Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 5,90 €
Produktdetails
  • Kaleidogramme 22
  • Verlag: Kulturverlag Kadmos
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 143
  • Erscheinungstermin: Oktober 2008
  • Deutsch
  • Abmessung: 190mm x 126mm x 14mm
  • Gewicht: 217g
  • ISBN-13: 9783865990327
  • ISBN-10: 3865990320
  • Artikelnr.: 22497777
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2008

Die zugeflaggte Erwartung

Catrin Kersten ist ein glänzendes Buch über die Freundschaft und implizit über die Liebe gelungen. Mit dem Besteck Niklas Luhmanns spürt die Autorin dem Rätsel menschlicher Beziehung nach.

Wie über die Freundschaft reden? Zum Beispiel so: durch eine Spurensuche des Themas bei Niklas Luhmann. Der Unwahrscheinlichkeit von Freundschaft im Leben entspricht die Unwahrscheinlichkeit des Freundschaftsthemas im Werk des Systemtheoretikers. Zwar hat Luhmann der Liebe ein großartiges Buch gewidmet ("Liebe als Passion"), nicht aber der Freundschaft. Das liegt vorderhand daran, dass Liebe als Codierung von Intimität etwas Eindeutiges, Funktionsspezifisches hat (hier weiß zumindest der Theoretiker, wo er dran ist), während Freundschaft ein zu diffuses Phänomen zu sein scheint, um ihm in der funktional differenzierten Gesellschaft, wie Luhmann sie beschreibt, einen fest umrissenen Ort zuweisen zu können.

Die Siegener Literaturwissenschaftlerin Catrin Kersten stellt das alles fest, um dann aber doch über das ganze Werk Luhmanns verstreut Hinweise zur Freundschaft aufzuspüren. Das tut sie mit ihrem Buch "Orte der Freundschaft" auf eine ungemein inspirierende Art, einfach deshalb, weil sie beständig Bezüge herstellt zwischen Luhmanns Freundschaftsideen und der alteuropäischen Freundschaftssemantik, wie sie uns bei Autoren wie Cicero, Montaigne, Plutarch, Kracauer entgegentritt. Am Ende kommt Catrin Kersten denn auch zu dem Ergebnis, dass Freundschaft im Werk Luhmanns sehr wohl einen theoretischen Ort gefunden habe, und zwar gerade in jener Ortlosigkeit, die schon bei den klassischen Freundschaftsautoren hervorgehoben wird: "Die Semantik der Freundschaft", so Kersten, "erweist sich für Luhmann als unverzichtbares Repertoire und ergiebige Fundgrube - und die Tatsache, dass ihr nicht in einer abgeschlossenen Gesamtheit ein fester Platz etwa in Form eines systemtheoretischen Konzepts, einer kohärenten ,Definition' der Freundschaft zugewiesen wird, sondern sie vielmehr in einzelnen Bruchstücken an mehreren, ganz unterschiedlichen Orten in Luhmanns Theorie auftaucht, spiegelt letzten Endes jene ,Ortlosigkeit' wider, die Silvia Bovenschen der Freundschaft selbst zuschreibt: ,Ihr theoretischer Ort ist ebenso wenig gesichert wie ihr sozialer, denn sie verträgt weder sachliche noch räumliche Festlegungen.'"

Es liegt an dieser schweren Fassbarkeit des Freundschaftsbegriffs, dass er auch bei Catrin Kersten immer wieder Merkmale der Liebessemantik annimmt, dass Liebe und Freundschaft bei ihr nicht durchweg trennscharf vorkommen - wie auch, wo doch Liebe schwer vorstellbar ist, die sich nicht auch als Freundschaft begriffe? Wie lange mag es gutgehen zwischen Liebenden, die nicht auch Freunde wären? Tatsächlich könnte man umgekehrt - also genau anders, als es die Art der Thematisierung bei Luhmann nahelegt - Liebe gegenüber Freundschaft als das funktional unzuverlässigere Phänomen beschreiben. Stabile Erwartungen lassen sich eher an eine Liebe knüpfen, die die Freundschaft kooptiert, als an eine solche, die sich von Freundschaft partout absetzen möchte. Luhmann - versteht man Catrin Kersten richtig - hat bei Licht betrachtet Intimität nie losgelöst von Freundschaft gedacht und fand, so möchte man annehmen, gerade deshalb jenen klar geschnittenen Code, wie er ihn in "Liebe als Passion" funktionsspezifisch entfaltet.

