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Die Massenmotorisierung nach 1945 führte zu tiefgreifenden Veränderungen der Städte: Straßendurchbrüche, Umgehungsstraßen, Tangenten und Stadtautobahnen sollten die Fahrt beschleunigen. Zugleich aber zerschnitten sie die Quartiere und machten den Alltag für Fußgänger beschwerlich. Zwar vollzog sich die Abkehr von den stadtplanerischen Idealen der autogerechten Stadt schon vor 40, 50 Jahren, doch erst heute wird ernsthaft über eine Neuverteilung des Stadtraums nachgedacht. Der Umbau der Infrastruktur hat auch eine kulturelle Dimension, ist Weiterarbeit an einer Ideenwelt. Dass Straßen, Tunnel…mehr

Produktbeschreibung
Die Massenmotorisierung nach 1945 führte zu tiefgreifenden Veränderungen der Städte: Straßendurchbrüche, Umgehungsstraßen, Tangenten und Stadtautobahnen sollten die Fahrt beschleunigen. Zugleich aber zerschnitten sie die Quartiere und machten den Alltag für Fußgänger beschwerlich. Zwar vollzog sich die Abkehr von den stadtplanerischen Idealen der autogerechten Stadt schon vor 40, 50 Jahren, doch erst heute wird ernsthaft über eine Neuverteilung des Stadtraums nachgedacht. Der Umbau der Infrastruktur hat auch eine kulturelle Dimension, ist Weiterarbeit an einer Ideenwelt. Dass Straßen, Tunnel und Brücken um 1960 mehr waren als bloße Mittel zur Bewältigung von Quantitäten, zeigt ein Blick auf den großen Fundus an Bildpostkarten, die bis in die Achtzigerjahre von diesen Ingenieurbauten produziert wurden. Es sind Fotos eines »way of life«, der sich leichter überwinden ließe, wenn es gelänge, an seine Stelle eine neue, ähnlich suggestive Erzählung zu setzen - und das eine oder andere bauliche Erbe jener Epoche als Teil einer Kulturlandschaft zu begreifen, die es zu erhalten und in den neuen Alltag zu integrieren lohnt.
Autorenporträt
Ulrich Brinkmann, 1970 in Paderborn geboren, lebt in Berlin. Architekturstudium an der Universität (heute TU) Dortmund mit Abschluss Diplom-Ingenieur, seit 2000 Redakteur der "Bauwelt". 2015 Villa-Serpentara-Stipendiat der Berliner Akademie der Künste in Olevano Romano, 2022 Casa-Baldi-Stipendium der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo. Bei DOM publishers erschien zuletzt "Matera moderna" über die Nachkriegsmoderne im Süden Italiens sowie 2020, als erster Teil dieser Recherche, "Achtung vor dem Blumenkübel! Die Fußgängerzone als Element des Städtebaus". Brinkmann ist mobil mit Fahrrad, BVG und BahnCard 50.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2023

Zur Feier des Autos

Schlachtfelder der Nachkriegsmoderne: Ulrich Brinkmann legt eine Sammlung von Postkarten deutscher Städte vor. Sie zeigen, wie der urbane Raum zwischen 1949 bis 1989 für den Verkehr zugerichtet wurde.

Auf Entwürfen für Bauwettbewerbe nach 1945 lösen sich Gebäude und Straßen immer mehr in kybernetische Regelkreise und abstrakte Diagramme auf. Die Räume und Volumina sind durch den Steuerungsglauben der Planer vollständig in die Funktionale gerutscht und geben nichts von der kommenden Realität wieder. Gegen diesen Anschauungsverlust hat der Berliner Architekturredakteur Ulrich Brinkmann eine ebenso unscheinbare wie sensationelle Bilderwelt entdeckt, die schon früh zeigte, wie damals die Welt von morgen aussah.

