Produktdetails
  • Verlag: Verlag Antje Kunstmann
  • Seitenzahl: 64
  • Abmessung: 12mm x 182mm x 263mm
  • Gewicht: 387g
  • ISBN-13: 9783888972355
  • ISBN-10: 3888972353
  • Artikelnr.: 08582828
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.05.2000

Die Seelenlandschaft der Kindheit erkunden
Das ABC-Buch von Karl Philipp Moritz in einer Neuauflage mit Collagen von Wolf Erlbruch
Das 18. Jahrhundert ist reich an ABC-Büchern für Kinder, die sorgfältig gedruckt und mit kolorierten Kupferstichen versehen, daran erinnern, „mit welcher Hingabe damals für Kinder gearbeitet wurde” (Walter Benjamin). Eines dieser Bücher für Kinder aus dem Jahr 1790 mit dem ursprünglich längeren Titel Neues A.B.C. Buch welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält von Karl Philipp Moritz feiert Wiederauferstehung. Es ist derselbe Moritz, dem wir den ersten psychologischen Roman deutscher Weltliteratur verdanken, den Anton Reiser. Sein ABC folgte kindlichem Denken und Fühlen, und das ohne den damals üblichen Mahn- und Bibelton. Es ging ihm um ein neues, von Rousseau inspiriertes Menschenbild. Moritz war einer der heftigsten Leser seiner Zeit und wünschte sich die Kinder als eifrige Leser. „Wer liest, denkt nach, der Leser belohnt sich selbst!” Das sind Gedanken aus dem 18. Jahrhundert, die wir gern wieder aufnehmen.
Im Kinderbuch gibt es bis zum heutigen Tag ABCs schönster Spiel- und Reimart, stets verbunden mit Bildern. Aber Moritz reimt nicht, er sagt, was Sache ist. Und dies einfach und klar, ohne Einschränkung. Gefühl, Geruch, Geist, Körper leben in Beispielen, die jedes Kind verstehen kann. Bis hin zur sozialen Erkenntnis: „Der Mensch muss eine Wohnung haben und muss mit anderen Menschen zusammen leben. – Wer keine Wohnung hat, ist übel dran. ” Und dem Text vom Prassen der Reichen an üppiger Tafel folgt ein lakonisches „Der Mensch braucht wenig, um zufrieden zu leben. ” In einer an Brecht erinnernden Diktion fügt er hinzu: „Auf den Tag folgt die Nacht. / Auf das Wachen folgt der Schlaf. / Auf die Arbeit folgt die Ruhe. / Auf das Leben folgt der Tod. ” Beim Nachdenken über die Zeit, über sinnlos verlorene oder gelebte Zeit heißt es: „Ein vernünftiger Mensch bedenkt alles, was er tut. ” Ein gewaltiger Satz für unser Zeitalter ferngesteuerter Unterhaltungswelt. Wolf Erlbruch malt dazu die anatomisch anmutende Studie eines alten Mannes mit Engelsflügeln aus Papier. Die beschaulichen Kupferstiche von Peter Haas zur Ausgabe von 1790 können das nicht leisten, was uns Wolf Erlbruchs Illustrationen in der Neuausgabe geben. Vielen mag das zunächst unverdaulich vorkommen, beim flüchtigen Bildergucken. Die Faszination, die von diesem Wörter-Bilder-Buch ausgeht, offenbart sich erst nach mehrfacher Betrachtung und nach wiederholtem Lesen. Wolf Erlbruch hat den alten Moritz beim Wort genommen, aber wie! Seine teils collagierten Bilder machen uns in einer alternativen Bilderwelt heimisch. Scheinbar sind sie naiv, diese Bilder, und stecken doch voll raffinierter Kürzel. Hier wird verfremdet und zugleich aufgedeckt. Der frierende Nackte ohne Wohnung, daneben wie ein Zitat die skizzierten gleichförmigen Übereinander-Wohnungen.
Das 22. Bild heißt „Vergänglichkeit”. Unter Blitz, blutroten Wolken, brennendem Haus, bebenden Bergen steht Moritzens Satz: „Wenn dieser Weltbau einst zerfällt. ” Das erinnert mich an das auch „Vergänglichkeit” genannte Gedicht von J. P. Hebel, wo es heißt: „Und mit der Zeit verbrennt die ganze Welt. ” An diesem Bild wird besonders augenfällig, wie Erlbruch den von Max Ernst begonnenen Weg des naiven Erzählens als Collage mit geliehenen Bildelementen nutzt, um damit gewohntem Bilddenken einen Stein in den Weg zu legen. Er will ja gar nicht, dass wir entzückt sind; seine Ästhetik zielt auf Aufmerksamkeit – jenseits der schnellen, heiteren Bilder. Das offene Auge zu Anfang, dann ein lesendes Kind, mit dem Finger der Zeile folgend. Das Kind sitzt unter einem Baum, deshalb oben der Abdruck eines Baumblattes. Und auf dem letzten Bild wieder das Kind, diesmal mit dick verbundenem Finger lesend: „Wer die Rose brechen will, muss den Dorn nicht scheuen!”
Als Papiergrund benutzt Erlbruch oftmals altes Kanzleipapier. Das gibt den Bildern etwas Vorläufiges. Darauf dann die meisterliche Handzeichnung eines männlichen Gesichts, sozusagen dem Helden Xerxes (Buchstabe X) gegenüber gestellt. Es ist wohl ein Porträt von Karl Philipp Moritz, der wie kaum ein anderer vor ihm die Seelenlandschaft der Kindheit erkundet hat.
HANS-JOACHIM GELBERG
KARL PHILIPP MORITZ / WOLF ERLBRUCH: Neues ABC-Buch. Antje Kunstmann Verlag 2000. 64 Seiten, 24,80 Mark.
Illustration aus Karl Philipp Moritz und Wolf Erlbruch: Neues ABC-Buch
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Was ich mit dem Auge lese, das kann ich auch mit dem Ohre hören
Buchstabenwelten von Karl Philipp Moritz bis Nadia Budde: Die Fibel verschwindet aus den Klassenzimmern, jetzt kommen die ABC-Bücher von überall her

