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Am Beispiel Deutschlands und Italiens zeigt Caspar Hirschi, warum sich der Gemeinschaftstyp »Nation« gerade in Europa geformt und über Jahrhunderte gehalten hat.In jüngerer Zeit wird in den Sozialwissenschaften die Ansicht vertreten, Nationen seien Erzeugnisse der Moderne. Caspar Hirschis Theorie lautet gegenläufig, dass die Nationenbildung einen diskontinuierlichen Prozess von langer Dauer darstellt, der in Europa schon im Spätmittelalter eingesetzt hat.In Deutschland kommt den Humanisten besondere Bedeutung zu. Sie greifen die Propaganda der habsburgischen Kaiser an die Reichsstände auf und…mehr

Produktbeschreibung
Am Beispiel Deutschlands und Italiens zeigt Caspar Hirschi, warum sich der Gemeinschaftstyp »Nation« gerade in Europa geformt und über Jahrhunderte gehalten hat.In jüngerer Zeit wird in den Sozialwissenschaften die Ansicht vertreten, Nationen seien Erzeugnisse der Moderne. Caspar Hirschis Theorie lautet gegenläufig, dass die Nationenbildung einen diskontinuierlichen Prozess von langer Dauer darstellt, der in Europa schon im Spätmittelalter eingesetzt hat.In Deutschland kommt den Humanisten besondere Bedeutung zu. Sie greifen die Propaganda der habsburgischen Kaiser an die Reichsstände auf und kombinieren sie mit politischen Diskursen der Antike. Damit begründen sie neue Formen der kollektiven Ehre und Ausgrenzung. Die eigene Gemeinschaft steht nicht mehr einer einheitlichen Masse von Heiden oder Barbaren gegenüber, sondern einer Vielzahl von Gemeinschaften, die kategorial gleich sind: Nationen. Dieses Gleich-zu-Gleich von autonomen Ehrgemeinschaften führt zu einem umfassenden Wettkampfkonzept. Diskurse entstehen, die die Überlegenheit der eigenen Nation beweisen sollen. Sie verleihen jeder Nation einen vermeintlich unverwechselbaren, realiter oft austauschbaren Charakter, der aus antiken Tugend- und Lasterkatalogen zusammengesetzt ist. Der humanistische Wettkampf der Nationen wird von der Konfessionalisierung abgebremst, trägt danach aber zum Siegeszug des modernen Nationalismus bei.
Autorenporträt
Caspar Hirschi, geb. 1975, studierte Geschichte und deutsche Literatur an den Universitäten Tübingen und Fribourg, wo er seit 2001 als Assistent frühneuzeitliche Geschichte lehrt. Publikationen zur Kunsttheorie Immanuel Kants, zum postmodernen Identitätsdiskurs und zum Nationskonstrukt des deutschen Humanismus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2005

Eine Ehre für den Marmorstaub

Die Nationen können nicht bloß als Konstrukte der modernen Massengesellschaft aufgefaßt werden, wie vor allem anglophone Historiker und Soziologen seit rund zwei Jahrzehnten behaupten. Vielmehr sind sie in einem Prozeß sehr langer Dauer entstanden, der bis in die Antike zurückreicht. Im Zeitalter des Humanismus hat dieser Prozeß das ideologische Fundament des Nationalismus hervorgebracht, der die Geschichte Europas bis in die Gegenwart hinein nachhaltig prägte.

Die entscheidende Leistung der Humanisten - Deutscher, aber auch Italiener, Franzosen und Spanier - war eine doppelte Transformation, nämlich die des adligen Strebens nach großflächiger, gar universaler Herrschaft, sowie die Verwandlung der intellektuellen Konkurrenz selbst um die Ehre ausgezeichneter Gelehrsamkeit und Sprachkunst in einen Wettkampf der Nationen, auf allen Seiten und an allen Grenzen. In Deutschland verknüpft der humanistische Nationalismus den gelehrten Ehrdiskurs, den man aus Italien kennt, mit dem habsburgischen Nationsdiskurs. Das dualistische Modell von Zivilisation und Barbarei universalisiert er zu einem nationalistischen Multiversalismus.

Dies ist die - hier aufs äußerste verknappte - Botschaft einer umfangreichen Dissertation, die Caspar Hirschi vorgelegt hat ("Wettkampf der Nationen". Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 555 S., br., 48,- [Euro]). Mit seiner Gelehrsamkeit und Sprachkunst könnte der junge Autor gewiß selbst jeden der von Jacob Burckhardt und ihm selbst so geliebten (und kritisierten) humanistischen Wettkämpfe bestehen; anders gesagt hat sich Hirschi schon mit diesem einen Werk als einer der brillantesten Nachwuchshistoriker deutscher Zunge etabliert. Seine wichtigste forschungsstrategische Leistung besteht darin, daß er die Nationenforschung der Mediävistik mit derjenigen der Zeitgeschichte verknüpft und die Einheit der Geschichte wiederhergestellt hat. Auch einer Stellungnahme zur aktuellen Revitalisierung des Nationalismus, besonders auf dem Balkan, weicht er nicht aus.

