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Produktdetails
  • Critica Diabolis
  • Verlag: Edition Tiamat
  • Seitenzahl: 286
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 365g
  • ISBN-13: 9783893200498
  • ISBN-10: 3893200495
  • Artikelnr.: 09828607
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das Fernsehen, so nach Ansicht des Rezensenten Andreas Rosenfelder Georg Seeßlens zentrale These, bietet dem Zuschauer eine "virtuelle Heimat". Die jedoch ist zwiespältiger Natur: Die Einheit der Familie soll sich vor dem Medium der Zerstreuung herstellen. Rosenfelders Eindruck von diesem Buch ist gleichfalls zwiespältig. Gegen die Theoriekapitel, in denen sich Seeßlen seiner Meinung nach ein wenig zu sehr "als ein Deleuze des Fernsehens" aufspielt, in denen er zu "kulturphilosophischen Pauschalthesen" neigt, hat er einige Vorbehalte. Sehr gut gefallen ihm dagegen die Passagen, in denen es um "detailgenaue Stammeskunde der Fernsehfamilie" geht. Die betreibt er an Klassikern der deutschen Fernsehgeschichte wie "Die Unverbesserlichen" oder "Ein Herz und eine Seele". Etwas merkwürdig will es dem Rezensenten jedoch vorkommen, dass Seeßlen bei allem Bewusstsein für die "Konstrukthaftigkeit der medialen Heimatmodelle" doch eine präzise Unterscheidung von Realismus und Ideologie zu haben scheint. Und, ausgerechnet, einzig die "Lindenstraße" will ihm da gegenwärtig "klar fortschrittlich" vorkommen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Beimers Sohn Klausi lacht
Zur Krippenlage der Nation: Georg Seeßlen als Traumdeuter im trauten Heim der Fernsehfamilie / Von Andreas Rosenfelder

Das Fernsehen kam nicht nur als neues Medium, sondern auch als neues Möbelstück in die Welt. Mag sein, daß der Fernsehapparat selbst ein Medium ohne Erinnerung ist: Im kulturellen Gedächtnis der Gegenwart gehört er längst zum Inventar. Anders als das Kino, das immer einen Raum für sich bildete, ist das Fernsehen mit der Inneneinrichtung unseres Daseins verschmolzen. Die deutsche Familie der Nachkriegsgesellschaft adoptierte den Fernseher als neues Familienmitglied, um sich zugleich bereitwillig im Apparat verdoppeln zu lassen. Das Wohnzimmer beobachtet das Wohnzimmer: In diesem Szenario macht der Filmkritiker Georg Seeßlen die Urszene des Fernsehens aus, die sich fast bruchlos überblenden läßt in die Sitzgruppenszenen von "Big Brother". Hatte man sich als Kinogänger in unerreichbaren Traumwelten verloren, so war man beim Fernsehgucken ganz bei sich zu Hause.

In "Der Tag, als Mutter Beimer starb" tritt Georg Seeßlen als Traumdeuter des deutschen Fernsehens auf. Er hält Ausschau nach den politischen Schemen, die sich auf den Bildschirmen niederschlagen, und er fahndet nach den sozialen Programmierungen, die sich im Fernsehprogramm verstecken. Der vielversprechende Ausgangspunkt seiner medienhistorischen Exkursion ist die These, daß das Heimkino des Fernsehens den Zuschauern von Anfang an eine virtuelle Heimat ins Haus geliefert hat. Indem das Fernsehen uns die ganz normale Welt wiedergibt, macht es uns freilich schon zu Heimatvertriebenen - ein Gedanke, den Seeßlen in einer hellsichtigen Hermeneutik der deutschen Fernsehweihnacht auseinanderfaltet. Jeder Fernsehabend konnte ein Heiligabend sein - verkörpert doch die Krippenszene eben jenen für das Fernsehen charakteristischen Gegensatz zwischen einem familiären Innenraum und einer bedrohlichen Außenwelt. Den Hintergrund des deutschen Fernsehens bildet die Gefahr des sozialen Zerfalls: Gerade vor einem Zerstreuungsmedium soll sich die vom Zweiten Weltkrieg angeschlagene Kleinfamilie wieder versammeln.