Die wahre Wissenschaftslehre jeder Wissenschaftslehre hat Jean Paul in "Leben Fibels" das Alphabet genannt. Die Buchstaben sind die symbolischen Bausteine von Mikrokosmos und Makrokosmos. Zugleich sind sie elementarer Lerngegenstand. Daher begegnen über dem Abc-Buch seit jeher Philosophen, Theologen, Dichter und Künstler den Kindern, die das Lesen lernen. In diesem Jahr haben sich viele zu solchem Treffen eingefunden. Es scheint, dass im selben Maß, in dem die Schule sich von den Büchern und Fibeln entfernt, der Kinderbuchmarkt sich des aufgegebenen Terrains lustvoll annimmt. Das eindrucksvollste der Abecedarien erscheint allerdings nicht in einem Kinderbuchverlag, sondern bei Antje Kunstmann: Karl Philipp Moritz' "Neues Abc-Buch", zuerst erschienen 1790, neu illustriert von Wolf Erlbruch und mit einem informativen Nachwort von Heide Hollmer.

Moritz war nicht nur Philosoph und Mitbegründer der empirischen Psychologie, er war auch ein engagierter Pädagoge. Sein Abc-Buch legt von seinen didaktischen Fähigkeiten glänzendes Zeugnis ab. Die Bildunterschriften, die sich paarweise reimen, ergänzt er, der emblematischen Tradition folgend, durch kurze auslegende Texte. Sie bestehen aus einfachen Sätzen, die erzählen, fragen, beschreiben, erklären. Die Rede wechselt mühelos zwischen Gegenständen, Handlungen, behutsamen Abstraktionen und prägnanten Lehrsätzen. Moritz verbindet sprachliches und sachliches Lernen, wie Comenius in seinem "Orbis pictus", aber er entwirft seine Welt in 25 Buchstaben nicht mehr als Buch Gottes, sondern als eine Philosophie vom Menschen. Er beginnt mit den fünf Sinnen, mit denen alles Lernen anfängt. Das Sehen als der höchste Sinn bildet sich jedoch nicht an den realen Dingen, sondern im Buchstabieren und Lesen. Das Buch ist die Welt, in die der Lernende sich versenkt. Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl öffnen auch physikalische Erfahrungsräume. Lernen und Denken werden thematisiert, weiterhin die Beziehung und der Unterschied zwischen Mensch und Tier, Kleidung und Wohnung. Ein moralisches Zwischenspiel weist darauf hin, dass Pracht und Überfluss nicht notwendig sind. Am Ende kommen die letzten Dinge zur Sprache: Tod, Vergänglichkeit, Zeit und wieder das Wichtigste, der Mensch. Die Pflanzen, etwa Ysop und Zeder, mögen ungleich sein, die Menschen sind gleich, ob hoch oder niedrig. Keiner hat das Recht, einen anderen gering zu schätzen. "Denn es ist die höchste Würde, ein Mensch zu sein." Die Würde des Menschen zieht sich als Leitmotiv durch das Buch  - ein Grundlagentext zum klassischen Bildungsentwurf und zur demokratischen Erziehung.

