Vilnius/Wilna, die Hauptstadt Litauens: im 20. Jahrhundert von Deutschen besetzt, von Polen annektiert, von den Russen angegliedert, vor dem Holocaust als "Jerusalem des Nordens" gefeiert - welcher Ort eignet sich besser, grenzübergreifend über die Zukunft der Erinnerung nachzudenken?
Im Oktober 2000 trafen sich dort die drei Literaturnobelpreisträger Günter Grass, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska sowie der litauische Dichter Tomas Venclova, um über das Trauma der Vertreibung und die Gefahren des Nationalismus, über kulturelle und ethnische Identität, über kindliche Glücksmomente und den Nachhall überlebter Leiden zu sprechen.
Im Oktober 2000 trafen sich dort die drei Literaturnobelpreisträger Günter Grass, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska sowie der litauische Dichter Tomas Venclova, um über das Trauma der Vertreibung und die Gefahren des Nationalismus, über kulturelle und ethnische Identität, über kindliche Glücksmomente und den Nachhall überlebter Leiden zu sprechen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2001Fluch und Gnade
Vier Autoren sprechen über das Erinnern
Ein schwarzer Granitblock markiert die geographische Mitte Europas. Fünfundzwanzig Kilometer südlich liegt Vilnius. Dort trafen sich im Oktober letzten Jahres die drei Literaturnobelpreisträger Günter Grass, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska sowie der litauische Lyriker Tomas Venclova, um über "die Zukunft der Erinnerung" zu sprechen. In einer Stadt, deren Schönheit Milosz zufolge etwas Magisches hat - und in der "es für die Lebenden bequemer wäre, sich daran nicht mehr zu erinnern": daran, daß aus dem "litauischen Jerusalem" unter der deutschen Besatzung ein jüdisches Massengrab wurde, aber auch daran, daß nach 1944 die Litauer von den sowjetischen Truppen deportiert und die Polen nach Westen vertrieben wurden.
Dem Hang zum Bequemen aber steht die Einsicht des ungarischen Schriftstellers György Konrád entgegen: "Erinnern ist menschlich, wir können sagen, das Humane an sich." Mit diesem Zitat verweist Günter Grass auf die Zwiespältigkeit der Fähigkeit, sich erinnern zu können - denn sie scheint "Gnade und Fluch zugleich" zu sein: Fluch, indem sie nicht von uns ablasse, Gnade, indem sie den Tod aufhebe. "Indem man sich an uns erinnern wird, werden wir überleben. Das Vergessen jedoch besiegelt den Tod."
Ihre "Pflichten gegenüber dem Erinnern" (Venclova) haben die vier Schriftsteller ernst genommen. Ihre Worte in Vilnius, die der jetzt erschienene Band "Die Zukunft der Erinnerung" dokumentiert, legen davon Zeugnis ab. (Günter Grass, Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska, Tomas Venclova: "Die Zukunft der Erinnerung". Steidl Verlag, Göttingen 2001. 96 S., geb., 28,- DM.)
sus
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vier Autoren sprechen über das Erinnern
Ein schwarzer Granitblock markiert die geographische Mitte Europas. Fünfundzwanzig Kilometer südlich liegt Vilnius. Dort trafen sich im Oktober letzten Jahres die drei Literaturnobelpreisträger Günter Grass, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska sowie der litauische Lyriker Tomas Venclova, um über "die Zukunft der Erinnerung" zu sprechen. In einer Stadt, deren Schönheit Milosz zufolge etwas Magisches hat - und in der "es für die Lebenden bequemer wäre, sich daran nicht mehr zu erinnern": daran, daß aus dem "litauischen Jerusalem" unter der deutschen Besatzung ein jüdisches Massengrab wurde, aber auch daran, daß nach 1944 die Litauer von den sowjetischen Truppen deportiert und die Polen nach Westen vertrieben wurden.
Dem Hang zum Bequemen aber steht die Einsicht des ungarischen Schriftstellers György Konrád entgegen: "Erinnern ist menschlich, wir können sagen, das Humane an sich." Mit diesem Zitat verweist Günter Grass auf die Zwiespältigkeit der Fähigkeit, sich erinnern zu können - denn sie scheint "Gnade und Fluch zugleich" zu sein: Fluch, indem sie nicht von uns ablasse, Gnade, indem sie den Tod aufhebe. "Indem man sich an uns erinnern wird, werden wir überleben. Das Vergessen jedoch besiegelt den Tod."
Ihre "Pflichten gegenüber dem Erinnern" (Venclova) haben die vier Schriftsteller ernst genommen. Ihre Worte in Vilnius, die der jetzt erschienene Band "Die Zukunft der Erinnerung" dokumentiert, legen davon Zeugnis ab. (Günter Grass, Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska, Tomas Venclova: "Die Zukunft der Erinnerung". Steidl Verlag, Göttingen 2001. 96 S., geb., 28,- DM.)
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ulrich M. Schmid hält den Sammelband der drei Nobelpreisträger Günter Grass, Czeslaw Milosz, Wislawa Szymborska und des litauischen Dichters Tomas Venclova für einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur über verloren gegangene Traditionen. Im Oktober 2000 haben sich die vier Autoren zu einem Gespräch in Vilnius getroffen, informiert der Rezensent, und ihre Reflexionen im vorliegenden Band zusammengetragen. Gerade Vilnius sei dafür der geeignete Ort gewesen, denkt Schmid. Denn diese Stadt hat in ihrer Geschichte sechs Umbenennungen erfahren. Und manch einer sollte angesichts seines Staunens über die barocke Baukunst doch wissen, dass er dort am Grab von hundertausend Juden stehe, referiert der Rezensent den Beitrag von Czeslaw Milosz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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