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Seinen Vater kennt Cornelius nicht, und weshalb seine Mutter eines Tages verschwunden ist, weiß er auch nicht. So verlebt er eine Nachkriegskindheit bei seinen Großeltern in der Münchner Vorstadt, zwischen Bahndamm und Schrebergartensenke, eine Kindheit, die nach Ziegelschutt, moderndem Holz und Beinwell riecht bis er von der Aufbruchstimmung der sechziger Jahre erfasst wird und der Ausbruch aus seiner kleinen Welt der Hitler- und Gartenzwergverehrenden Nachbarn möglich scheint. Egon Günther findet für eine typische Geschichte seiner Generation eine ganz eigene Sprache: poetisch, bildhaft,…mehr

Produktbeschreibung
Seinen Vater kennt Cornelius nicht, und weshalb seine Mutter eines Tages verschwunden ist, weiß er auch nicht. So verlebt er eine Nachkriegskindheit bei seinen Großeltern in der Münchner Vorstadt, zwischen Bahndamm und Schrebergartensenke, eine Kindheit, die nach Ziegelschutt, moderndem Holz und Beinwell riecht bis er von der Aufbruchstimmung der sechziger Jahre erfasst wird und der Ausbruch aus seiner kleinen Welt der Hitler- und Gartenzwergverehrenden Nachbarn möglich scheint.
Egon Günther findet für eine typische Geschichte seiner Generation eine ganz eigene Sprache: poetisch, bildhaft, eindrücklich.
Dieser Roman packt den Leser und wirft ihn in die Zeit, aus den "Schrecken der Kindheit" taucht er nicht ohne Spuren wieder auf.
Autorenporträt
1953 in München geboren, Maler, Autor und Übersetzer, Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften. Er lebt in Oberbayern.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2012

Rausch ab, verzupf dich
Egon Günther erzählt vom Nachkriegsmünchen

Der Watschenbaum ist keine Pflanze. Was sich hinter dem Wort verbirgt, kann man nachlesen in Georg Queris 1917 erschienenem "Der Bayerische Watschenbaum": Er ist "ein fester Arm, und was fünffingerig dranhängt, daraus macht man die Watschen. Wenn der Arm, quasi Baum, umfällt, dann ist eine Watschen reif geworden und muß weg. Und was g'scheidte Leut' sind, die gehen da nicht hin, wo die Watschenbäum' umfallen." Das allerdings, so der Satiriker Queri, erlerne sich nicht ganz leicht.

"Watschenbaum" heißt auch ein Roman des 1953 in München geborenen Egon Günther. Kennt man Queris Definition, errät man leicht, dass es in Günthers Roman recht rauh zugehen wird. Er erzählt die Geschichte des jungen Cornelius, der ins proletarische Milieu im München der Nachkriegszeit hineingeboren wird. Dieses München hat nichts gemein mit dem notorisch leuchtenden der Jahrhundertwende, es ähnelt auch nicht der sauberen und saturierten Stadt von heute.

Das München in "Watschenbaum" ist grau, eng und arm. Seine Bewohner und Bauten sind vom Krieg gezeichnet, Tandler und Tagelöhner bevölkern die Straßen. Nicht nur in der Stadt herrscht Unordnung, auch mit der Familie von Cornelius stimmt einiges nicht. Er wächst als uneheliches Kind bei den verbitterten Großeltern auf, den betrunkenen Großvater muss er regelmäßig aus dem Wirtshaus abholen. Seinen Vater kennt er nicht, die Mutter taucht anfangs sporadisch, später gar nicht mehr auf.

Neben den resignierten Großeltern und einer abweisenden Tante samt unberechenbarem Gatten gehören zu Cornelius' Welt auch verknöcherte Lehrer, rabiate Mitschüler und verschrobene, feindselige Nachbarn, die sich Hitler zurückwünschen. Brutale Disziplinierungsmaßnahmen sind an der Tagesordnung. Das Spektrum reicht von gegen die Kinderstirn geschnipsten "Hirnbatzeln" über Ohrfeigen und Prügeln bis zu seelischen Grausamkeiten. Und als Cornelius eines Tages zufällig ein Kästchen mit wertvollen Briefmarken ausgräbt, nimmt ihm der Onkel die wertvollsten einfach weg.