Mit über 200 Postkarten deutscher Nachkriegsstädte in West und Ost entfaltet Brinkmann ein Crescendo des Schreckens der autogerechten Stadt. Diese ästhetische Lumpensammlerei trägt weitgehend Dokumente ohne Autor zusammen, die fast an Heinrich Wölfflins Stilkunde einer "Kunstgeschichte ohne Namen" heranreicht. Kleinverlage, Souvenirhändler, Hobbyfotografen und Kommunalverwaltungen stellten Ansichtskarten von ihren erneuerten Städten her, die wie Reiseandenken versendet wurden: aufgerissene Stadteingänge mit Schnellstraßen, Durchbrüche in historischen Altstädten, Riesenkreuzungen mit Tunnel- und Brückensystemen.

Auffällig an den frisch planierten Stadtglatzen und Kaltluftschneisen ist ihre Leere. Nur wenige Autos und Passanten stören die Ruhe dieser Freiflächen, die als "Verkehrserwartungsland" (Brinkmann) der Massenmotorisierung entgegenträumen. Mit Vorliebe wählten die Fotografen ihre Perspektiven von der Mitte der Fahrbahnen aus, weil sie noch nicht Gefahr liefen, von Blechlawinen überrollt zu werden. Und fröhlich strahlen die ersten VW-Käfer, Ford-"Badewannen" und Opel-Kadetts in allen Bonbonfarben - im Gegensatz zu den schwarz-weiß-silbernen Standard-Karosserien heute, die mit der Tristesse von Kondolenz-Flotten durch die Städte ziehen.

Nach Brinkmanns köstlichem Postkarten-Buch 2020 über die Fußgängerzonen im Wiederaufbau ("Achtung vor dem Blumenkübel") zeigt er nun die bittere Koevolution der dazugehörigen Verkehrswege. Straßen versteht er nicht bloß als Funktionselemente, sondern als gesellschaftliche Repräsentationsräume. Und Postkarten, einst ein Leitmedium des touristischen Blicks, adeln die ästhetisch unterkomplexen Autoschneisen und Abstandsflächen zu Sehenswürdigkeiten.

Schon das erste Kapitel "Marktplatz wird Parkplatz" über die Stadtplätze in Frankfurt am Main, Ingolstadt, Waren, Dortmund, Hildesheim sowie im ostdeutschen Wismar oder Brandenburg schildert, wie sorgfältig choreographiert die Autos zwischen den reparierten Altstadtfassaden parkten. Die guten Stuben der Städte dienten offenbar nicht bloß als Provisorien für spätere Hoch- und Tiefgaragen, sondern als Stadtkronen und Zeremonialräume zur Feier des Autos als schönster Errungenschaft der Aufbaujahre.

Ebenso stolz zeigen die Karten, mit welch rabiaten Durchbrüchen die Infrastrukturen der Peripherie ins Zentrum drängten. Das ergab zuweilen noch halbwegs fassbare Stadträume wie die Lange Straße in Rostock, die Kampstraße in Dortmund oder die Berliner Straße in Frankfurt am Main, die von Fassadenwänden und Gehsteigen eingefasst sind. Doch bei der Ost-West-Straße in Hamburg oder der Leningrader (heute Petersburger) Straße in Dresden wurde jeder Bezug von Haus und Straße aufgegeben. Die Autoschneisen berühren nur noch zufällig ihre Randbebauung, Orientierung bieten allein die Fahrbahnmarkierungen und Wegweiser. Raumfressend kommen schräg gestellte Parkbuchten mit eigenen Rangierspuren und Grünstreifen in der Fahrbahnmitte hinzu, die die Gehwege verdrängen und jede Eigenräumlichkeit zerstören.

Brinkmanns Sammlung lässt sich wie ein Stammbaum der urbanen Degeneration lesen. Erst wachsen die linearen Kreuzungen zu den flächigen Kreisverkehren, dann geht es mit Überführungen und Straßentrögen in die Vertikale, und schließlich werden die Passanten in den B-Ebenen der Republik wie Ratten in der Kanalisation vertunnelt - etwa an der Frankfurter Hauptwache, der Hannoveraner "Passerelle" oder im Bonner "Loch".

