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1985 wurde Claude Simon mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Von Schriftstellern bewundert, gilt der Vorreiter des Nouveau roman bei den deutschen Lesern als »schwierig«. In ihrem biografi schpoetologischen Essay zeichnet Brigitte Burmeister ein Bild des Meisters der kunstvoll und musikalisch gebauten aber endlos erscheinenden Sätze und rekonstruiert die schillernde französische Literaturszene ab den 50er Jahren.

Produktbeschreibung
1985 wurde Claude Simon mit dem Nobelpreis für Literatur
ausgezeichnet. Von Schriftstellern bewundert,
gilt der Vorreiter des Nouveau roman bei den deutschen
Lesern als »schwierig«. In ihrem biografi schpoetologischen
Essay zeichnet Brigitte Burmeister
ein Bild des Meisters der kunstvoll und musikalisch
gebauten aber endlos erscheinenden Sätze und rekonstruiert
die schillernde französische Literaturszene
ab den 50er Jahren.
Autorenporträt
Brigitte Burmeister, geboren 1940 in Posen, studierte Romanistik in Leipzig und arbeitete ab 1967 an der Akademie der Wissenschaften in Berlin, wo sie in Philosophie promovierte und den Forschungsschwerpunkt Nouveau roman betreute. Seit 1983 arbeitet sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2010

Die papierne Kavallerie
Brigitte Burmeister erforscht das Werk Claude Simons

Auf die Frage, warum er schreibe, gab der vor fünf Jahren verstorbene Claude Simon einmal die paradox anmutende Antwort: "Um zu versuchen, mich an das zu erinnern, was sich ereignet hat während der Zeit, da ich schrieb." Es ist der Kernsatz einer Poetik, die den Prozess des Erinnerns selbst ins Zentrum stellt, und in die Gegenwart dieses Erinnerns im Moment des Schreibens wird hineingezogen, wer Simon liest. Es sind nicht Ereignisse und Geschichten, die diese Sogkraft entfalten, sondern die sprachliche Arbeit der Vergegenwärtigung, die die aufsteigenden Bilder und Eindrücke zu Texten formt: in einem durch Ähnlichkeiten oder auch Kontraste aller Art ausgelösten Spiel der Übergänge, das verschiedene Orte, Zeiten und Räume aufeinanderstoßen lässt.

Und doch wird man bei Simon, sieht man einmal von den Büchern der siebziger Jahre ab, gleichzeitig auch in eine Welt gezogen, die erst durch die Beziehung zwischen den einzelnen Büchern ihre Gestalt gewinnt. Unübersehbar sind es biographische Elemente, die immer wiederkehren, am deutlichsten die Ereignisse von 1940, als Simons Kavallerieregiment von den nach Frankreich vorstoßenden Deutschen fast vollständig vernichtet wird. Aber rund um diese Ereignisse tritt auch eine ganze Familiengeschichte hervor, die zwar von Anfang an variiert wird, aber in wiedererkennbaren Konstellationen begegnet und im Fall der mütterlichen Linie sogar zurückverfolgt wird bis zu jenem General der Revolutionsarmee, dem ein Textregister in den "Georgica" gewidmet ist.

So gebannt man auch ist durch die Kraft und sinnliche Präsenz von Simons Sprache, die nur das Hier und Jetzt der Lektüre braucht: Man kann doch nicht anders, als auch diesen historischen Spuren nachzugehen, die entsprechenden Wiederaufnahmen und Abwandlungen über die Romane hinweg zu verfolgen: von den frühesten Büchern, die Simon später nicht mehr gelten lassen wollte, bis zum letzten schmalen Roman, in dem noch einmal die Kindheit in Perpignan hervortritt und die verwitwete, schon von ihrer Krankheit gezeichnete Mutter. Es ist gar nicht leicht, beiden Momenten in Simons Texten gerecht zu werden: den Verfahrensweisen, die ihren Gegenstand beim Schreiben erst erzeugen, und dem Eigensinn bestimmter Motive, in denen auch die Umrisse dieser Lebens- und Familiengeschichten aufscheinen können. Rolf Vollmanns vor einigen Jahren erschienene "Streifzüge durch die Romanlandschaften" Simons rückten Motive vor Augen, ließen dabei aber die für Simon typischen Verfahren der Schnitte, Überblendungen und Montagen links liegen; und dass Vollmann dabei auch noch seine eigenen Impressionen locker hineinmengte, machte die Sache fast schon ärgerlich.