Wolf Erlbruch kombiniert in seinen Tafeln all die didaktischen Medien der alten Schule, Papiere mit Rechenkaros und Linien, mit Texten in altdeutscher Schreibschrift, mit Zahlenkolonnen und geometrischen Zeichnungen. Seien es Warenkataloge, Gebrauchsanweisungen, Landkarten oder physikalische Diagramme, er montiert, zitiert, stempelt, zeichnet mit Kreide auf schwarzen Tafelgrund, mit Blei- und Buntstift, schneidet aus und klebt zusammen und setzt für die Wildnis des Feuers und des Waldes den Pinsel und die pastose Farbe ein. Die meisten dieser Techniken sind aus seinen früheren Bilderbüchern vertraut. Aber erst hier wird der emblematische Charakter seiner Illustrationskunst deutlich: Mit den Zeichnern der Sinnsprüche und Devisen teilt er die Lust an der Kombination des Heterogenen, am Schrifthaften der Zeichnung, an Rebus und Rätsel. Seine Tafeln wollen entziffert werden, sie sind Inszenierungen des Zeigens wie Max Ernsts Loplop-Bilder, und sie haben wie diese einen Bodensatz des Geheimnisvollen und Absurden, der den wunderlichen Zusammenstellungen entspricht, die die alphabetische und enzyklopädische Ordnung hervorbringt.

Dem enzyklopädischen Geist des Alphabets ist Katharina Lausche mit ihrem Tier-ABC verpflichtet. Ihr Buch ist eine Reihe von genau gezeichneten und kolorierten Tierporträts. Sie beeindrucken durch ihre Bewegungsgestalten, am allermeisten aber durch die intensive Darstellung von Fell und Federn, Haut und Haar mit all ihren taktilen und haptischen Besonderheiten und Reizen. Neben vertrauten Tieren hat die Künstlerin weniger bekannte gezeichnet wie den Blaufußtölpel, die Cistensänger, den Indri, den Quetzal und das Veilchenohr. Wie gut, dass der Abecedarius das C fordert, das Q, das V und X. Hier kommt auch die Liebe zu eigentümlichen und farbigen Wörtern auf ihre Kosten. Zu jedem Tier gibt es einen präzisen und aspektreichen Informationstext.

Ganz anders ist die Tierschar beschaffen, die sich in Esther Spinners Tier-Anagrammen auf den Weg zum großen Fest macht. Allerlei sympathische Geschöpfe aus den Bilderbüchern der letzten Jahre sind in den Zeichnungen von Anna Luchs wieder zu entdecken, vielleicht als Zitate, vielleicht weil sich Einflüsse durchsetzen. Die Buchstaben sind aus Zeitungspapier ausgeschnitten, und die Kernsätze der Tiere stammen aus den Anagrammen ihrer Namen. Daher heißt die Amsel Selma, der Tiger Greti und der Yak Kay. Wie man die Wörter von vorn und von hinten lesen kann, so ist auch die Zeit im Buchspiel reversibel. Die Geschichte regt an zum Anders- und Weitererzählen, die Anagramme zum eigenen Dichten. Dafür ist ein Alphabet mit Buchstabenkärtchen dem Buch beigelegt.

