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Überlebende der Ghettos und Lager fanden sich im Sommer 1944 in der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission zusammen. Sie zeichneten Erinnerungen auf, begannen mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der jüdischen Katastrophe und publizierten sie in einer Schriftenreihe. Erstmals erscheint in deutscher Sprache eine Auswahl von 12 Texten, die zwischen 1944 und 1947 entstanden und damals auf Polnisch oder Jiddisch erschienen sind: authentische Zeugnisse von einzigartiger Kraft.

Produktbeschreibung
Überlebende der Ghettos und Lager fanden sich im Sommer 1944 in der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission zusammen. Sie zeichneten Erinnerungen auf, begannen mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der jüdischen Katastrophe und publizierten sie in einer Schriftenreihe. Erstmals erscheint in deutscher Sprache eine Auswahl von 12 Texten, die zwischen 1944 und 1947 entstanden und damals auf Polnisch oder Jiddisch erschienen sind: authentische Zeugnisse von einzigartiger Kraft.
Autorenporträt
Wolfgang Benz, geboren 1941, ist Mitgründer und Mitherausgeber der Dachauer Hefte und war von 1969 bis 1990 Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München. Er ist Prof. em. der Technischen Universität Berlin; Wolfgang Benz leitete bis März 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. 1992 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2014

Berichte
aus der Hölle
Noch während des Kriegs sammelte eine Kommission
Aussagen von Überlebenden aus den befreiten KZs
VON HANS HOLZHAIDER
Lublin war einst eines der Zentren jüdischer Gelehrsamkeit in Europa. Das Grab des Rabbi Jaakov Jizchak Horowitz auf dem jüdischen Friedhof in Lublin war ein Wallfahrtsort für gläubige Juden, und die 1930 eingeweihte Jeschiwa war damals die größte Talmudschule der Welt.
  Aber unter der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten wurde Lublin zum Zentrum des größten Massenmordes der Geschichte. Von hier aus steuerte der SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik die „Aktion Reinhardt“, die systematische Ermordung der Juden und Roma im besetzten Polen und der Ukraine. Zwischen Dezember 1941 und November 1943 wurden in den Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka und in einigen anderen Lagern 1,7 bis zwei Millionen Menschen getötet.
  Am 23. Juli 1944 wurde Lublin von der Roten Armee befreit. Unmittelbar danach begannen jüdische Intellektuelle, die den Holocaust auf zum Teil abenteuerliche Weise überlebt hatten, Zeugenaussagen und andere Beweise für den Massenmord zu sammeln und zu veröffentlichen. Sie gründeten die „Zentrale Jüdische Historische Kommission“, die am 29. August 1944 erstmals zusammentrat. Im März 1945 wurde die Kommission nach Łódź und 1947 nach Warschau verlegt, wo sie schließlich im Żydowski Instytut Historyszny, dem Jüdischen Historischen Institut, aufging.
  In den drei Jahren ihres Bestehens führten rund einhundert Mitarbeiter mehr als 7000 Interviews mit Überlebenden der Vernichtungsaktionen. Noch im Kriegsjahr 1945 erschien eine erste Dokumentation mit 126 Zeugenaussagen. Bis 1947 wurden 39 Titel veröffentlicht, teils auf Polnisch, teils auf Jiddisch. Nur zwei dieser Publikationen waren bisher in deutscher Sprache zugänglich: Die berühmte Lieder- und Gedichtesammlung „Es brennt“ von Mordechai Gebirtig und der Bericht von Leon Weliczker, der als Angehöriger eines jüdischen Sonderkommandos an der Beseitigung der Spuren von Massenverbrechen im Gebiet von Lemberg mitwirken musste („Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto“, Berlin 1958).