Brigitte Burmeisters nun erschienene "Erkundungen der Sprachwelt Claude Simons" sind dagegen eine geglückte Hinführung zu diesem Autor, der 1985 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde: für Leser, die Simon bereits gut kennen, genauso wie für solche, die noch unschlüssig sind, welchen Lektürepfad sie unter den Büchern Simons einschlagen wollen. Burmeister weiß die Entwicklung dieses Werks zu beschreiben, die Verschiebung von Akzentsetzungen über die fünfzig Jahre und fast zwanzig Bücher hinweg, die Filiationen der biographisch-historischen Motive und die Konstruktionsprinzipien dieses Schreibens. Und sie tut es ohne alle akademische Angestrengtheit, mit überlegten Charakterisierungen, die sich einer intimen Kenntnis von Simons Werk verdanken, und auch mit Sinn dafür, dieses Werk und seinen Autor selbst angemessen zu Wort kommen zu lassen.

Viel ist in diesem schmalen und schnörkellos geschriebenen Band untergebracht, von Hinweisen auf sprachliche Details bis zur konzisen Beschreibung von Simons Rolle in der Gruppierung des "Nouveau Roman" oder Maurice Merleau-Pontys Annäherung an Simons Texte in philosophischer Perspektive. Und ob Nahaufnahme der Sprachgestalt oder Erhellung der literarischen Zeitbezüge - sie fügen sich zu einer willkommenen Einladung, die Bücher Claude Simons aufzuschlagen, wieder oder auch zum ersten Mal.

HELMUT MAYER

Brigitte Burmeister: "Die Sinne und der Sinn". Erkundungen der Sprachwelt Claude Simons. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010. 205 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.07.2010

