Produktdetails
  • Verlag: Verlag Antje Kunstmann
  • Seitenzahl: 167
  • Deutsch
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 262g
  • ISBN-13: 9783888972218
  • ISBN-10: 3888972213
  • Artikelnr.: 24068947
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.1999

Fischgrätige Dachantennen
Holde Kunstanstrengung: Simon Werles "Abendregen"

Manolis hat wirklich Pech: Im Verlauf einer einzigen Erzählung verliert er seine Mutter und seine Geliebte. Die eine stirbt, die andere verlässt ihn. Allerdings waren beide auch gar nicht richtig da. So schwieg sich die Mutter konsequent über Manolis' Vater aus, die Geliebte wiederum über alles, was jenseits der wenigen Stunden ihres allwöchentlichen Zusammenseins lag. Aber auch wenn diese Claire da war, war sie zugleich weg: Während Manolis mit ihr schlief, hörte sie Musik über ihren Walkman, den sie nie ablegte. Eine demütigende Konstellation, die im Moment größter physischer Nähe die wahre Distanz um so schärfer herausstellt.

Warum gab sich die hübsche Krankenschwester überhaupt dem übergewichtigen, unattraktiven Mann in regelmäßigen Abständen und innerhalb streng gezogener Grenzen hin? Das erklärt sie ihm, als der endgültige Bruch bereits feststeht, in einem jener Psycho-Gespräche, die einst zu den festen Ritualen jeder Beziehung gehörten und jetzt wohl verschwunden sind wie die Wohngemeinschaftsküchenherrlichkeit seligen Angedenkens. Claire mochte an Manolis, sagt sie ihm rückblickend, gerade sein Desinteresse an ihrer Person, weil es ihr genügend Freiraum ließ und das Zusammensein zu einer "Erholung" machte. Nun aber hat er die vereinbarten Grenzen verletzt und sie einen neuen Liebhaber.

Neben Trauerarbeit und Trennungsschmerz muss Manolis überdies noch erleben, dass vor seinem Wohnhaus drei Kastanien gefällt werden; auf all das reagiert er mit einer kleinen Zerstörungsorgie und zwei Faustkämpfen, mit einem Rivalen und einem Hausmeister. Letzterer leert, als Manolis schon zu Boden gegangen ist, einen ganzen Kasten Bier über ihm aus, Flasche für Flasche. Das ist der im Titel genannte Abendregen.

Eine Geschichte von reizvoller Banalität, ein Stoff, aus dem sich viel machen lässt. Simon Werle müht sich darum. Und die Mühe hat ihre Spuren hinterlassen, es ist der Schweiß, der über der Erzählung liegt, vor allem über den mit viel Aufwand gesuchten Bildern. Manchmal stehen sie sich gegenseitig im Weg. So erinnern den Icherzähler die Dachantennen seines Wohnviertels an "abgenagte Gräten, die darauf warten, dass ein endzeitlicher Regen niedergeht, unter dem sie von neuem ein beschuppter, zuckender Fischleib umschließt". Gewagt, gewonnen - und sogleich wieder verspielt durch die Fortsetzung: "Wie der verirrte Rost eines Gartengrills, der vergeblich auf sein wurst- und steakförmiges Bratgut wartet." Die Dachantennen-Fischgeräten-Grillroststangen: eine Kunstanstrengung.

Werle hat für seine Übersetzungen aus dem Französischen den Paul-Celan- und den Johann-Heinrich-Voß-Preis erhalten. Um so merkwürdiger erscheinen die stilistischen Alliterationen, die trockene Begrifflichkeit und ein unglücklicher Hang zu entlegenem, technokratisch-fachwissenschaftlichem Vokabular. Stellatoren und Tokamaks etwa erschließen sich dem Leser nur mit Hilfe eines Fremdwörterlexikons; dabei ist Manolis durchaus kein Kernphysiker, sondern Versicherungsvertreter. Und immer wieder rollt Werle den Felsbrocken zusammengesetzter Metaphern den Berg hoch, bis er wieder herunter- und dem Leser über den Fuß rollt.

Hin und wieder schafft es der Fels aber doch bis auf die Höhe: Fast altmeisterlich ausgearbeitet etwa die Allegorie des Alters, das Maul eines Riesentieres, das den Menschen schon gepackt hält und, bevor es zubeißt, ihn schon mit seinem Speichel umhüllt. Oder die Vorstellung, die Wurzeln der gefällten Kastanien würden "noch zwanzig Jahre weiter wachsen und ein Bild von Stamm und Laub und Wipfel in sich tragen, das Phantom eines Baumes im Wechsel der Jahreszeiten, dessen tausenden winzigen Tracheen sie unbeirrbar Nahrung senden, bis sie irgendwann die Ahnung erreicht, dass das Bild von Stamm, Laub und Wipfel über ihnen zum Trugbild geworden ist". Das ist schön, aber zu selten; meist drängt sich die Selbstdeutungs- und Selbsterhöhungsprosa des Helden in den Vordergrund, der sich, ein letztes Beispiel, allen Ernstes zu den "Adipositas-Personen" zählt. Dafür ist Werles Erzählung, um im Jargon zu bleiben, literarisch ein bisschen leptosom.

MARTIN EBEL

Simon Werle: "Abendregen". Erzählung. Verlag Antje Kunstmann, München 1999. 168 S., geb., 28,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Katharina Döbler stört sich nicht so sehr an der "alten Boy-meets-Girl-Geschichte". Immerhin ist der "boy" hier ein "dicker junger Mann". Unwirsch konstatiert Döbler nur die Bemühungen des Autors, seinen Roman "auf literarisch gehobenes Niveau zu hieven". Da werden Augen beschrieben als ?hochfahrende Trichter? oder es rollt eine ?Welle auf dem Meer einer Finsternis namens Sprache?. Kopfschüttelnd diagnostiziert die Rezensentin "sprachlichen Stelzengang" und würzt ihre Kritik noch mit einer Prise Hohn: Vielleicht sei das ja auch nur "die Rollenprosa eines sprachlich Hilflosen?"

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