Selbst bei brutalen Kahlschlägen von Ulm bis Berlin plädiert Brinkmann mit etwas modischer konservatorischer Empfindsamkeit für sorgfältigen Umgang mit diesen Schlachtfeldern der Nachkriegsmoderne. Leider fehlen den meisten Karten die Jahresangaben. Durchweg falsch bleibt sein Narrativ, erst der Krieg habe die Tabula rasa für diesen radikalen Stadtumbau geschaffen; in Wahrheit gab es die größten Stadtzerstörungen im Neuaufbau nach 1945. Und hilfreich wäre ein Exkurs gewesen, dass dieser Wahnsinn bis heute Methode hat. Denn weiterhin gelten die "Richtlinien für die Anlage von Straßen", die mit expansiven Regelquerschnitten, Kurvenradien und Neigungswinkeln eine in Paragraphen gegossene Anleitung zur Stadtzerstörung sind. Dabei hatte alles, wie die Ansichtskarten zeigen, so schön und friedlich angefangen. MICHAEL MÖNNINGER

Ulrich Brinkmann: "Vorsicht auf dem Wendehammer". Die Straße als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in der DDR und der Bundesrepublik 1949 bis 1989.

DOM publishers, Berlin 2023. 288 S., Abb., br., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Peter Richter freut sich über Ulrich Brinkmanns Buch, das Ansichtskarten von Straßenbauwerken und Verkehr aus Deutschland-Ost und -West vergleichend nebeneinanderstellt und erkennen lässt, wie ähnlich sich die beiden deutschen Staaten in dieser Hinsicht sahen. Richter kann oft nur an den Automodellen oder anhand der Reklame feststellen, um welchen Staat es sich handelt. Der Autor liefert dazu sprachlich prägnant gefasste, spannende Beobachtungen und Bildanalysen, Architekturgeschichtliches und Phänomenologisches, so Richter entzückt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2023

