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Produktdetails
  • Verlag: Transit Berlin
  • 1999.
  • Seitenzahl: 127
  • Deutsch
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 270g
  • ISBN-13: 9783887471477
  • ISBN-10: 3887471474
  • Artikelnr.: 08254623
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999

Da lacht der alte Pfandleiher
Flaschenpost : Adriano Sofri hält die Stellung / Von Volker Breidecker

Wer in engen Räumen eingezwängt ist, dem öffnen sich beim Blick gegen eine kahle Wand oder auf ein weißes Blatt Papier bisweilen Horizonte, und das Auge gerät zum Einlasstor für einen verlangsamten Fluss der Zeit. Marcel Proust betrieb seine "Recherche" im von der Außenwelt abgedichteten Korkzimmer. Fernand Braudel wurde im deutschen Kriegsgefangenenlager zum Historiker des Mittelmeers und entdeckte darüber die Formel der "langen Dauer". In faschistischer Kerkerhaft ergründete der italienische Marxist Antonio Gramsci die umwälzenden Wirkungen der Langsamkeit. Gramsci, der Leser von Fridtjof Nansens Reisebericht "Im dunklen Eis", verglich seine Situation im Gefängnis mit der passiven Lage des Polarforschers. Zwischen Eisbergen eingekeilt, trieb Nansens Schiff mit dem sinnigen Namen Frum - dem norwegischen Wort für "Vorwärts" - dem unbekannten Ziel entgegen.

Adriano Sofri, 1988 beschuldigt, sechzehn Jahre zuvor den Mord an dem Mailänder Polizeikommissar Calabresi verantwortet zu haben, wurde Anfang 1997 zu 22 Jahren Haft verurteilt. Darum gebeten, der Zeit von 1968 "dreißig Jahre danach" zu gedenken, stellte Sofri die Gegenfrage: "Wie lang dauern dreißig Jahre?" Im Vergleich mit der Dauer des Dreißigjährigen Kriegs oder der beinahe geologischen Zeitspanne zwischen 1948 und 1978 liegt über den seit 1968 verflossenen Jahren ein allzu kurzer Atem: "Man tanzt nur einen Sommer und verbringt die folgenden Sommer damit, immer wieder davon zu erzählen." Über den Justizfall Sofri wurde oft berichtet. Neben dem Pisaner Gefängnisinsassen und ehemaligen Mitbegründer des Linksbundes "Lotta Continua" ist der Essayist, Zeitungskolumnist und Berichterstatter von den neueren europäischen Kriegsschauplätzen in Deutschland nahezu unbekannt geblieben. Immerhin erschien in Enzensbergers "Anderer Bibliothek" unter dem Titel "Der Knoten und der Nagel" vor gut einem Jahr Sofris Kulturgeschichte von Objekten der "linken Hand". Das war im strengen Sinne kulturanthropologisch zu verstehen, ließ aber ein gutes Maß Ironie und einen Hauch von Melancholie erkennen.

Einer Initiative von vierzehn Übersetzern ist jetzt das Erscheinen eines sorgfältig und liebevoll komponierten Bands mit Arbeiten aus den letzten anderthalb Jahrzehnten zu verdanken. Das Spektrum reicht von literarischen Porträts, bisweilen verfasst aus unaufdringlicher Nähe, über Reportagen aus den Krisenregionen Mittelosteuropas, die zum Besten gehören, was darüber geschrieben worden ist, bis zu unbequemen Betrachtungen der Welt aus dem Gefängnis. Dort vertiefte sich der gelernte Philologe in Texte, die jeder kennt, aber kaum einer je gelesen hat, beispielsweise Platons Höhlengleichnis. Die Lektüre bringt Sofri auf den sokratischen Gedanken, dass sich das Gefängnis auch als stillgelegter Beobachtungsposten für Nachforschungen darüber eigne, "wie es um die ,normale' menschliche Gesellschaft bestellt" sei. Die zappelnden Bilder auf der Fernsehwand sind auch nur die Schatten derer, die "provisorisch in der Freiheit leben".

Selbst Romane geraten mitunter zu Gefängnissen ihrer Leser. So unterzieht Sofri Knud Hamsuns "Hunger" und Hitlers Autobiographie einer beunruhigenden Parallellektüre, die an einer Stelle des literarischen Werks ("da lachte der alte Pfandleiher") den möglichen Urtext für eine entscheidende Passage - Hitlers zwanghafte Wut auf das "Lachen der Juden" - im Lebensroman des künftigen Schlächters aufspürt. Die Gefängnisse auch des linken Bewusstseins zerlegt Sofri mit der Schonungslosigkeit dessen, der um die Schraubenlinien der eigenen Biographie weiß. Ein Essay von 1989 weist "Antizionismus" und "Antiimperialismus" die Drehtürbewegung nach, "durch die eine Linke hineingeht und eine Rechte herauskommt". Bereits Sofris Texte, die vor der Anklage und Inhaftierung geschrieben sind, handeln von engen Räumen, und zwei verbundene Leitideen durchziehen sein Buch: das Jahrhundert als Gefängnis und als Palimpsest.