  Der Historiker Filip Friedman, der Leiter der Historikerkommission, berichtete später, wie Weliczker ihm seine Aufzeichnungen überbrachte: „Am folgenden Tag meldete sich bei mir ein hochgewachsener Jüngling, in Lumpen gekleidet, halb barfuß, mit der erdfahlen Gesichtsfarbe eines Bunkerinsassen. Voll Stolz zeigte er mir seinen Schatz – Notizen über seinen Aufenthalt im Lwower Ghetto, im Janowskalager und in der Todesbrigade. ,Das ist alles, was ich gerettet habe‘, sagte er ganz einfach, ,ich habe es gehütet wie meinen Augapfel‘.“
  So oder ähnlich gelangten die meisten der Augenzeugenberichte in die Hände der jüdischen Historikerkommission. Der in Warschau geborene Berek Freiberg war 14 Jahre alt, als er im Mai 1942 in das Vernichtungslager Sobibór eingeliefert wurde. Wer seinen Bericht liest, kann nicht fassen, wie dieser Junge das unsägliche Martyrium von Misshandlungen, ständiger Todesangst, täglicher, stündlicher Konfrontation mit den bestialischsten Grausamkeiten 18 Monate lang überleben konnte. Im Juli 1945 schilderte der 17-Jährige seine Erlebnisse einer Mitarbeiterin der Kommission. Er hatte nichts von dem vergessen, was er in diesen 18 Monaten erlebt hatte. Es war, als hätte sich jedes grausame Detail in seine Erinnerung eingebrannt.
  Abraham Jacob Krzepicki wurde im August 1942 aus dem Warschauer Getto nach Treblinka deportiert. Nach nur 18 Tagen gelang ihm die Flucht, und er kehrte nach Warschau zurück. Rachel Auerbach, eine Mitarbeiterin des Historikers Emanuel Ringelblum, dessen Untergrundarchiv nach dem Krieg unter den Trümmern des Gettos wiedergefunden wurde, schrieb Krzepickis Aussage nieder – es ist der erste Augenzeugenbericht über die Vernichtungsaktion in Treblinka. Krzepicki wurde im April 1943 beim Aufstand im Warschauer Getto getötet. Rachel Auerbach wurde selbst 1944 Mitglied der Historischen Kommission und berichtete über eine Inspektionsreise nach Treblinka im November 1945 mit einer Gruppe von Überlebenden, einem Staatsanwalt, einem Untersuchungsrichter und einigen Kommunalpolitikern. Sie beschreibt nicht nur ihren „unerträglichen Schmerz“ und ihre Wut über das, was die Deutschen den Juden dort angetan haben, sondern auch ihre Erschütterung über die Spuren eines Treibens, dass erst nach dem Ende des Mordens stattfand: „Alle Arten von Plünderern und Marodeuren kommen in Scharen mit Schaufeln in der Hand hierher. Sie graben, suchen und plündern; sie sieben den Sand, ziehen Teile von halbverfaulten Leichen und verstreuten Knochen aus der Erde in der Hoffnung, dass sie wenigstens auf eine Münze oder einen Goldzahn stoßen.“
  Der Warschauer Fischhändler Ber Ryczywol schilderte Bluma Wasser, einer Mitarbeiterin der Historischen Kommission, seine unglaubliche Odyssee, als er versuchte, sich als „Goj“, als Nicht-Jude, auszugeben und sich so auf ständiger Wanderschaft durch das besetzte Polen vor den deutschen Judenfängern zu retten. „Ich sehe ihn noch heute an meinem Arbeitstisch sitzen, den alten, erschöpften Juden mit den jungen Augen“, schrieb Bluma Wasser in ihrem Vorwort zu dem Bericht. „Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie er immer wieder die Henker täuschen und sein Leben herauswinden konnte. In dem Bericht ist nichts Pose (...) Ber Ryczywol redet nicht einfach in die Welt hinaus, er sagt, dass das Leben ihn gelehrt habe, seine Gedanken und Worte abzuwägen. Er will nicht als Held erscheinen.“
  Die 36 Texte, die von der Jüdischen Historischen Kommission veröffentlicht wurden, sind nur ein Teil des Materials, das die Wissenschaftler in den drei Jahren von 1944 bis 1947 sammelten. Dass wenigstens ein Ausschnitt dieser einzigartigen Textsammlung nun auch dem deutschen Publikum zugänglich ist, verdankt sich vor allem einem Mann, der eigentlich nicht „vom Fach“ ist: Frank Beer ist Chemiker und arbeitet im Bundesamt für das Straßenwesen in Bergisch Gladbach. Aus ganz persönlichem Interesse suchte er nach einem Bericht über das Vernichtungslager Bełżec – lange Zeit vergeblich. Dann entdeckte er im ZVAB – dem Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher im Internet – einen Hinweis auf einen Titel „ Bełżec“, zu beziehen über einen Antiquar in Holland.