Verkehrsberuhigt euch
Neue Bücher zeigen, wie das Auto unsere Städte und Häuser geprägt hat.
Der Blick auf die Straßen wiederum zeigt, dass es damit noch lange nicht vorbei ist.
Schnee ist natürlich auch eine Sache, die sehr verkehrsberuhigend wirken kann, wie sich eben wieder im habituell heckgetriebenen München gezeigt hat. Immerhin ist das eine Stadt, die ihren Besuchern als Wahrzeichen eben nicht als Erstes die Türme der Frauenkirche präsentiert, sondern den Slogan „Freude am Fahren“ an diesem Hochhaus in Freimann – jedenfalls denen, die von Norden her reinfahren, was aber zuletzt, wie gesagt, etwas schwieriger war. Offensichtlich ist Schnee da sogar effizienter als alle Poller, Bodenschwellen und Blumenkübel. Verglichen damit ist Schnee aber auch ästhetisch endlich einmal ein Argument fürs Nichtfahren, dem sich – abgesehen von dem eher beschwörenden Wort Winterdienst – wenig entgegenhalten lässt. Ähnlich verhält es sich sonst nur mit Büchern.
Denn wirklich gute Bücher kann man schlecht beim Fahren goutieren, schon gar nicht solche mit Bildern, selbst wenn es darin um das Fahren geht. In diesem Jahr sind nun gleich zwei der schönsten Bücher erschienen, die es zum Einfluss der Automobilität auf Städtebau und Architektur bislang gibt. Beide sind bei aller Gelehrsamkeit so ein Vergnügen, dass man von Freude am Blättern sprechen kann.
Das eine stammt von dem Architekten und Bauwelt-Redakteur Ulrich Brinkmann und heißt „Vorsicht auf dem Wendehammer!“ Untertitel: „Die Straße als Element des Städtebaus“, eigentlicher Inhalt: „Ansichtspostkarten in der DDR und Bundesrepublik 1949–1989“.
Ansichtskarten, die in erster Linie Straßenbauwerke und -verkehr abbilden, haben verlässlich den Schauwert des Bizarren. Das weiß man spätestens seit den Sammelbänden „Boring Postcards“, mit denen der britische Fotograf Martin Parr vor Jahrzehnten schon Bestseller-Erfolge feiern konnte. Seine „langweiligen Postkarten“ aus aller Welt, vor allem aber den USA, stammten meist aus den Fünfziger- bis Siebzigerjahren und zeigten sehr oft Highways, Kreuzungen, Autobahnbrücken. Was daran langweilig erscheint, muss einmal spektakulär gewirkt haben: Ausdruck eines Infrastrukturstolzes, der heute fremd geworden ist, buchstäblich nothing to write home about. Eher sieht man heute Fotos davon, wenn in den Medien von der Einsturzgefahr der mittlerweile maroden Brücke die Rede ist.
Aber bei Parr blieb das alles unkommentiert. Brinkmann hingegen nimmt entsprechende Postkarten aus den beiden deutschen Staaten zum Anlass, diesen Infrastrukturstolz im Kontext von Wiederaufbau und Systemkonkurrenz zu analysieren. Das Ergebnis: Nie sahen sich Castrop-Rauxel und Dresden, Dortmund und Rostock ähnlicher. Oft kann man Westen und Osten nur an den Automodellen unterscheiden oder an der Reklame, und oft sind diese Dinge ja ohnehin die interessantesten auf dem Bild: die Merkwürdigkeiten neben den Sehenswürdigkeiten – und je zeitloser die einen, desto mehr Gegenwart und Zukunftszuversicht liegt in den anderen.
Ein Hobbyfotograf würde warten, bis das mittelalterliche Schwabentor in Freiburg ungestört vor ihm liegt, der Postkartenfotograf hat gewartet, bis knallrot die Straßenbahn durch das Gemäuer rollt. Im Osten ist fast immer ein so ausgewogener Mix aus Pkw, Bussen und, auffällig wichtig: Müttern mit Kinderwagen auf den Bildern, dass man es mit Arrangements zu tun zu haben scheint.
Brinkmann liefert laufend solche Beobachtungen. Sein Text zu den Bildern bietet viel auf einmal: ikonologische Bildanalyse der Postkarteninszenierungen, Architekturgeschichte des Nachkriegswiederaufbaus in den jeweiligen Innenstadtlagen, schließlich Phänomenologisches, etwa unter der Überschrift „Marktplatz wird Parkplatz“. Denn sprachlich ist das auch prägnant; für die Bilder der Schnellstraßen, auf denen man nur sehr vereinzelt mal ein Auto sieht und niemals einen Stau, findet er den schönen Begriff „Verkehrserwartungsland“.