Catrin Kerstens dichte Abhandlung wählt den kühlen Zugriff auf das Phänomen des heißen Herzens. Der Autorin gelingt eine reiche Phänomenologie der Freundschaft. Am Ende ertappt sich der Leser dabei, wie es ihm ganz unsentimental in den Kopf kommt: Ein Leben lohnt um der Freundschaft willen - um der Liebe willen sowieso. Ist das nicht sehr viel für ein theoretisches Werk, wenn es mit leichter Hand zu dieser Einsicht führen kann - zu einer Einsicht, die man von Stund an nicht mehr verlieren möchte, die man sich nicht mehr verschütten lassen möchte von allem sonstigen?

Die Autorin schält ihr Thema derart genau aus dem Fluss der Dinge heraus, dass alle Schablonen zusammenbrechen. Begriffe wie Selbstbestimmung, Individualität oder Authentizität, die im Diskurs der Liebe so sicher sind wie das Amen in der Kirche, werden hier einfach links liegengelassen. Nicht dass sie negiert würden, aber sie verlieren an Gewicht und Erklärungskraft gegenüber dieser so ganz anderen Beschreibung von Intimität, die Catrin Kersten vornimmt. Bei ihrer Beschreibung geht es konsequent darum, Intimität von ihrer Unwahrscheinlichkeit her sichtbar zu machen, und das heißt: von ihrer Schwäche her. Und ist es bei einer starken Frau, bei einem starken Mann nicht tatsächlich immer ein Moment der Schwäche, das den Ausschlag fürs Hingerissensein gibt?

Warum nur ist das so? Weil Schwäche die ganze menschliche Natur ausmacht, sosehr sie sich auch wappnet und panzert, ist man niemals so sehr bei sich selbst als in der Erfahrung der Schwäche eines anderen, die sich zeigt und nicht verbirgt. Emmanuel Levinas hat seine gesamte Antlitz-Philosophie auf diese Erfahrung gebaut. Und Catrin Kersten schlägt aus ihr ganz eigene Funken des Hingerissenseins, wenn sie mit Luhmann Intimität als eine Form des Vorgriffs, Vertrauen als Problem der riskanten Vorleistung schildert.

Die Unwahrscheinlichkeit von Intimität - einer Beziehung, die ihre ganze Stärke aus der Schwäche bezieht - tritt paradoxerweise besonders in der Phase ihrer Anbahnung hervor, in jener Phase, in der auch alles noch ganz anders kommen kann. Catrin Kersten entwirft eine Phänomenologie des ersten Schritts: "Das schwierige und mit Risiko behaftete Anbahnen einer Freundschaftsbeziehung im Sinne der Konstitution eines gemeinsamen Sozialsystems erfordert also - ganz wie Vertrauen in Luhmanns Konzeption - die Vorgängigkeit der sich nur auf ungenügende Information stützenden Bereitschaft, sich auf die Beziehung einzulassen - aber dies in der Art und Weise eines ,Als-ob', das heißt die Freundschaft kann nur dann anlaufen, wenn man so tut, als ob genug Information zur Verfügung stünde, um das Gegenüber tatsächlich als Freund zu sehen."

Dass man im einen Fall mangels "ausreichender" Information zurückschreckt, im anderen Fall aber bei derselben defizitären Informationslage die Beziehung wagt - ebendarin liegt das Rätsel der Liebe, die das "Als-ob" nicht etwa als Simulation, sondern als Erfüllung begreift, faktisch gerade in ihrer Kontrafaktizität. "Denn nur so, das heißt nur dann, wenn das Gegenüber als Freund wahrgenommen wird (und dies auf Gegenseitigkeit beruht), kann es sich als Freund und kann sich die Freundschaft bewähren, kann der Freund versuchen, der ihm zugeflaggten Erwartung, sich der Freundschaft gemäß zu verhalten, gerecht zu werden." Es ist also durchweg eine Konstruktion der Schwäche, die hier die Wucht, die Stärke von Freundschaft, von Liebe, von Nahbeziehung ausmacht. Sobald dieser Status der Schwäche aufgehoben werden soll, kippt die ganze Konstruktion. Das ist, was Catrin Kersten unter dem Stichwort der "Inkommunikabilität" abhandelt: Wer sich über Gebühr des anderen vergewissern möchte, setzt die Beziehung aufs Spiel, um die es ihm geht. Eine starke Beziehung ist nur in der Schwäche zu haben.