Dass all seiner Scheu und Schüchternheit zum Trotz in Cornelius der Wunsch nach Rebellion wächst, macht Günther im Roman unmissverständlich klar. Die Kälte der Umgebung, seine Scham über die familiären Verhältnisse, aber auch die Freiheitsversprechen, die aus den Lektüren halb zerfetzter, sorgsam gehüteter Klassiker und aus seiner Bekanntschaft mit Vertretern der Studentenbewegung aufscheinen, bewegen den Sechzehnjährigen, den die Großeltern zu Tante und Onkel abgeschoben haben, zum Abhauen.

Dass im Roman die Verzweiflung und Labilität des Jungen so plastisch werden, verdankt sich nicht nur den realistischen und gekonnten Schilderungen von Orten, geschichtlichen Details und des Personals. Überzeugungskraft entsteht auch durch den Wechsel zwischen dem nüchternen Ton eines Erzählens in der dritten Person und kurzen Assoziationsströmen, die sich auch im Schriftbild vom übrigen Text absetzen und einer geordneten Sprache eine entfesseltere entgegensetzen. Mal erinnern diese Passagen an Träume, mal werden darin Phrasen so lange gedroschen, bis ihre ganze Hohlheit offen daliegt, mal werden gleichbedeutende Worte insistierend aneinandergereiht. Das ganze Spannungsfeld von Regel und Überschreitung, in dem sich Cornelius bewegt, wird mimetisch nachgebildet: "Dann endlich wird er türmen, stiften gehen, verduften, verschwinden, sich verdünnisieren, sich empfehlen, abrauschen, sich verzupfen, sich verkrümeln, sich aus dem Staub machen, ausreißen, abhauen, abtauchen, das Weite suchen."

Dass die erträumte Freiheit leicht in Zwang umschlagen kann, muss der minderjährige Cornelius erfahren, als er, von zu Hause abgehauen, bei einem politischen Aktivisten Unterschlupf findet. Im linken Milieu lernt er nicht nur, wie man einen dreiblättrigen Joint baut, sondern auch, dass Solidarität ihre Grenzen hat - eine von vielen bitteren Pointen in "Watschenbaum". Cornelius begreift, dass die Balance zwischen Rebellion und Anpassung besonders schwierig für denjenigen zu finden ist, der sich auf niemanden verlassen kann. Er begreift aber auch, dass er sich "den Schneid nicht abkaufen lassen darf. Sonst ist er geliefert."

Auch wenn die Handlung von "Watschenbaum" ein halbes Jahrhundert zurückliegt, beeindruckt die verzweifelt wütende Verlorenheit dieses sich selbst überlassenen Heranwachsenden aus einer bildungsfernen Schicht. Egon Günther wird wissen, warum er dieses Thema heute gewählt hat.

BEATE TRÖGER

Egon Günther: "Watschenbaum". Roman.

Edition Nautilus, Hamburg 2012. 192 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Handlung spielt zwar vor einem halben Jahrhundert in einem München, das weder leuchtet noch chic ist, sondern grau, eng und brutal und bevölkert mit Hitler-Sympathisanten, doch etwas daran scheint Beate Tröger aktuell zu finden. Möglicherweise ist es die bildungsferne Bildungsgeschichte des Helden, die der Autor erzählt, eine laut Tröger an bitteren Pointen reiche Geschichte zwischen Anpassung und Rebellion, von Egon Günther nachgebildet nicht durch historische Authentizität, sondern in den Bewusstseinsströmen der Figur. Für Tröger setzen sie sich ab von der geregelten Sprache - eine entfesselte Sprache des Aufbegehrens.

© Perlentaucher Medien GmbH