  Der Antiquar fragte zunächst verwundert nach, ob der Kunde den Titel auch wirklich bestellen wolle – es handele sich um einen polnischen Text. Es war, wie sich herausstellte, eine der Publikationen der Jüdischen Historischen Kommission, verfasst von Rudolf Reder, einem der ganz wenigen Überlebenden des Lagers Bełżec, erschienen 1946 in Warschau. Auf der Rückseite des 65 Seiten starken Heftes war eine Liste der bis dahin erschienenen Veröffentlichungen der Kommission abgedruckt. Frank Beer, neugierig geworden, fuhr nach Warschau, forschte in Antiquariaten, und hatte in kurzer Zeit weitere fünf Originaltexte ausfindig gemacht, die, wie er leicht feststellen konnte, noch nie auf Deutsch erschienen waren.
  Er wandte sich mit seinen Funden an Wolfgang Benz, den langjährigen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und einen der besten deutschen Kenner der Geschichte des Holocaust. Zumindest unter den einschlägig bewanderten Historikern war die Existenz der Texte durchaus bekannt; auf die Idee, sie in Deutschland zu veröffentlichen, war allerdings bislang noch keiner gekommen. Benz musste nicht lange überzeugt werden, dass dies ein förderungswürdiges Projekt sei. Aber es zeigte sich, dass das nicht so leicht zu bewerkstelligen war. „Wir haben alle Verlage angeschrieben“, sagt Benz, „und die Reaktionen waren schnell und drastisch: Wer soll das kaufen? Wer will das lesen?“
  Nun haben der Berliner Metropol-Verlag und der Verlag Dachauer Hefte den Band mit zwölf von der Jüdischen Historischen Kommission publizierten Texten herausgegeben, beide Verlage sind außerordentlich seriöse Adressen, deren Bücher freilich bisher nie in den Bestsellerlisten aufgetaucht sind. Die Skepsis der großen Publikumsverlage ist ja durchaus verständlich: Man wird diese Texte nicht in erster Linie um der historischen Erkenntnis willen lesen – wer sich mit der Geschichte des Holocaust befasst hat, findet hier fast nichts, das er nicht schon weiß. Es ist auch sicher nicht ratsam, sie vor dem Einschlafen zu lesen: Auch wer sich auskennt in der Holocaust-Literatur, muss sich wappnen gegen die maßlose Brutalität, die ihm aus diesen Augenzeugenberichten entgegenschlägt.   Hier sprechen die, die das Unvorstellbare erlebt haben, unmittelbar zu uns, als gäbe es keine zeitliche und räumliche Distanz. Man wird diese Texte lesen wie einen Fund, den man aus einem gesunkenen Schiff geborgen hat, wie eine Botschaft, die lange verschollen war und die nun wieder ans Licht gekommen ist. Wir hören Menschen, die aus der Hölle sprechen.
Frank Beer, Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944 – 1947. Metropol-Verlag und Verlag Dachauer Hefte, 2014. 656 S., 29,90 Euro.
Ohne den Chemiker Frank Beer
hätte sich wohl niemand so bald
für die Sammlung interessiert
Die Verlage reagierten
abweisend: „Wer soll das kaufen?
Wer will das lesen?“
Das Original-Cover von Ber Ryczywols „Wie ich die Deutschen überlebte“ (Ausschnitt). Der Fischhändler war auf ständiger Wanderschaft gewesen, um den Nazis nicht in die Hände zu fallen.
Abb.: aus dem besprochenen Band
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Die "Zentrale Jüdische Historische Kommission" hatte im polnischen Lublin schon 1944 damit angefangen, mehrere tausend Interviews mit Überlebenden der Shoah zu führen, um sie vor dem Vergessen zu retten, berichtet Alexandra Senfft. Lange waren diese Berichte nur auf Polnisch und Jiddisch verfügbar und die Rezensentin spricht Verlag und Herausgebern ihren uneingeschränkten Dank für das aufwendige und wichtige Projekt aus, aus der Fülle des Materials zwölf historiografisch besonders bedeutsame Dokumente auszuwählen und zu übersetzen. Trotz oder wegen der erstaunlich klaren Sprache der Berichte bleiben die Erlebnisse der Zeugen "nahezu unvorstellbar und emotional unbegreiflich", schreibt Senfft.

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