Fast ein bisschen schade ist es da, dass der Titel „Vorsicht auf dem Wendehammer!“ mehr nach purem Spott klingt als bei Brinkmanns Vorgänger. Der hieß „Achtung vor dem Blumenkübel – die Fußgängerzone als Element des Städtebaus“, und im Doppelsinn des Wortes Achtung als Warnung wie aber auch als Anerkennung war besser ausgedrückt, wie ambivalent diese Postkartenmotive sind. Die funktionalistische Neuaufteilung der Stadt in Straßen nur für Kfz und solche nur für Fußgänger, die heute als wesentlicher Grund für Ödnis unserer Städte beklagt wird: Sie war offensichtlich einmal das, was man sehen und zeigen und mit Briefmarke hintendrauf herumschicken wollte.
Um eine „Würdigung der kreativen Kraft des Autos“, und zwar „ohne den Zorn, der die kritische Literatur über die Auswirkungen des Autos auf die gebaute Umwelt kennzeichnete, zu oft pauschal beschimpft als ,autogerechte Stadt‘“, geht es auch dem anderen Buch, Erik Wegerhoffs „Automobil und Architektur“.
Kaum zu glauben, dass der Band auf seiner Habilitationsschrift an der ETH Zürich beruht. So elegant, überraschend und frei von akademischem Jargon kurvt Wegerhoff durch die Architekturgeschichte, dass man beim Lesen eher das Gefühl hat, einer Spritztour in einem Cabriolet beizuwohnen. (Zum Beispiel in einem Alfa Romeo 2600 Spider, wie er auf dem Titelbild seines Buches thront, nämlich am Ende der geschwungenen Auffahrt aufs Dach des Zürcher Hochhauses zur Palme.)
Das geht schon damit los, dass er allenfalls nebenher auf Tankstellen, Parkhäuser und andere Bauten fürs Automobil zu sprechen kommt, dafür gleich zum Auftakt aber auf: Bahnhöfe. Heute wird die Bahn in Deutschland oft als Synonym für Entschleunigung durch Verspätung wahrgenommen, aber im 19. Jahrhundert machte das maschinengetriebene Tempo noch Angst. Es ist eine einleuchtende These, dass die Kopfbahnhöfe oft antiken Tempeln, romanischen Burgen oder gotischen Domen glichen, um die Prellböcke am Ende der Gleise ästhetisch zu überhöhen: „Massive Architekturen verhinderten das Vordringen der technischen Bewegung in die Stadt“, sie setzten der Geschwindigkeit „ein entschiedenes Ende in vertrauten architektonischen Formen“. Aber manchmal, und damit setzt nun Wegerhoffs Buch ein, manchmal donnerte dann eben doch eine nicht zu bremsende Lok durch die Wand ins stuckverschnörkelte Bahnhofsrestaurant. Nach dieser ersten „Kollision von Statik und Dynamik“ wird die Mobilität, speziell die Automobilität, dann ein ganzes Jahrhundert lang in einen „kreativen Konflikt“ mit den Immobilien treten. Wegerhoff nimmt seine Leser mit auf die ersten Autobahnen als Bauten zur Normalisierung der Hochgeschwindigkeit und in die frühen Häuser Le Corbusiers, wo sich die Bewegung von der Garage aus als „promenade architecturale“ fortsetzt – allerdings noch zu Fuß.
Im Zürcher Hochhaus zur Palme wird man 1961 dann wie gesagt schon über eine Ringelrampe mit dem Cabrio bis aufs Dach fahren. In der Zwischenzeit wird Erich Mendelsohn „die Eisenenergie“ des Großstadtverkehrs materialästhetisch beim Wort nehmen und das Haus des Mosse-Verlags mit horizontalen Bändern dynamisieren, um es der Wahrnehmung aus dem Auto anpassen.
Aber nach dieser Phase der Ästhetisierung von Tempo und Beschleunigung dann die Schubumkehr: Wegerhoff beschreibt die Jahrzehnte seit den Sechzigern als gewaltiges Abbremsen, nun mit Oberflächen, Materialien und Formen der Entschleunigung, selbst Straßenbelägen, die auf Verlangsamung zielen: Poller, Speed Bumps, Betonblumenkübel. Das ästhetische Niveau ist oft genug beklagt worden. Wo aber für die Sprache ein ähnlich ästhetischer Sinn herrscht wie für das Spiel von Gas und Kupplung, muss auch ein Begriff wie „ruhender Verkehr“ auf Entzücken stoßen. Wegerhoff endet nur eben nicht mit der großen Wiederentdeckung des Fußgängers, etwa auf der Architekturbiennale von 1980. Sondern in der Therme Vals, vom Schweizer Baumeister Peter Zumthor als Zen-Tempel der Selbstversenkung ans Ende einer windungsreichen Alpenstraße gebaut, die allerdings erst einmal hochfahren muss, wer hinwill. Dabei fällt ein bisschen unter den Tisch, dass es am Abreisetag auch wieder runtergeht, zurück in den Verkehrsalltag.