Die Schrecksekunde
Brigitte Burmeisters Hommage an Claude Simon
Der im Juli 2005 verstorbene französische Autor Claude Simon, Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1985, gehörte wie die Dänin Inger Christensen zu den großen Künstlergestalten des vorigen Jahrhunderts, die das Gros ihrer Leser schon zu Lebzeiten in Deutschland hatten, und zwar in beiden deutschen Staaten. Das ist im Falle Simons zu einem guten Teil das Verdienst Brigitte Burmeisters, die in den siebziger Jahren als Mitarbeiterin der Ostberliner Akademie der Wissenschaften für den Forschungsschwerpunkt Nouveau Roman zuständig war und mit ihren Gutachten dafür sorgte, dass Simons Romane in Lizenzausgaben der westdeutschen Übersetzungen in der DDR erschienen.
Heute verbindet sich ihr Name mit einem erzählerischen und übersetzerischen Werk, dessen Glanzstück der 1987 erschienene Roman „Anders oder Der Aufenthalt in der Fremde“ ist. Das Buch stellte eine fiktionsgesättigte Ostberliner Lebenswelt dar, deren Mangel an Authentizität und Evidenz den materialistisch verengten Realitätsbestimmungen der DDR-Kulturbürokratie Hohn sprach. Nun legt Brigitte Burmeister eine angenehm lesbare, stilsichere Werkbiographie über Claude Simon vor, die alle Vorzüge einer zitatenreichen, chronologisch fortschreitenden Gesamtdarstellung mit denen einer subtilen form- und sprachanalytischen Untersuchung verbindet.
So knapp wie klar zeigt die Autorin auf, wie der in 1913 Tananarive auf Madagaskar geborene und auf dem südfranzösischen Landsitz seiner Familie und in Paris lebende Schriftsteller seit den frühen 1950er Jahren ins Fadenkreuz der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um den Strukturalismus der Gruppe „Tel Quel“, die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys und den Nouveau Roman samt seinen Reprisen rückte, ohne je zu den Wortführern zu gehören. 
Ein unterhaltsamer Abstecher gilt dem von Claude Simon beharrlich gepflegten künstlerischen Gegensatz zu Sartre. Den Exponenten des literarischen Engagements bezichtigte er der Verbreitung eines unausstehlichen Klimas stalinistischen Terrors. Sartre seinerseits hatte in einem Interview mit der kommunistischen Studentenzeitschrift Clarté die törichte Frage erörtert, ob Simon gegenüber Marcel Proust „Neues“ bringe, und den Unsinn komplettiert, indem er die Frage verneinte.
Proust geistert durch das Buch Brigitte Burmeisters. Seine Bedeutung als Stifterfigur der Gedächtniskunst Simons allerdings bleibt ein ungeschriebenes Kapitel. Der Romanist Rainer Warning hat in einem Aufsatz gezeigt, wie Simon an jene Partien in Prousts „Recherche“ anknüpfte, die das Konzept der unwillkürlichen Erinnerung unterlaufen. Prousts Vorstellung vom Gedächtnis als einem „nächtlichen Schacht“ voller geschichteter und im Verschriftlichungsprozess verräumlichter Erinnerungsbilder ersetzt Simon durch bruchstückhaft diskontinuierliche Bildfolgen, die eine chaotische Innerlichkeit spiegeln, die traumatische Präsenz des Erinnerten. In einem Interview sprach Simon von der „sensoriellen Architektur“ der eigenen Gedächtnisräume als Entsprechung zum Fragmentarischen, Diskontinuierlichen der Gefühle.
Diese „sensorielle Architektur“ der großen Romanmontagen Simons untersucht Brigitte Burmeister in ihren Kapiteln über den künstlerischen Umbruch Ende der fünfziger Jahre. Die rückblickende, chronologisch verknüpfende Erzählweise der frühen Romane seit „Das Seil“ (1947) macht einem Analogieprinzip Platz, das in gewaltigen Erzählblöcken Bilder aus Geschichte und Gegenwart der Kriege ineinander schiebt: das Schlachten und Geschlachtetwerden auf den historischen Kriegsschauplätzen, den Tod des Vaters im Ersten Weltkrieg, den Alptraum der eigenen Erlebnisse im Zweiten. Von Roman zu Roman wälzt sich das Kriegsgefährt in immer denselben Kämpfen rückwärts, durch die Zeit der Napoleonischen Feldzüge, der Erbfolge- und Glaubenskriege, der Barbareneinfällen in Frankreich bis hin zur Schlacht bei Pharsalos.
Das Gemeinsame ist die emotionale Aufladung der Erlebnisbruchstücke, die Plötzlichkeit, Verlorenheit und hilflose Preisgegebenheit der Männer inmitten von Verwesung, Hunger, Kälte, Nacht, Durst, Schlamm, ihre Sehnsucht nach dem fernen Zuhause und das Elend der zurückbleibenden, den Männern langsam nachsterbenden Frauen.