Während die Theoriekapitel des Buches, in denen sich Seeßlen ein wenig zu deutlich als ein Deleuze des Fernsehens in Szene wirft, ihren Einsatz mitunter auf kulturphilosophische Pauschalthesen zu Natur, Welt, Nation und Gesellschaft verwetten, besticht die Untersuchung gerade dort, wo sie eine detailgenaue Stammeskunde der Fernsehfamilie betreibt und sowohl das Eindringen des Apparates in die Wohnstuben als auch den Marsch der Serienfamilien durchs Massenmedium kartographiert. Der technische Fremdkörper, der die Rituale des Bürgertums von innen zersetzte, wurde zugleich zum größten Retter der bürgerlichen Familie, indem er fortan ihre Selbstbilder verwaltete.

Geboren wurde die deutsche Fernsehfamilie - die amerikanische Vorbilder in Fernsehen und Radio hatte - im Jahr 1954 mit "Ihre Nachbarn heute abend: Die Schölermanns". Die glückliche Innenwelt, die sich dem Publikum durch das Schlüsselloch dieser Serie darbot, war noch intakt. In der ab 1965 ausgestrahlten Serie "Die Unverbesserlichen" ging das Unternehmen Kleinbürgertum allmählich den Bach herunter. Seeßlen lobt die Sendungen für die "sehr genaue Definition der Klassenlage". Auch die 1974 anlaufende Serie "Ein Herz und eine Seele", in der Heinz Schubert als Ekel Alfred auftrat, wertet er als mediales Abbild der "Ängste und Aggressionen eines untergehenden Kleinbürgertums". Hier scheint die Fernsehfamilie Verschiebungen in der sozialen Tektonik anzeigen zu können - und gewinnt mithin jene soziologische Dignität, die Seeßlen dem tristen "Sozialklimbim" der siebziger Jahre abspricht, der den "sozialen Brennpunkt" bedingungslos in den Fokus rückte. In den restaurativen achtziger Jahren kehrte die Fernsehfamilie zurück in die Wälder des deutschen Heimatfilms. In der "Schwarzwaldklinik" nahm der verständnisvolle Doktor behutsam jenen chirurgischen Eingriff in die Intimsphäre vorweg, den später die Kameras von "Big Brother" zur Routineoperation machen sollten.

Obwohl Seeßlen die Konstrukthaftigkeit der medialen Heimatmodelle durchgängig betont, ist der Eindruck nicht abzuwenden, der Autor treffe eine klare Unterscheidung zwischen realistischen und ideologischen Serien. Allein die Lindenstraße, der "allwöchentliche Untergang der Kleinbürgerklasse", ist klar fortschrittlich. Das traute Heim nämlich entpuppt sich im von Problemfällen heimgesuchten Mietshaus als pure Illusion, und die Familie tritt fast nur in Form ihrer Bruchstücke in Erscheinung. Seeßlen nimmt die wöchentliche Serie als Spiegel der deutschen Realitäten und als notwendigen moralischen Kommentar ausgesprochen ernst: "Wir brauchen die ,Lindenstraße', sonst hätten wir gar kein Gewissen mehr." Indem er Geißendörfers Schöpfung zur Wahlheimat der Wirklichkeit erkürt, fällt Seeßlen hinter seine eigenen Prämissen zurück. Denn eines hat auch ein so vielseitiges Möbelstück wie der Fernsehapparat ganz gewiß nicht - ein Gewissen.

Georg Seeßlen: "Der Tag, als Mutter Beimer starb". Glück und Elend der deutschen Fernsehfamilie. Edition Tiamat, Berlin 2001. 288 S., br., 36,- DM.

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