Und das heißt nichts anderes als dies: Sie ist nur zu haben als unbedingtes Achtungsverhältnis. Um das zu illustrieren, hat die Autorin ein Filmbeispiel gewählt: "Das Meer in mir", jenen anrührenden Film Alejandro Amenábars, der die Geschichte von Ramón Sampedro erzählt; seit 27 Jahren vom Hals ab querschnittsgelähmt, kämpft dieser Mann vor Gericht und in den Medien für das Recht, sich mit Hilfe eines anderen - eines unbedingten Freundes - das Leben nehmen zu können. Gesucht wird "ein Freund, der nicht an Götter glaube, sondern an den Freund", wie es in einem Gedicht Ramóns heißt. Gesucht wird ein Freund, der den Freundschaftsdienst der Tötung leistet. Die für Ramón einzig akzeptable Lösung seines Konflikts - der Selbstmord mit der Hilfe einer anderen Person - kann, so führt Catrin Kersten aus, nur im Rahmen seiner Freundschaften gefunden werden. Nur die Freundschaft ist hinreichend beweglich, um quer zu den funktional spezialisierten Sozialsystemen den Einzelfall zu sehen: "Erst durch die Anpassungsfähigkeit, die sich aus der Freiheit ergibt, jeweils eigene Voraussetzungen zu definieren, lässt sich eine - nur für diesen Einzelfall geltende - Konkretisierung und Form finden, die die jeweilige einzigartige Freundschaft annehmen kann: Ramón betont immer wieder, nur für sich selbst und nicht auch für andere Querschnittsgelähmte sprechen zu wollen - andere Menschen mit anderen Wünschen und Sehnsüchten können andere, ihre individuellen Konditionen setzen."

Vom Extrembeispiel her wird so noch einmal erläutert, was die Intensivform von Sozialität verlangt: Luhmanns Freundschaftsmodell des Alter Ego nicht bloß als Metapher zu nehmen, sondern als Lebensform. Skrupulös wendet Catrin Kersten dabei Montaignes Vorstellung einer "nahtlosen Verschmelzung zweier Seelen" zu einer einzigen ab, in welcher die neue Einheit zu bestehen hätte, und zwar unter Verzicht auf das jeweils Eigene zugunsten des ausschließlich Gemeinsamen. Eine solche Vorstellung sei gerade nicht jene Luhmanns. Dieser halte es eher mit Siegfried Kracauers Reformulierung des Topos der einen Seele, wie sie in folgendem Kracauer-Zitat zum Ausdruck komme: "Aus zweien wird eins, aber nicht im Sinn einer Verschmelzung, in der die Teile noch unverändert bewahrt sind - sie vereinigen sich vielmehr wie zwei Webmuster, die zu einem dritten neuen verknüpft werden, das sie aufnimmt und fortsetzt, ohne ihnen die mindeste Gewalt anzutun."

Catrin Kersten ist ein glänzendes Buch über die Freundschaft und implizit über die Liebe gelungen. Ein ermutigendes Beispiel dafür, dass auch akademische Abhandlungen, wenn sie nicht methodologischen Schutt anhäufen, von existentiellem Belang sein können.

CHRISTIAN GEYER.

Catrin Kersten: "Orte der Freundschaft". Niklas Luhmann und "Das Meer in mir". Kulturverlag Kadmos, Berlin 2008. 143 S., geb., 16,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das soll eine akademische Abhandlung sein? Christian Geyer traut seinen Augen kaum. Vor lauter Glanz versteht sich und vor dem existentiellen Belang, den die Arbeit von Catrin Kersten ausstrahlt. Sich ausgerechnet beim Systemtheoretiker Niklas Luhmann auf die Suche nach dem Thema der Freundschaft zu machen, findet Geyer schon erstaunlich genug. Dass die Autorin dabei Bezüge aufdeckt zur alteuropäischen Freundschaftssemantik bei Cicero, Montaigne, Kracauer u. a., dass sie schließlich die Ortlosigkeit als theoretischen Ort der Freundschaft bei Luhmann konstatiert und darüberhinaus immer wieder von einer "reichen Phänomenologie der Freundschaft" leichterhand die Grenze zur Liebessemantik überschreitet, verschlägt Geyer fast den Atem. Derart bleibend erscheinen ihm die dadurch vermittelten Einsichten. Und derart plausibel kommt ihm Kerstens Ansatz vor, Intimität "von ihrer Schwäche her" sichtbar zu machen.

© Perlentaucher Medien GmbH