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In der Nacht, bevor Danzig von den Russen zerstört wird, geht Direktor Winterhaus zum leeren Straßenbahndepot. In Erinnerung an die Zeiten, als er noch ein gewöhnlicher Straßenbahnfahrer war, rumpelt er im letzten, nicht requirierten Waggon vom Friedensschloss zum Weichselbahnhof, von Brösen nach Ohra und Emmaus, bis die ersten Granaten fallen und nicht nur seiner Karriere ein Ende machen, sondern auch der Stadt, die nie wieder sein würde, was sie gewesen war. Pawel Huelle, seit seiner Kindheit auf den Wegen der verschwundenen deutschen und der neuen polnischen Stadt unterwegs, erzählt von der…mehr

Produktbeschreibung
In der Nacht, bevor Danzig von den Russen zerstört wird, geht Direktor Winterhaus zum leeren Straßenbahndepot. In Erinnerung an die Zeiten, als er noch ein gewöhnlicher Straßenbahnfahrer war, rumpelt er im letzten, nicht requirierten Waggon vom Friedensschloss zum Weichselbahnhof, von Brösen nach Ohra und Emmaus, bis die ersten Granaten fallen und nicht nur seiner Karriere ein Ende machen, sondern auch der Stadt, die nie wieder sein würde, was sie gewesen war.
Pawel Huelle, seit seiner Kindheit auf den Wegen der verschwundenen deutschen und der neuen polnischen Stadt unterwegs, erzählt von der Rückkehr des Herrn Winterhaus nach 40 Jahren. In der alten Wohnung soll die Münzsammlung des Vaters versteckt sein. Aber da ist auch Luisa, die Tochter des letzten Scherenschleifers von Danzig, die mit ihrem Vater auf der im Krieg zerstörten Speicherinsel wohnt und ein Geheimnis hütet. Oder Jazz, der Werftarbeiter, der Saxophon spielt und auf seinem Motorrad über die abgerissenen Brücken "fliegt", um die Liebe eines Mädchens zu gewinnen. Die Atmosphäre der pommerschen und kaschubischen Umgebung, die kräftig gezeichneten Figuren, die verführerische Melancholie machen dieses Buch zu einem Lesevergnügen nicht nur für Nostalgiker.
Autorenporträt
Pawel Huelle, 1957 in Gdansk geboren, arbeitete als Journalist für Solidarnosc. Mitte der neunziger Jahre war er Direktor des Danziger Fernsehens. Er gilt als einer der wichtigsten Autoren seiner Generation.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000

Der Geruch der Backsteine
Pawel Huelles Danziger Geschichten / Von Stephan Wackwitz

Die späte Blütezeit, der Untergang und das Fortleben der Stadt Danzig sind eine gemeinsame Ursprungserzählung der deutschen wie der polnischen Nachkriegsliteratur. Günter Grass hatte ihren elegisch-skurrilen Ton mit seiner "Danziger Trilogie" vorgegeben. In den neunziger Jahren griffen Stefan Chwin und Pawel Huelle die Tonlage des in Polen verehrten, ja geliebten deutschen Nobelpreisträgers auf und schrieben sie auf ihre Weise fort. Daß deutsche und polnische Dichter diese Stadt und ihre Geschichte lieben, ist Element einer gemeinsamen Nachkriegskultur unserer Länder.

Schon in Huelles auf Deutsch vorliegendem Roman "Weiser Dawidek" ist die Stadt auf dieselbe Weise die verschwiegene Hauptfigur, wie die Schweizer Republik oder die Stadt München verschwiegene Hauptfiguren in Kellers "Grünem Heinrich" sind. Und die Danziger Novellen, die unter dem Titel der für Huelles Buch besonders charakteristischen Novelle "Silberregen" jetzt in einer sehr natürlich klingenden deutschen Übertragung erschienen sind, knüpfen in Machart, Personal, Tonlage und Sentiment an die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts an, die für den behutsamen, sympathisch konservativen Zug der polnischen Literatur typisch zu sein scheint. Im letzten Satz des Stormschen "Schimmelreiters" verschwindet der Erzähler aus dem Blick "beim goldensten Sonnenlichte, das über einer weiten Verwüstung aufgegangen war". Der Satz könnte als Motto über diesen sieben wundervoll altmodischen Erzählungen stehen.