Als Gegenbild schildert Sofri im Porträt von Natalia Ginzburg den literarischen Antrieb zur Verteidigung jener Räume, von denen aus die übrige Welt sich noch frei von den Zugriffen der Geschichte und der Politik betrachten lasse. Aus der Nähe beschreibt er die Zwangslage der Elsa Morante in einer Sterbeklinik als ein Ringen um die Bewahrung menschlicher Würde. In "La Storia", dem großen Roman der Morante, hatte dieser Kampf die Form der Anklage gefunden, gegenüber einem "Skandal, der seit zehntausend Jahren andauert". Wie eine traurige Melodie über die Geschichte auch dieses Jahrhunderts kehrt ein Motiv des Romans gleich an mehreren Stellen von Sofris Buch wieder. "Ist doch ein Spiel, alles nur ein Spiel."

Doch seit dem Erscheinen des Romans im Jahr 1974 hat sich der Schraubstock des Jahrhunderts weiter gedreht, und über das Schicksal von Useppe, den ins Unglück des letzten Weltkriegs geborenen kleinen Helden von "La Storia", wurde derweil schon wieder anderswo entschieden, dort, von wo bereits die erste Jahrhundertkatastrophe ausgegangen war. "In Sarajewo bringen sie Useppe um", überschrieb Sofri den ersten von mehreren Berichten aus der Hölle der belagerten und von Heckenschützen terrorisierten Stadt. Außer von Vergil und Freud auch vom Notizbuch und einer handlichen HI8-Videokamera begleitet, weiß der Zeuge, dass ihn sein Distanzgerät wie Athenes blankes Medusenschild vor dem allzu deutlichen Blick in die Abgründe schützt. Die Möglichkeiten einer Arbeitsweise, die "eine Art Selbstständigkeit im Kleinen" erlaubt, nutzt der Philologe mit der Kamera dafür, Menschen und Dingen "ihre eigene unglaubliche Geschichte" von den Gesichtern abzulesen.

Sofris Texte funkeln von Eigensinn, getragen sind sie von urbaner Beweglichkeit. Ihre Lektüre könnte so manchen konvertierten 68er-Großsprecher vor Scham erröten lassen. Dazu muss er nicht ins Gefängnis gehen, denn dort sitzt er ohnehin längst ein, wie alle übrigen Jahrhundertkinder auch. Das Pisaner Gefängnis war noch weit, da beschloss Sofri seinen Essay über Gramsci, den "Genossen Hiob", mit dem Satz: "Wer sich mit Geduldsspielen und Geduldskünsten auskennt, weiß, dass sie vorzugsweise bei Häftlingen und Mönchen, bei Seeleuten und Frauen anzutreffen sind, bei jenen also, deren Leben einem langsamen, langfristigen Rhythmus folgt: Weben und Knüpfen, Flaschenschiffe, Briefe . . ." Im Gefängnis hat Sofri alles Herzklopfen "vor dem weißen Blatt Papier" verloren. Als "stumme Menge" von unbeschriebenen lebenden Blättern demonstrierten die Frauen von Prishtina für den "Austritt aus einer in dicke Bücher verpackten Geschichte, in denen es schwarz auf weiß geschrieben steht, dass es keinen Ausweg gibt aus dem Dilemma des Kosovo - und dieser Welt". Auch für Sofri bleibt zu hoffen, dass er sich bald wieder in der Lage befände, seine Nahaufnahmen aus dem vergehenden Säkulum als Freigänger fortzusetzen.

Adriano Sofri: "Nahaufnahmen". Essays. Aus dem Italienischen übersetzt von Martina Bartel und anderen. Transit Buchverlag, Berlin 1999. 128 S., geb., 28,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sofri, ehemals Mitglied der linksextremen Bewegung Lotta continua, sitzt nach einem umstrittenen Urteil wegen angeblichen Terrorismus` im Gefängnis. Volker Breidecker verweist in seiner sehr positiven Besprechung von Sofris Essays, wie sehr viele seiner Texte gewissermaßen aus der Perspektive dieses kleinen geschlossenen Raums geschrieben sind und wie sehr sie Sofri paradoxerweise zu Erkenntnis verhilft. Breidecker nennt als Beispiel Sofris Text über Platons "Höhlengleichnis", den er im Gefängnis schrieb - in den bunten Bildern seines Gefängnisfernsehers erkannte er Platons Schatten wieder. Breidecker bewundert aber auch Sofris Reportagen aus dem ehemaligen Jugoslawien, "die zum Besten gehören, was darüber geschrieben worden ist". Auch auf Sofris kritische Auseinandersetzung mit dem linken Antizionismus verweist der Rezensent.

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