Wegerhoff begründet seine Hommage als „Abschied“: „Die Beziehung von Architektur und Automobil ist am Ende und damit reif für die Geschichte.“ Das klingt so rund, wie das klingen muss in einem Buch, das schließlich ein Ende braucht. Auch Brinkmann stellt den Autoverkehr als Atavismus hin, um von hinten draufzuschauen. Beide betonen ein Bekenntnis zur „Postautomobilität“. Allerdings ist das ein Begriff, der im Moment vielleicht eher das Bild von Postautos evoziert, die durch die neue Lieferökonomie nun zusätzlich die Straßen bevölkern, wo sie meist in zweiter Reihe halten müssen. Von einer Zeit nach der Automobilität kann man mit Blick auf die Straßen zurzeit nicht wirklich reden. Es ist eine politische, nicht zuletzt klimapolitische Idealvorstellung, die hier als Tatsache hingestellt wird.
Aber das beißt sich nicht nur mit dem Augenschein, sondern auch mit den Zahlen: Sowohl die der Zulassungen als auch die der Fahrschüler steigen. Der Zustand von Deutscher Bahn und öffentlichem Nahverkehr – die Berliner Verkehrsbetriebe etwa müssen wegen Personalmangels schon regelmäßig Fahrten ausfallen lassen – lässt das Auto vielen heute offenbar wieder alternativlos erscheinen. Von einer Beruhigung des Verkehrs ist unter diesen Umständen mehr zu hören als zu sehen. Bauliche Maßnahmen gegen den Autoverkehr führen bei den betroffenen Anwohnern regelmäßig eher zu Erregung. Auch in den ausländischen Städten, die gern als Vorbild für ein neues Zeitalter der Autofreiheit präsentiert werden, ist es beim genauen Hinsehen komplizierter. Im Schachbrettraster von Eixample in Barcelona, wo jede zweite Straße für den Durchgangsverkehr gesperrt wurde, muss man es auf den jeweils dazwischenliegenden Pisten dafür erst einmal schaffen, nicht überfahren zu werden. In den Metropolen der sogenannten Schwellenländer wächst der Verkehr ohnehin allenfalls einer Beruhigung durch Vollstau entgegen.
Politiker, die die Fußgängerverzonung deutscher Innenstädte wieder vorantreiben wollten, wurden zuletzt auch deutlich abgestraft, in Berlin von den Wählern, in Hannover vom Koalitionspartner. Hannover sollte beim Wiederaufbau nach dem Krieg zu einem Inbegriff der „autogerechten Stadt“ werden; dass der grüne Oberbürgermeister jetzt aus dem Zentrum ausdrücklich einen Inbegriff der autoungerechten Stadt machen wollte, war der mitregierenden SPD eine zu drastische Auslegung des Wortes Verkehrswende. Dieser oft etwas apodiktisch verwendete Begriff wiederum beschreibt zwar gut das Gefühl, dass es „so nicht mehr weitergehen kann“, lässt aber offen, wie weit zurück genau gegangen werden soll. Etwas von guter, alter Zeit schwingt nun einmal immer mit, wenn vom Wenden, also von Umkehr die Rede ist: Sehnsucht nach einer Welt, die noch nicht so verkorkst war. Genau das wäre aber etwas, das die wachsende Zahl der Autofahrer heute auch mit Blick auf die vielen betörend freien Fahrbahnen in Ulrich Brinkmanns Buch empfinden könnte.
Selbst Wegerhoffs Studie hat nostalgisches Potenzial, wo sie an die ingenieurtechnische Lösungswut erinnert. Denn auch wenn die Schneeberge von München Momente so stillen Einhaltens gebracht haben mögen wie sonst nur der Bergschnee um die Therme von Vals: Irgendwann wollen die Leute dann halt doch wieder los, manche aus Freude am Fahren, die meisten eher aus Notwendigkeit. In Zukunft vermutlich dann nur noch häufiger allradgetrieben.
PETER RICHTER
Nie sahen sich
Castrop-Rauxel und
Dresden ähnlicher
Sehnsucht nach
einer Welt, die noch
nicht so verkorkst war
„Verkehrserwartungsland“: Postkarte von der Leningrader Straße in Dresden aus den 1970ern. Heute heißt sie Petersburger Straße und ist deutlich voller. Hinter der langen Hochhausscheibe rechts im Bild liegt, wie sollte es anders sein, eine fast genauso breite Fußgängerzone.
Foto: Brueck & Sohn, Meissen
Ulrich Brinkmann: Vorsicht auf dem Wendehammer! Die Straße als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in der DDR und Bundesrepublik 1949-1989. DOM publishers, Berlin 2023, 288 Seiten. 28 Euro
Erik Wegerhoff: Automobil und Architektur. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023, 240 Seiten. 32 Euro.
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