Modernisierungsverlierer bevölkern sie, Menschen, über die die Vernichtungswellen der Okkupation, des Krieges und des sozialistischen Aufbaus hinweggegangen sind und an denen trotzdem etwas von der vormodernen Welt bewahrt ist. Sie spielen in einer nicht völlig durchrationalisierten Welt, in den Zwischenräumen und -zeiten am Rand der Stadt und der Geschichte, auf der Danziger Speicherinsel, in übel beleumundeten Abrißvierteln, in einem Dorf, dessen Bewohner fast alle abtransportiert worden sind, im amphibischen Übergangsreich der Flußschiffer auf Mottlau und Weichsel, zwischen Krieg und Nachkrieg. "Ein reiner Zufall hatte die vier aus dem Schlamm des Gedächtnisses zutage gefördert", heißt es über das Personal einer der schönsten Geschichten, "als ich vor einigen Tagen am Kanal entlangging, sah ich, wie ein Bulldozer die letzten Ruinen auf der Speicherinsel zermalmte. Und anstatt mich zu freuen, daß die Backsteinauswüchse und verstümmelten Glieder im Herzen der Stadt endlich aufhörten, ihren Spuk zu treiben, spürte ich ein schmerzliches Bedauern. Denn der Scherenschleifer, die gute Luisa, Lucjan und Tante Ida erschienen in meinen Gedanken nur für einen Augenblick, um gleich darauf, zusammen mit den letzten Wolken des Ziegelstaubs der Hanse, wieder zu verschwinden."

Es spukt überhaupt viel in diesen Erzählungen. Ein menonitischer Frommer, der von den Nazis erschossen worden ist, besucht nachts seine Kirche und studiert die heiligen Bücher auf der Suche nach dem "Fehler", der von der Gemeinde begangen worden sein muß. "Und wenn dem so war, dann war die ganze Welt zugrunde gerichtet, dann gab es keine Hoffnung mehr, und das, was in der Schrift von der Ankunft des Herrn geschrieben stand, angekündigt durch Drangsal und Zeichen, mußte nicht in Erfüllung gehen, denn wie hätte dies eintreffen, wie hätte dies geschehen sollen, da man die Ungerechten nicht mehr von den Gerechten scheiden konnte?"

Für Glaube, Hoffnung, Liebe muß in Huelles Erzählungen, im Sonnenlicht "über der weiten Verwüstung", die Erinnerung einstehen. Sie ist für diesen Schriftsteller ein vor allem sinnliches Vermögen. Nirgends sonst in der Literatur als bei Huelle erfährt man, daß der Staub der durch Bomben verbrannten oder durch Abrißbirnen zermahlenen gotischen Backsteinkirchen einen bestimmten Geruch hat, den "Jakub erst nach einiger Zeit, nachdem er wie ein Käfer in den Schluchten der ausgebrannten Straßen gekreist war, wahrnahm". Der Geruch verbrannter Backsteingotik "lag über den Ruinen der Lager am Hafen, den Kirchen und Häusern, er biß in die Nase, drang unter die Kleidung, und wenn er sich auf dem schmelzenden Schnee und in den Haaren absetzte, färbte er sie mit dem rötlichen Schimmer schwelender Brände". Man wird diesen Geruch, auch wenn man nur über ihn gelesen hat, so wenig mehr los wie die eigene Vergangenheit. Oder wo hat man je gelesen, daß die Suppe im Konzentrationslager einen ganz bestimmten Geschmack gehabt haben muß, "schal und doch so charakteristisch"? Man weigert sich einen Moment lang, darüber nachzudenken. Und doch muß es ja so gewesen sein.

