichtigung verdient, weil sie, sehr wahrscheinlich zu Unrecht, der Anstiftung zum Mord an den Juden verdächtigt wurden, die Päpste und andere hohe Autoritäten zwar unmißverständlich von Häretikern zu unterscheiden pflegten, was aber manchen Prediger nicht davon abhielt, ganz offen zur Vertilgung auch dieser vom etablierten Glauben abweichenden Gruppe aufzurufen. Das umfassende Werk von Frantisek Graus über "Pest - Geißler - Judenmorde" (1987) wird zwar in der deutschen Ausgabe von Lamberts Buch genannt, aber noch immer nicht in wünschenswerter Weise ausgewertet.

Alles in allem vermittelt das Studium von Lamberts Buch einen umfassenden Überblick über das Thema. Wer sich damit noch ausgiebiger befassen möchte, wird in den Angaben zu Quellen und Literatur fündig werden. Diese sind allerdings zumeist nur umständlich über das Register aufzuspüren, das zudem von Ockham auf Wilhelm und von dort wieder zurück verweist, ohne die Textstelle mit einer - allzu knappen - Skizze des Franziskaners Wilhelm von Ockham aufzuführen. Im übrigen hätte der Übersetzer ab und zu das Lexikon des Mittelalters zu Rate ziehen sollen. So wird der von Papst Johannes XXII. als Ketzer verurteilte Kaiser Ludwig IV. heute nicht als "Ludwig von Bayern" bezeichnet, sondern gemäß der hämischen Redeweise seiner Feinde als "der Bayer". Der Beiname spielte darauf an, daß dem Wittelsbacher wegen seines Ketzertums alle Ämter und Würden aberkannt worden waren. Allerdings war die herabsetzende Tendenz des Schimpfnamens schon von einem Zeitgenossen mit dem Verweis auf Bayerns schon damals unbezweifelbare Verdienste um den rechten Glauben ins Gegenteil gewendet worden.

HEINZ THOMAS

Malcolm Lambert: "Häresie im Mittelalter". Von den Katharern bis zu den Hussiten. Aus dem Englischen von Raul Niemann. Primus Verlag, Darmstadt 2001. XVI, 533 S., Abb., Karten, geb., 128,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Alles in allem, erklärt Heinz Thomas, vermittelt das Studium des Buches einen umfassenden Überblick zum Thema. Nicht gerade ein überschwängliches Lob zwar, allerdings hat der Rezensent auch nur wenig auszusetzen an dem Band. Unzureichend etwa findet er die Auswertung des umfassenden Werkes von Frantisek Graus über "Pest - Geißler - Judenmorde" von 1987 sowie das angehängte "Häretiker-Glossar", und auch am Sachverstand der Übersetzung hat er was zu nörgeln. Im Ganzen aber, wie gesagt, scheint das erklärte Ziel einer Zusammenfassung gegenwärtiger Forschungsergebnisse durchaus gelungen.

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