In einem erhellenden Kapitel unterzieht die Autorin die Kriegsbilder Simons, Stendhals und Tolstois einer vergleichenden Lektüre: während Stendhal und Tolstois ihre Deutungen des Kriegsgeschehens mit nachträglich erworbenem Wissen unterfüttern, das die Geschichten als verständlich erscheinen lässt, scheitern bei Simon alle aufklärerischen Hoffnungen und Sinnzuweisungen im absurden Gewaltkreislauf, der das Zerstörungswerk der Zeit zum Vorschein bringt.
Ein Höhepunkt des Buchs ist im Kapitel über den 1989 erschienenen Roman „L‘Acacia“ (1989, dt. „Die Akazie“, 1991), der den Geschichtszyklus abschließt, die Freilegung des inneren Verweisungsreichtums im fragmentarischen Erzähluniversum Simons. In Anknüpfung an den Simon-Experten Ralph Sarkonak, der die einzelnen Bausteine noch im hintersten Werkwinkel entdeckte, liest Brigitte Burmeister diesen Roman, in dem Simon scheinbar unmittelbar auf seine Lebens- und Familiengeschichte zurückgreift, als „Summa“ eines Autors, der von sich sagte, er knüpfe im jeweils neuen Buch stets an den offen gebliebenen Rest aus dem vorangegangenen an.
Der Schreibakt, so kann man das verstehen, zielt auf die Erfassung der Totale eines Geschehens, aber diese Totale wird immer neu verfehlt. Als unerreichbarer Fluchtpunkt schwebt das Ganze über der Summe seiner Teile. Die formale Offenheit in Simons Werk, die locker collagierende Binnenstruktur der Texte mit ihren stauenden Partizipialkonstruktionen, Abbrüchen und Neueinsätzen, Rissen und Fugen lassen sich als Signale dieser Unvollständigkeit lesen, als Spuren zu einem fehlenden Rest, der in die Zukunft aufgeschobenen Ganzheit.
Dem Oszillieren seines Schreibens zwischen Fragment und Totalität ist Claude Simon bis zuletzt treu geblieben. Sein „Jardin des Plantes“ (1997) ist ein erzähltes Mosaik. Der letzte Roman „Die Trambahn“ (2001), ist eine Rückkehr an die Schauplätze der in Südfrankreich verbrachten Kindheit, ein großes zweiteiliges Lebensbild, das die metaphorischen Signale des Werdens, des Lebensbeginns und der Lebensausfahrt in dem Maße mit denen des Sterbens, Endes, Todes vertauscht, in dem die Erzählung nach einer Kehrtwende in der Mitte auf ihr Ziel zusteuert und in einer Fotografie der toten Eltern zum Stillstand kommt.
Brigitte Burmeisters großer Essay ist ein Bekenntnis zum so detailgenauen wie monumentalen Sprachwerk Claude Simons. Dessen vitaler Kern ist das Augenblickserlebnis roher Schreckenswirklichkeit und menschlicher Sprachlosigkeit ist, jenes „Verschwinden jeder Idee, jedes Begriffs“ im Bruchteil einer Sekunde, als im Mai 1940 ein französischer Kavallerieoberst mit dem Befehl, die deutschen Panzer aufzuhalten, in ein Waldstück an der Flandrischen Front einreitet. Der Oberst wird vom Pferd geschossen, sein Regiment vernichtet – bis auf einen Reiter, bis auf Claude Simon, der gefangen genommen und in ein Lager an der Elbe transportiert wird.
SIBYLLE CRAMER
BRIGITTE BURMEISTER: Die Sinne und der Sinn. Erkundungen der Sprachwelt Claude Simons. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010. 208 Seiten, 19, 90 Euro.
Sartre stellte in einem Artikel
die törichte Frage, ob Claude Simon
gegenüber Proust „Neues“ bringe
Der Roman „Die Trambahn“
steuert unbeirrbar auf sein Ziel zu:
die Fotografie der toten Eltern
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Sibylle Cramer von Brigitte Burmeisters Werkbiografie des französischen Autors Claude Simon. Bereits als Mitarbeiterin der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften habe sich Burmeister, für die Veröffentlichung von Simon in der DDR stark gemacht, berichtet die Rezensentin, die auch darauf hinweist, dass Simon ähnlich wie die dänische Dichterin Inger Christensen sein größtes Publikum in Deutschland hatten. Sehr gründlich und sehr subtil findet sie Simons literarisches Universum analysiert und seinen "inneren Verweisungsreichtum" freigelegt. So liest Cramer sehr erhellend über Simons an Proust geschulter Gedächtniskunst, über die Kriegsbilder in seinen Romanen oder seine Auseinandersetzung mit Sartre und lobt am Ende ihrer recht akademischen Rezension diesen "großen Essay" als eine Simons "detailgenauem" Werk offenbar sehr angemessen.

© Perlentaucher Medien GmbH