Fast alle Personen in Huelles Danziger Geschichten scheinen Parallelgestalten oder Zwillinge im neunzehnten Jahrhundert zu haben. Jene "gute Luisa", die dem zwölfjährigen Erzähler der gleichnamigen Geschichte auf der Danziger Speicherinsel begegnet und ihm zusammen mit seinem Cousin und dessen Freundin Ida einen Begriff von einem Leben mitgibt, das sie irgendwie durch die Zeit der Besatzung gerettet haben und das dem jungen Mann, wie der Leser spürt, durch die Ödnis der Volksrepublik als ein Horizont der Utopie erhalten geblieben ist - sie ist ein Gespenst der Lisei Tendler aus Storms "Pole Poppenspäler". Die schöne Ida, die schon vierzig ist und nie heiraten wollte ("in einem Seidenkleid und einem goldenen Band im Haar kam sie durch den schmalen, langen Flur und führte uns zwischen abblätternden Wänden, Gasherden und Zählern hindurch in ihr Zimmer. Ihre schmalen, zarten Fesseln, deren Linie sich in der übermütigen Form der Pumps fortsetzte, ihre Taille, die Hüften, die Schlüsselbeine, zwar verdeckt, doch durch den luftigen roten Stoff unterstrichen, ihr Gesicht, in dem die byzantinischen Augenbrauen mit der klassischen griechischen Nase konkurrierten"), ist, wenn man einen Augenblick lang nicht genau hinsieht, Kellers Judith, eine Traumfrau, die, wie jemand gesagt hat, nur ein Mann erfinden konnte, der nie glücklich verliebt war.

Derart sind die Figuren, Emotionen und Konstellationen des bürgerlichen Realismus in Huelles Geschichten glücklich an die Schwelle des einundzwanzigsten Jahrhunderts versetzt worden: der symbolisch überhöhte Einzelfall; der sehnsüchtige und traurige Konflikt zwischen poetischen Außenseitern und bürgerlichem Erfolg; das Erzählen aus der Sicht von Kindern, in deren Beziehungen sich die erwachsene Welt spiegelt; die sterbenden alten Männer, in deren letzten Reflexionen und Monologen eine bessere Vergangenheit in goldenem Licht strahlt. Die symbolischen Gegenstände schließlich, die direkt aus der Novellentheorie des neunzehnten Jahrhunderts zu stammen scheinen: eine in einem längst ausrangierten Küchenschrank wiedergefundene Goldmünze aus dem sechzehnten Jahrhundert oder ein hundskopfgroßer Bernsteinbrocken, der wie das Leben eines Erzählers dieser großartigen, verspätet klassischen Novellen in den Wassern von Mottlau und Weichsel versinkt. Und wenn sich trotz solcher post- oder prämodernen Verfahrensweisen der Eindruck des epigonal Konstruierten auf keiner Seite einstellt, dann wahrscheinlich deshalb nicht, weil man bei so vielen Begegnungen, Gedanken, Menschen und Lebensumständen in unserem östlichen Nachbarland auf den Gedanken kommen kann, daß das neunzehnte Jahrhundert in seiner Hochherzigkeit, Förmlichkeit und Farbigkeit dortzulande noch lebendiger ist als irgendwo sonst auf der Welt.

Pawel Huelle: "Silberregen". Danziger Erzählungen. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Rowohlt Verlag, Berlin 2000. 269 S., geb., 38,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Entdecken kann man einen Autor wohl nur einmal. Aber jedes Mal, wenn man ein neues Buch von ihm in die Hand nimmt, hofft man darauf, diese Erfahrung noch einmal zu machen. Für Thomas Grob ist Huelles Debütroman "Weiser Dawidek" (auf Deutsch 1990) eine solche Entdeckung gewesen - aber die Hoffnung beim jüngsten Erzählungsband auf Ähnliches zu stoßen, erwies sich als trügerisch. Paradoxerweise, meint Grob, gerade weil alles so ähnlich ist. Wieder gebe Danzig die historische Kulisse ab, würden bevorzugt kindliche oder Außenseiterperspektiven gewählt; nur dass alles in einen Nebel "poetisierender Nostalgie" gehüllt sei, der bei allem Sinn fürs Pittoreske jede Sache und jede Geschichte gleich aussehen lasse: "rührend, aber eben auch unglaubwürdig", schreibt Grob. Ihm ist die Grundstimmung zu versöhnlich (lauter unangepasste, unkonventionelle Protagonisten, denen alles leicht von der Hand zu gehen scheint), die Opferbilanz zu ausgeglichen (kein deutsches Opfer ohne die Nennung eines sowjetischen). Für Grob entwirft Huelle "eher biedermeierliche" Genrebilder, die mit ihrer Sehnsucht nach den alten Zeiten darauf verweisen, dass die Generation des ehemaligen Solidarnocz-Kämpfers in der neuen Zeit nicht angekommen ist.

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