Nadja Budde arbeitet mit Alliterationen. Jede Seite ihres Alphabets stellt Figuren vor, die sich im Denken und Handeln brav ihrem Buchstaben fügen wie der einsame, etwas eitle Elch, der einmal ein Eilpaket erhielt. Auch Nadja Budde macht Anleihen bei anderen Künstlern. Indes übersetzt sie das Fremde in ihre eigene Handschrift und öffnet mit der Verve weniger Striche ihre Fläche zum Raum, zur Stadt und Straße, zum Strand und Wald. Sie lässt Figuren auftreten, die es in Abc-Büchern noch nie gegeben hat, etwa die moderne Made und den Hasen mit Hakennase. Ihre handgeschriebenen Texte entwerfen witzige und absurde Situationen oder erzählen kleine Geschichten. Wie alle Spiele mit den Buchstaben macht auch dies Lust zum Weiterdichten.

GUNDEL MATTENKLOTT

Karl Philipp Moritz: "Neues Abc-Buch" (1790). Illustrationen von Wolf Erlbruch. Nachwort von Heide Hollmer. Antje Kunstmann Verlag, München 2000. 64 S., geb., 24,80 DM.

Katharina Lausche: "T wie Tukan. ABC mit großen und kleinen Tieren". Aufbau Verlag, Berlin 2000. 56 S., geb., 32,- DM. Ab 5 J.

Esther Spinner / Anna Luchs: "Die Amsel heißt Selma". Palazzo Verlag, Zürich 2000. 64 S., geb., 29,80 DM. Ab 5 J.

Nadia Budde: "Trauriger Tiger toastet Tomaten". Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2000. 42 S., geb., 29,80 DM. Für jedes Alter.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

In einer für ein Kinderbuch ungewöhnlich umfangreichen Rezension bespricht Benedikt Erenz das Buch, das er den Lesern kaum genug ans Herz legen kann. ?Hocherfreuliches, ergebnismäßig geradzu Hinreißendes? habe der Illustrator Wolfgang Erlbruch mit Moritz? Büchlein angestellt, gar eine ?völlige Neuschöpfung eines alten Textes mit grafischen Mitteln?. Als Beispiel dafür nennt er Erlbruchs Bild zu ?Pracht und Überfluss?, in dem er eine nach Torten gierende, glubschäugige Figur gezeichnet hat, die den Rezensenten an Grosz denken läßt. Ein ?gebildeter Mensch? hingegen ergötzt sich in einer anderen Zeichnung still an einem Schiffsuntergang. Den größten Gefallen findet Erenz jedoch an der Vielfalt der verwendeten grafischen Techniken. Zahlreiche Papierarten (von Lösch- über Rechenpapier bis hin zu alten Karten) werden hier mit verschiedensten Schriften bedruckt und bemalt. Die grafische Skala reiche von Scherenschnitten über verschiedene Stempelarten, Ölskizzen bis hin zu Kreidezeichnungen auf Tafeln. Dabei gibt es, so Erenz, unendlich viel zu entdecken. Das Buch wimmele von Anspielungen, Zitaten und witzigen Bezügen. Dass Erlbruch dabei in mancher Hinsicht einen Kontrast herstellt zu dem meist eher ernsten, mahnenden Moritz, erscheint dem Rezensenten keineswegs als Makel. Für ihn scheinen sich Moritz und Erlbruch eher auf hinreißende Art zu ergänzen.

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein hinreißendes Welttheater. Ein Kinderbuch und kein Kinderbuch. Ein Buch zum Schreiben- und Lesenlernen. Und zugleich viel mehr als das: ein Beitrag zur praktischen Anthropologie." (Benedikt Erenz, Die Zeit) "Ein wunderschönes Bilder-Poesie-Denk-Buch - nicht nur für Kinder." (KulturSpiegel)