Der Problematik jeder Entwicklungsgeschichte ist sich der Autor bewußt; den Verdacht, daß im Humanismus des späten Mittelalters schon der Holocaust des zwanzigsten Jahrhunderts angelegt sei, weist er souverän und engagiert zurück. Die Fallstricke der teleologischen Geschichtsbetrachtung will er durch einen "diskursanalytischen Konstruktivismus" meiden. Statt von der Tradition bestimmter Motive oder gar der Wort- oder Begriffsgeschichte auszugehen, verfolgt er also Denkfiguren und Konzepte zur Wirklichkeitserfassung, und zwar von der Antike bis zur Gegenwart.

Zu ihnen gehören die Diskurse um patria (Heimat) und natio ebenso wie der griechisch-römische, dann vor allem italienische Antibarbarendiskurs, ferner die unter den Deutschen verbreitete antiromanitas, besonders in der Form der Franzosenfeindschaft, sowie die nationalen Diskurse, die bei Herrschaft und Territorium, Religion, Moral, Sitten, den freien und sogar den mechanischen Künste ihre Felder der Bewährung für Rang und Ehre ausbildeten. Auf diese Weise ergibt sich ein Zusammenhang sich überlappender Gedankenkreise und Kommunikationsstrukturen, die ineinandergreifen und dennoch eine Kette ohne Richtung bilden. Um die Anverwandlung eines älteren Motivs durch eine andere Zeit zu verstehen, müssen deshalb, wie Hirschi weiß, soziale Kontextanalysen zur Geistesgeschichte hinzutreten.

Auch der scharfsinnigste Autor ist allerdings vor methodischen Fehlern nicht gefeit. Bei Hirschi waren es ein halbherziger Konstruktivismus sowie die einseitige Fixierung auf die Diskursanalyse, welche die Bedeutung seiner Ergebnisse am Ende doch mindern. Er ist okkupiert von dem Wunsch, die Bedeutung des Humanismus für den modernen Nationalismus darzulegen. Sein Wertbezug geht so weit, daß er die Kritiker von Burckhardts Humanismusbild als relativistische Meisterdenker verspottet und an der Stelle des "grandiosen Theoriegebäudes eine Menge Marmorstaub" betrauert.

Dem entspricht, daß Hirschi am Beweis einer Tradition von Diskursen bis in die Gegenwart sein Genügen findet; einer funktionalistischen Geschichtsbetrachtung, die nach den Gründen fragt oder fragen könnte, weshalb von wem alte Denkmuster unter veränderten historischen Bedingungen aufgegriffen werden, begegnet er mit Ablehnung und Unverständnis. In seinem Geschichtsbild haben Individuen gar keinen Platz. Statt dessen behauptet er, daß die Diskurse selbst als soziale Akteure zu beschreiben seien, die "bis zu einem gewissen Maß ihre eigenen Initianten und Repräsentanten" beherrschten.

So konnte sich bei einem Geschichtsschreiber beachtlicher Reflexionshöhe der Eindruck einstellen, er sei der alten und oft beklagten Ursünde historischen Denkens erlegen: eben doch in den Anfängen die entscheidenden Determinanten für alles Spätere enthalten zu sehen. Statt dessen kommt es aber darauf an, zu schauen und zu erklären, was aus den Ursprüngen jeweils geworden ist. Weil Hirschi darauf verzichtet hat, die Erscheinungsweisen nationalen Denkens mit konkreten Menschen in besonderen historischen Situationen zu verbinden, stellt seine Abhandlung kaum eine Herausforderung für den Vergleich mit viel späteren Analogien dar. Deswegen muß man auch befürchten, daß sich die neue Darstellung der humanistischen Vorgeschichte bei weiteren Debatten über die Entstehung der modernen Nationen doch nur in Fußnoten niederschlagen wird.

MICHAEL BORGOLTE

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Viel Anerkennung erhält Caspar Hirschis Studie von Rezensent Urs Hafner. Der Autor löse seine "ambitiöse These" vom Ursprung des deutschen Nationalismus im Spätmittelalter zwar nur bedingt ein, aber erstens sei das doch mal erfrischend kühn gedacht und zweitens "gewandt" und mit viel Theorie vorgetragen. Hirschi verknüpfe insbesondere die moderne Sozialgeschichte mit der Mediävistik. Die deutschen Humanisten wie Ulrich von Hutten oder Jakob Wimpfeling, referiert der Rezensent, würden von Hirschi als "ideologische Vorläufer" eines bis zum Nationalsozialismus führenden Abgrenzungsdenkens angesehen. Vorbild sei das römische Reich mit seinem "imperialen Herrschaftsdenken" gewesen, und die "deutsche Nation" sollte sich von den französischen und italienischen Nachbarn durch noch mehr Männlichkeit und noch mehr Ehrgefühl abheben. Auch seien für Hirschi die Humanisten insofern "vormoderne Nationalisten", als sie bereits "die manipulative Macht des Wortes in seiner öffentlichen Inszenierung" erprobt hätten. Richtig überzeugt ist der Rezensent nicht von Hirschis "motivgeschichtlichem Katalog", aber die Studie sei "mutig" und "äußerst anregend" inszeniert.

© Perlentaucher Medien GmbH